Finanzspritze statt Impfpflicht

Eine allgemeine Impfpflicht ist kontraproduktiv, solange wir Menschen durch finanzielle Anreize zur Impfung motivieren können, schreibt Fabian Lehr.

Die Impfkampagne stockt. Fast 40 Prozent der Bevölkerung sind ungeimpft, pro Tag gibt es nur noch wenige tausend Erstimpfungen. Der sich aufbauenden vierten Coronawelle, angetrieben von der hochinfektiösen Deltavariante, kann man mit einer solchen Impfquote nicht viel entgegensetzen. Selbst unter günstigen spätsommerlichen Bedingungen liegen Anfang September wieder zirka 500 Menschen mit einem schweren Covid-19-Verlauf im Spital. Zirka 200 davon befinden sich auf der Intensivstation. Wenn sich die Dynamik der vierten Welle mit solcher Wucht fortsetzt wie in den letzten ein bis zwei Monaten, drohen bald wieder eine Überlastung der Intensivstationen und täglich viele Sterbefälle. Der Unterschied zu 2020 ist freilich: Diese Welle könnte durch die nun zur Verfügung stehenden Impfstoffe beendet werden. Zirka 90 Prozent der mit Covid-19 Hospitalisierten sind ungeimpft, in Wien gar 95 Prozent.

Wie aber die Millionen Ungeimpften endlich in die Impfzentren treiben? Die leicht zu Gewinnenden, diejenigen, die von sich aus eine Impfung wünschen, haben sich ihre Spritzen fast alle schon geholt. Die Möglichkeiten, durch Sonder-Impfaktionen weitere Impfwillige zu mobilisieren, dürften nur noch sehr begrenzt sein. Was also tun? Es gibt zwei theoretisch denkbare Möglichkeiten, die Impfquote über die Marke von 90 Prozent geimpften Erwachsenen zu bringen. Diese Quote schätzt das deutsche Robert Koch-Institut als nötig ein, um neue von Corona verursachte medizinische Krisen zu verhindern. Die eine Option wäre offener Zwang: Eine formelle Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung. Die andere Option wären wirksame Anreize, am ehesten in Form von Geldprämien.

Impfpflicht nicht vor vierter Welle umsetzbar

Der Weg der Impfpflicht ist weder vielversprechend noch legitim, solange die Anreize noch nicht ausgeschöpft sind. Nicht vielversprechend, weil es unrealistisch ist, anzunehmen, die ungeheuren gesellschaftlichen und juristischen Widerstände gegen eine allgemeine Impfpflicht seien in Wochen oder wenigen Monaten zu überwinden. Ein solches Projekt würde einen massiven Widerstand in weiten Teilen der WählerInnenbasis der ÖVP provozieren. Es ist deswegen unvorstellbar, dass die Regierung Kurz das versuchen wird. Es würde auch zu einem langen Kampf der ImpfskeptikerInnen durch alle juristischen Instanzen führen. Und es ist durchaus denkbar, dass sie diesen juristischen Kampf gewinnen würden. Auf keinen Fall ist das Projekt einer allgemeinen Impfpflicht rechtzeitig durchsetzbar, um die vierte Welle noch brechen und eine erneute medizinische Krise verhindern zu können.

Auch die Legitimität einer solchen allgemeinen Impfpflicht scheint fraglich. Menschen haben das Recht, dumme und sie selbst gefährdende Entscheidungen zu treffen, solange sie dabei nicht auch ihrer Umwelt unverhältnismäßigen Schaden zufügen. Aber Moment – tun  die Impfverweigerer denn nicht genau das, indem sie andere infizieren? Gewiss verbreiten Ungeimpfte das Virus deutlich stärker als Geimpfte. Aber erstens ist eine Infektion für vollständig Geimpfte üblicherweise nur noch mit minimalen Risiken behaftet, die Impfverweigerer gefährden also fast nur einander. Zweitens wird sich realistischerweise ohnehin jeder Mensch, geimpft oder ungeimpft, regelmäßig mit Covid-19 infizieren.

Ausrottung des Virus unmöglich

Fast alle VirologInnen halten eine Ausrottung des Virus mit der Durchsetzung der Deltavariante für unmöglich und gehen fest davon aus, dass Covid-19 endemisch werden, dauerhaft auf der ganzen Welt zirkulieren und jeden mehrfach erwischen wird. Die Infektiosität von Delta ist zu extrem. Und die Schutzwirkung der Impfungen gegen Ansteckung klingt zu schnell wieder ab. Es ist technisch nicht mehr denkbar, das Virus aus der Welt schaffen zu können. Selbst mit einer Impfquote von annähernd 100 Prozent.

Während die Impfungen nur über einen relativ kurzen Zeitraum wirksam gegen Ansteckung schützen, bleibt ihre Schutzwirkung gegen schwere Krankheitsverläufe lange extrem hoch. Die Impfungen beenden also nicht die Zirkulation des Virus. Sie sorgen aber dafür, dass die – früher oder später unvermeidliche – erste Infektion für Geimpfte üblicherweise so harmlos wie eine banale Erkältung verläuft. Wenn aber, wie es wissenschaftlicher Konsens ist, Covid-19 ohnehin endemisch werden und so jeden infizieren wird, dann ändert die höhere Infektiosität der Ungeimpften nichts Grundlegendes an der Lage.

Sie gefährden durch ihre Verweigerung also ihr eigenes Leben, stellen aber kaum noch eine besondere, unverhältnismäßige Gefahr für ihre geimpfte Umgebung dar. Damit wackelt die Legitimität einer allgemeinen Impfpflicht. Denn diese wäre nur im Fall einer Krankheit, die durch eine hohe Impfquote tatsächlich ausgerottet werden kann, gut argumentierbar.

Impfprämie als Anreiz

Die realistischere und sinnvollere Alternative zur Erhöhung der Impfquote besteht darin, mit Anreizen zu arbeiten, sprich: Geldprämien zu zahlen. Außer fanatisch überzeugten Antivaxx-VerschwörungstheoretikerInnen – die nach allen Erhebungen nur wenige Prozent der Bevölkerung umfassen – würde jeder noch schwankende Ungeimpfte sich seinen Stich holen, wenn es dafür hunderte Euro auf die Hand gibt. Die erstrebte Impfquote von 90 Prozent der Erwachsenen wäre damit sehr wahrscheinlich leicht erreichbar. Und das ohne alle langwierigen juristischen und gesellschaftlichen Kämpfe. 

Zusätzlich hätte das den positiven Nebeneffekt, als eine kräftige keynesianische Maßnahme zur Erhöhung der Massenkaufkraft zu wirken. Die Pandemie hat zu einer tiefen Wirtschaftskrise geführt, die normale ArbeiterInnen und Arme unvergleichlich härter traf als die Reichen. Umso mehr, weil die Regierung Kurz die österreichischen KapitalistInnen mit Hilfspaketen von Milliarden Euro stabilisierte. Mit Hilfen für ArbeiterInnen und Arme sah es indes äußerst mager aus.

ÖVP und Grüne können schlecht behaupten, Impfprämien für normale Leute (optimalerweise auch rückwirkend für bereits Geimpfte) seien nicht finanzierbar. Nicht, nachdem sie Milliarden zu den UnternehmerInnen geschanzt haben. Eine, idealerweise nach sozialer Bedürftigkeit gestaffelte, Finanzspritze für die Impfung, würde zigtausenden von der Krise getroffenen Haushalten wieder etwas Luft verschaffen. Dieser Ansatz des Anreizes ist der erste, der zunächst einmal verfolgt werden muss, bevor darüber diskutiert werden mag, stattdessen mit Zwang und Strafe zu arbeiten.

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