Tom Strohschneider: „Wir dürfen die Grünen nicht immer verteufeln“

Die deutsche Innenpolitik ist im Umbruch. Nach fast 13 Jahren als Kanzlerin hat Angela Merkel ihren Rücktritt angekündigt, der Kampf um ihre Nachfolge ist in vollem Gange. Und während die Grünen als Oppositionspartei in dieser Phase der Unsicherheit und des Rechtsrucks erstarken, steht die Linkspartei wie gelähmt da. Der deutsche Journalist Tom Strohschneider beobachtet diese Entwicklungen aus der Nähe. Bis 2017 war er Chefredakteur der linken Tageszeitung „Neues Deutschland“, heute ist er Redakteur der Wirtschaftszeitung OXI. mosaik-Redakteur Benjamin Opratko hat mit ihm über Entwicklungen und Zukunftsszenarien gesprochen.

mosaik: Mit Angela Merkels Rücktritt zieht sich die letzte Stabilisatorin im zunehmend krisenhaften politischen System Deutschlands zurück. Es scheint, dass alle Oppositionsparteien davon profitieren – außer die Linke. Woran liegt das?

Tom Strohschneider: Linke Kräfte profitieren nicht automatisch von einer Krise, weder in der Wirtschaft, noch in der Politik. Es gab jetzt trotzdem fortschrittliche JournalistInnen, die kommentiert haben, dass ein Rechtsruck der CDU, der jetzt folgen könnte, die Linke stärken würde. Aber so einen Automatismus gibt es nicht. Hinzu kommt: Die Partei Die Linke befindet sich in einem inneren Konflikt, der sie von einer inhaltlichen und strategischen Neuausrichtung abhält. In ihrem aktuellen Zustand wird sie diese Krise unter Garantie nicht nutzen können.

Du sprichst den Konflikt mit der Fraktionsvorsitzenden an. Zuletzt hat Sahra Wagenknecht, die Initiatorin von aufstehen, den UNO-Migrationspakt kritisiert. Was versucht sie damit zu erreichen?

Das müsste man Frau Wagenknecht fragen. Ich will nur auf eines hinweisen: Wir wissen aus Studien, wie der Erfolg der AfD auch mit erfahrener Erniedrigung und sozialer Unsicherheit zusammenhängt. Weil die Rechte und mithin auch der medienpolitische Betrieb immer wieder die Migrationsfrage in den Vordergrund stellt, geben die Leute dann den noch Schwächeren die Schuld. Ich will damit nicht entschuldigen, dass Menschen rassistischen Müll erzählen, aber das macht deutlich, was diese Fokussierung auf Migration nach sich zieht. Ich glaube im übrigen, dass die meisten Leute andere Sorgen haben. Das zeigt ja auch die aktuelle Debatte um die Merkel-Nachfolge.

Wie meinst du das?

Jens Spahn, der Migration am stärksten zum Thema macht, hat die niedrigsten Beliebtheitswerte.

Wie schätzt du die anderen beiden KandidatInnen für die Nachfolge Merkels ein?

Friedrich Merz ist ein knallharter Wirtschaftsliberaler. Aber er steht eben auch für eine neoliberale Globalisierung, für eine Weltmarktorientierung und einen liberalisierten Finanzmarkt. Er bekundet offen seine Sympathien für die EU. Ein nationalistischer Rückzug scheint mit ihm also eher ausgeschlossen.

Als CDU-Generalsekretärin steht Annegret Kramp-Karrenbauer sicher symbolisch für eine starke Kontinuität der Merkel-Politik. Sie hat aber für den Parteitag im Dezember eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung der Partei vorbereitet, die klar neoliberale Akzente setzt. Das ist ein Schritt weg vom großkoalitionären Weg, den Merkel oft gegangen ist.

In Österreich hat Sebastian Kurz bewiesen, dass man mit einem eindeutigen Rechtsruck konservative Parteien erfolgreicher machen kann. Könnte das nicht auch die Strategie der CDU sein?

So einfach würde das nicht gehen. Erstens glaube ich an eine Mehrheit, die dagegen hält. Wenn eine Viertelmillion für Solidarität auf die Straße geht, wie im Oktober, ist das ein klares Zeichen. Es gibt zudem in Deutschland eine Besonderheit: Der Rechtspopulismus speist sich zu einem wesentlichen Teil aus einer bloßen Anti-Merkel-Haltung, die politisch diffus ist. Alles wurde auf die Kanzlerin projiziert. Es wird sich zeigen, ob es den Rechten gelingt, diese Einstellungen ohne ihr großes Feindbild Merkel weiter zu bedienen.

Neben der Merkel-Nachfolge ist der Höhenflug der Grünen wohl das interessanteste Thema der deutschen Innenpolitik. Die Umfragen sehen sie bundesweit knapp hinter der Union auf Platz zwei. Ist das ein vorübergehendes Hoch oder eine dauerhafte Stärkung der Grünen?

Würde man die Parteien der Union einzeln zählen, also die Werte für CDU und CSU, wären die Grünen sogar schon die stärkste Partei. Auch wenn sich diese Umfragen gegenseitig bestärken mögen, es sowas wie einen Hype-Faktor gibt, glaube ich nicht, dass das nur ein Strohfeuer ist. Es ist den Grünen gelungen, zur Partei der Mittelschicht mit ökologischem Bewusstsein zu werden. Sie sind dabei in zwei Richtungen anschlussfähig: Einerseits nach links, weil es einen sozialökologischen, fortschrittlichen Flügel gibt. Auf der anderen Seite nach rechts, weil sie im Angesicht der politischen und ökologischen Zuspitzung auch für konservative Bürgerliche wählbar werden.

Aber warum wählen diese Leute denn die Grünen? Das ist ja ein neues Phänomen.

Zu sagen, dass nur jene Leute die Grünen wählen, die sich ein Unbehagen mit der aktuellen Klimapolitik leisten können, greift zu auf jeden Fall kurz. Die Grünen sind jene Partei, die für ein ökologisches Bewusstsein in einem erweiterten Sinne stehen. Das ist grundsätzlich nichts Konservatives, im Gegenteil. Ihre neuen WählerInnen sind Leute, die früher SPD gewählt haben, sich jetzt aber weniger um die Produktion als um die Reproduktion von Gesellschaftlichkeit sorgen. Es geht ihnen also um mehr als um die Frage, wie man den Planeten vor dem Untergang retten kann, es geht um die die Krise der Reproduktionsverhältnisse, die Unmöglichkeit, soziale Integration mit immer neuem Wachstum global nachhaltig zu organisieren.

Jetzt hast du von ehemals sozialdemokratischen WählerInnen gesprochen. Woher kommen die Konservativen, die jetzt grün wählen?

Es gibt UnionswählerInnen, die vom Rechtsruck der Partei genervt sind. Die halten diese testosterongesteuerten Typen nicht länger aus, die so reden wie die AfD. Es sind vor allem Frauen, die in Städten leben, die jetzt zu den Grünen tendieren.

Können Linke von diesem Erfolg der Grünen etwas lernen?

Wir müssen raus aus dieser Abwehrhaltung, dürfen die Grünen nicht immer nur verteufeln. Es ist den Grünen gelungen, den Klimawandel und damit eine der zentralen Fragen des 21. Jahrhunderts auf eine Weise zu politisieren, die den anderen linken Parteien nicht gelungen ist. Sie bieten da in den Augen der Wähler offenbar keine Lösung an. Die SPD betreibt wegen der Arbeitsplätze auf ihre Art einen Populismus der dreckigen Arbeit, bei der Linken wird die Frage sehr widersprüchlich beantwortet. Die Grünen sagen ganz klar, wie man den Planeten retten könnte und wie eine Transformation weg vom aktuellen Kapitalismus aussehen könnten. Das heißt nicht, dass der grüne Kapitalismus der Weg ist, den ich für richtig halte. Aber die Grünen haben eine eindeutige Botschaft für jene Leute, die spüren, dass es ökologisch so nicht weitergehen kann.

Für Linke wäre es wichtig, sich mit dieser langfristigen Entwicklung zu beschäftigen. Denn der Erfolg der Grünen ist zum Teil die Schwäche der Linken. Sie muss Fragen der Reproduktion der Gesellschaft, der Ökologie der Existenz im weiteren Sinne angehen. Das sind die verbindenden Fragen des 21. Jahrhunderts. Darauf hat die Linke noch zu wenig Antworten.

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