Internationalismus entlang der Pipeline organisieren – Teil 1

Demonstration 2024 als Ausdruck des Internationalismus

Internationalismus hat als Grundlage linker Politik in den letzten Jahr(zehnt)en seine Strahlkraft verloren. Die Proteste gegen die European Gas Conference in Wien 2023 und 2024 waren ein Versuch, internationalen Aktivismus praktisch neu zu denken und verschiedene Strömungen zusammenzubringen. Eine Reflexion Beteiligter in zwei Teilen.

*** Dieser Beitrag ist der erste Teil des siebten Artikels im Rahmen der Reihe mosaik strategy summer. Von Ende Juli bis Ende September veröffentlicht mosaik jede Woche einen Artikel zu strategischen Fragen linker/emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe. Teil zwei des Artikels findet ihr hier.***

Internationalismus steht an der Wiege linker und emanzipatorischer Bewegungen in Europa. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“, riefen Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im kommunistischen Manifest aus. Ihnen war damals schon klar, dass Waren und Kapital über Grenzen wandern und sich die Produktionsweise des Kapitalismus zusehends global organisiert. Insofern müssten sich auch die Arbeiter*innen international organisieren. Die Losung der grenzüberschreitenden Vereinigung führte 1864 zur Gründung der Ersten Internationalen in London.

Seitdem sind 160 Jahre vergangen. Die Erste Internationale hielt als Zusammenschluss nicht lange. Weitere Versuche folgten. Den globalen Massenaufstand der Arbeiter*innen-Klasse löste keiner von ihnen aus. Auch wenn die Geschichte der Internationalismen und Internationalen von Konflikten, Spaltungen und dem Scheitern der Revolution geprägt ist – die Gründe, sich international zu organisieren, sind heute noch viel zahlreicher als vor 160 Jahren. Grenzüberschreitende Zusammenhänge durchziehen sämtliche Polit- und Lebensbereiche. Seien es Produktion und Konsum, die Energieversorgung, Pflege oder Migrationsbewegungen – was global ist, kann nur global angegangen werden.

Internationalismus heute

Der Sprung von der Gründung der Ersten Internationalen in die Gegenwart ist zugegeben ein weiter. Doch wir denken, es ist wichtig, dass wir uns mit unserer heutigen Praxis in einer geschichtlichen Kontinuität sehen. Wenn wir von Internationalismus sprechen, sind wir nicht die ersten, die die Überzeugung umtreibt, dass globale Probleme nur mit einer globalen Perspektive gelöst werden können. Außerdem ist es überaus erkenntnisreich, sich anzusehen, woran die bisherigen Versuche der Internationalen gescheitert sind oder auch wie sich konkrete Kampagne nach dem 2. Weltkrieg (z.B. gegen den Vietnamkrieg oder die Apartheid in Südafrika) in eine internationalistische Erzählung eingereiht haben. Dasselbe gilt für umfassendere Solidaritätsarbeiten wie für die Aufstände der Sandinist*innen in Nicaragua oder die Zapatistas in Chiapas. In unseren Auseinandersetzungen rund um Internationalismus und die European Gas Conference verorten wir zwei Strömungen des Internationalismus, auf die wir uns beziehen.

lila finger
Proteste gegen die EGC 2023 | (c) Franz Hagmann

Die Strömung des ‚revolutionären Internationalismus‘

Beim sogenannten ‚revolutionären Internationalismus‘ ist das Denken in Kontinuitäten Teil des Programms. Er bezieht sich explizit auf die sozialistische und kommunistische Tradition des frühen Internationalismus der Arbeiter*innenbewegung. Namensgebend ist der Anspruch, die gesellschaftlichen Verhältnisse global auf den Kopf zu stellen – zu revolutionieren. Ausgangspunkt sind dabei je nach zeitlicher Konjunktur konkrete Kämpfe und revolutionäre Bewegungen. Sie dienen als Leuchtfeuer und Inspirationsquellen, dass eine andere Welt möglich ist. Es gelte die Kämpfe und Bewegungen zu unterstützen, um ihre Errungenschaften abzusichern, auszuweiten und daraus Schlüsse für die eigene politische Situation zu ziehen. Momentan bezieht sich diese Form des Internationalismus insbesondere auf die demokratisch-revolutionären Umbrüche in Kurdistan. In seinem Kern besteht dieser Bezugspunkt schon seit den 1980er-Jahren. Er hat durch die Frauen-Revolution in Rojava im Jahr 2012 aber noch einmal eine neue Konjunktur erfahren.

Die Strömung des ‚revolutionären Internationalismus‘ zeichnet aus, dass sie auf konkreten Erfahrungen aufbaut und eine klare gesamtheitlich revolutionäre Ausrichtung hat. Das spiegelt sich auch oft in den politischen Gruppen wider, die sich darauf beziehen. Sie haben ein breites Wissen über sozialistische und revolutionäre Geschichte sowie Theorie. In ihrer konkreten Praxis sind sie meist sehr spezialisiert auf die Kämpfe, die sie unterstützen.

Die globalisierungskritische Strömung

Im Vergleich breiter angelegt ist eine jüngere Strömung des Internationalismus. Sie kommt aus der globalisierungskritischen Bewegung der 1990er-Jahre. Debatten dieser Linie werden meist unter dem Begriffspaar der Globalen Gerechtigkeit/Global Justice geführt. Die Akteur*innen, die sich unter dem Schirm des Global Justice-Movement versammeln, sind vielfältig. Sie lassen sich unter anderem in einen antikapitalistischen und liberalen Flügel unterscheiden.

Ausgangspunkt der globalisierungskritischen Strömung ist die Forderung einer fairen Verteilung von Ressourcen, Rechten und Möglichkeiten zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. Ihre Wurzeln liegen – ausgehend vom Globalen Süden – im Widerstand gegen die großen neoliberalen Organisationen wie die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF). Insbesondere in den 1990er-Jahren setzten diese Organisationen alles daran die Weltwirtschaftsordnung in ihrem Sinne weiter umzubauen.

Gleichzeitig baute sich jedoch eine widerständige Bewegung auf. Sie knüpfte an konkrete Erfahrungen an – bspw. den Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994, welches die Geburtsstunde der Zapatistas darstellt, oder die Finanzkrise in Südostasien 1997. Die Bewegung gipfelte ab 1999 in einer Reihe höchst bewegter Jahre voller international mobilisierter, ungehorsamer Gipfelproteste gegen IWF, WTO, G20 und weitere. Gleichzeitig kamen die Aktivist*innen in regelmäßigen Abständen auf den sogenannten „Sozialforen“ zusammen, um sich gegenseitig zu stärken und Strategien zu entwickeln.

Klimagerechtigkeit in der Tradition der Globalisierungskritik

Die Hochzeit der globalisierungskritischen Bewegung ist vorbei. Der Anspruch der globalen Gerechtigkeit trägt sich aber insbesondere in jenem Teil der Klimabewegung fort, der sich als Klimagerechtigkeitsbewegung bezeichnet. Dieser Teil zeichnet sich durch eine explizite Systemkritik aus: Die Ursachen der Klimakrise liegen in Kapitalismus und Kolonialismus und können nur gemeinsam überwunden werden. Ein wichtiges Grundlagen-Dokument zur Prägung des Begriffs sind die „Bali Principles of Climate Justice“. Mit seinem Erscheinungsdatum 2002 entstammt es der Hochphase der globalisierungskritischen Bewegung und wurde entscheidend von Stimmen aus dem Globalen Süden geprägt. Das Zusammendenken ökologischer und sozialer Aspekte im Begriff Klimagerechtigkeit steht außerdem in Kontinuität von Erfahrungen mit und Kämpfen gegen Umweltrassismus vorausgegangener Jahrzehnte.

Auch in ihren Aktions- und Organisierungsformen steht die Klimabewegung zu Teilen in der Tradition globalisierungskritischer Bewegungen. Viele Praktiken – beginnend ganz klein bei Handzeichen in Aktionen bis hin zu strukturellen Fragen wie basisdemokratischer Organisierung oder strategisch gewählten globalen Aktionstagen – sind von der globalisierungskritischen in die Klimabewegung gewandert.

Demo 2023
Demonstration gegen die EGC 2023 | (c) Christopher Glanzl

Geteilte Grundeinsicht

Wir betrachten die zwei beschriebenen Strömungen des ‚revolutionären‘ und globalisierungskritischen Internationalismus nicht als gegensätzlich. Sie haben unterschiedliche Ausgangspunkte, Praktiken und Perspektiven. Sie teilen aber eine Grundeinsicht: Internationalismus bedeutet, in Zusammenhängen zu denken und anzupacken. Das Lokale ist niemals losgelöst vom Globalen und auch nicht umgekehrt. In diesem Sinne müssen wir auch unsere Kämpfe als gemeinsame bzw. als aufeinander bezogene denken. Und wir müssen uns fragen, welche Konsequenzen und vor allem Formen der Organisierung und Aktionen daraus erwachsen. Hier können und wollen wir sowohl von der ‚revolutionären‘ als auch der globalisierungskritischen Strömung lernen. Wir wollen sie aber auch entsprechend aktueller politischer Gegebenheiten weiterdenken und womöglich näher zusammenbringen. Um das zu schaffen, gilt es, auch einen kritischen Blick auf die derzeitigen internationalistischen Praktiken zu werfen.

Fehlende Anschlussfähigkeit und Überbetonung des Lokalen

Der revolutionäre Internationalismus scheitert oft daran, dass er die Kämpfe, auf die er sich bezieht, als Projektionsfläche missversteht. Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum fasste das „Kollektiv Bremen“ diese Kritik bereits 2016 so zusammen: „Durch die fehlenden eigenen Kämpfe und die Bewegungsstarre in der hiesigen Gesellschaft, projizieren viele der Aktivist*innen ihre gesammelten Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche auf die jeweiligen revolutionären Bewegungen.“ Das führe zu einer ausschließlichen Solidarität mit und Unterstützung von Bewegungen an anderen Orten der Welt. Fragen, was eine internationalistische Ausrichtung für die eigenen Kämpfe vor Ort bedeuten könnte, blieben aber auf der Strecke. Der explizite Fokus auf die jeweiligen revolutionären Kämpfe, einhergehend mit ihrer tendenziellen Überhöhung, macht diese Form des Internationalismus zum Nischenprojekt und an lokale Kämpfe oft wenig anschlussfähig.

Bei der Klimagerechtigkeitsbewegung ist ein gegenteiliger Trend zu beobachten. Grundsätzlich mit dem Anspruch antretend „think global, act local“ wurde das Lokale zuletzt überbetont. Mit Kohlegruben bis Autobahnen suchten sich die Aktivist*innen die größten CO2-Schleudern in ihrer unmittelbaren Umgebung als Dreh- und Angelpunkte ihrer Praxis. Was in der globalisierungskritischen Bewegung Orte der Entscheidung (G20-Treffen, WTO-Gipfel) waren, wurden in der europäischen Klimabewegung Orte der Zerstörung. Darum entstanden Netzwerke wie „Alle Dörfer Bleiben“ in Deutschland, „LobauBleibt“ in Wien oder zuletzt „Les Soulèvements de la Terre“ in Frankreich. Durchaus auch auf Kritik am Gipfel-Hopping der 2000er reagierend, sind sie dabei dem Anspruch „act local“ auf jeden Fall gerecht(er) geworden.

Reduzierter Internationalismus

Was jedoch fehlt, sind gemeinsame internationale Strategien und Interventionen. Obwohl Aktivist*innen die Kämpfe in Lützerath oder im Poitou miteinander kämpfen, stehen sie in der konkreten Praxis dann doch meist – in Solidarität – nebeneinander. Der Diskurs, den sie entfalten können, beschränkt sich auf das Lokale. Gegen den global gut organisierten fossilen Kapitalismus und seine Akteur*innen gilt es aber, internationale Interventions- und Kristallisationspunkte zu finden und gemeinsam nach langfristigen Perspektiven des gemeinsamen Kampfes für Klimagerechtigkeit zu suchen. Dafür fehlen aktuell nicht zuletzt auch die Austauschräume, die es ermöglichen, solche gemeinsamen Perspektiven zu entwickeln.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist nach wie vor international vernetzt. Das zeigen beispielsweise die Klimacamps an Orten der Zerstörung. Dort kommen Aktivist*innen aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Nicht zu vergessen ist auch, dass Fridays for Future weiterhin mindestens zwei Streik-Termine im Jahr auf internationaler Ebene koordiniert. Auch in Pressestatements ist die internationale Ebene präsent: Es wird auf die Lage in anderen Ländern verwiesen oder eine Aktivistin aus dem Globalen Süden zitiert. Dies stellt aber höchstens eine reduzierte Variante von Internationalismus dar. Diese wird der der globalen Dimension der Klimakrise nicht gerecht. Sie schließt zu wenig an die benannten Ursprüngen von Klimagerechtigkeit an und ist in Europa auch Produkt einer zu homogenen, weißen, privilegierten Bewegung – was zurecht kritisiert und immer noch nicht genug behandelt wird.

Workshop von „Don't Gas Africa“ am People's Summit 2024
Workshop von „Don’t Gas Africa“ am People’s Summit 2024 | (c) People’s Summit against EGC

Internationalismus entlang der Pipeline

Auch Verbindungen und Netzwerke von Akteur*innen des ‚revolutionären Internationalismus‘ zeigen, dass der internationalistische Gedanke 160 Jahre nach der Gründung der Ersten Internationalen weiter lebt. Beispiele sind etwa die Kampagnen „RiseUp4Rojava“ und „MakeRojavaGreenAgain“. Sie versuchen im direkten Kontakt mit der Region und gemeinsamer Organisierung von Gruppen in Europa konkrete Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Bildungszusammenschluss „Akademie der Demokratischen Moderne“ versucht darüber hinaus, systematisch geteilte strategische Perspektiven aufzubauen.

Auch wir haben mit unseren Protesten gegen die European Gas Conference (EGC) in Wien den Versuch eines Aufbaus gestartet. Dem (bislang) jährlich stattfindenden Treffen zwischen CEOs der größten europäischen Gaskonzerne, Financiers und Politiker*innen wollten wir einen Internationalismus entlang der Pipeline entgegensetzen. Was das heißt; ob und wie uns der Aufbau gelungen ist; und inwiefern wir dabei auf den verschiedenen Strömungen des Internationalismus aufgebaut haben, lest ihr im zweiten Teil unseres Artikels.

*** Dieser Artikel wurde von zwei Aktivist*innen verfasst, die in BlockGas bzw. der Organisierung des People‘s Summit against EGC aktiv sind. Der Text profitiert von gemeinsamen Reflexionen innerhalb der Gruppen, gibt aber insbesondere die Perspektive der Verfasser*innen wider. Teil zwei könnt ihr hier nachlesen. Weitere Artikel des mosaik strategy summer findet ihr hier.***

Titelbild: Bianka Csenki

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