Griechenland: Wenn die „Halbstarken“ Recht haben

Medien, die uns die Griechenland-Verhandlungen wie eine Seifenoper erklären, verschleiern den wahren Konflikt: Die Regierung will Reiche besteuern statt Pensionen kürzen – und die Eurogruppe das Gegenteil.

Wer den Verlauf der Griechenland-Verhandlungen verstehen will, sollte besser keine deutschsprachigen Zeitungen lesen. Statt die Positionen beider Seiten kritisch zu beleuchten, erklären sie uns den Konflikt, als ginge es nicht um Politik, sondern um zwischenmenschliche Dramen wie in einer Seifenoper. Die Mittelfinger-Debatte ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Auch abseits davon gelten die griechischen Vertreter_innen als „Halbstarke“, die „eine ordentliche Position Höflichkeit“ vermissen lassen und daher „nachsitzen“ müssen. Sie sind „Schnorrer“, deren „abenteuerliche und unverschämte“ Ansichten außerhalb Griechenlands nur ein paar „Groupies“ verstehen. Diese Zitate stammen nicht etwa aus BILD- oder Kronen-Zeitung, sondern aus angeblichen Qualitätsmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Spiegel oder Standard. Politische und ökonomische Argumente werden nicht diskutiert, kritisiert etwa Robert Misik, sondern der Konflikt wird „auf die Frage ‚deutscher Sparwille‘ gegen ‚griechisches Hallodritum‘ reduziert“. Leser_innen, die sich eine fundierte Meinung bilden wollen, werden in den deutschsprachigen Medien nicht fündig.

Geld von den Reichen statt den Armen

Tatsache ist: Die Verhandlungen zwischen Griechenland und der Eurogruppe spitzen sich zu. Am Mittwoch legte die griechische Regierung eine geforderte Maßnahmenliste vor. Sie sieht Mehreinnahmen von über 6 Milliarden Euro noch im Jahr 2015 vor. Wichtigster Teil ist der Kampf gegen Steuerbetrug im In- und Ausland. Zudem sollen die Lizenzen für Privatfernsehen, die bislang billig an Oligarch_innen vergeben wurden, neu ausgeschrieben werden. Auch gegen Öl-, Tabak- und Alkoholschmuggel, bislang unangetastete Geschäftsfelder des Geldadels, will die Regierung vorgehen. Als Zugeständnis an die Gläubiger_innen gilt, dass geplante Privatisierungen, etwa des Hafens von Piräus, doch nicht abgesagt werden sollen. 1,5 Milliarden verspricht sich die Regierung davon. Zugleich sieht die griechische Liste keine weiteren Kürzungen beim Lebensstandard der Bevölkerung vor. Im Gegenteil: Mit 1,1 Milliarden soll die humanitäre Krise gelindert werden, vor allem durch die Erhöhung von Kleinstpensionen.

Eurogruppe will Kapitulation

Unterm Strich würden die vorgeschlagenen Maßnahmen einen deutlichen Budgetüberschuss mit sich bringen. Griechenland will also, wie von den Gläubiger_innen verlangt, den Staatshaushalt konsolidieren – aber selbst bestimmen, wie es dieses Ziel erreicht. Die bisher von der Troika diktierten Kürzungen sollen durch erhöhte Einnahmen ersetzt werden. Ersten Reaktionen zufolge lehnen die Euro-Finanzminister_innen die Vorschläge dennoch ab. Sie beharren darauf, dass Griechenland die Pensionen erneut beschneidet und das Arbeitsrecht weiter aufweicht. Einige verlangen laut Medienberichten sogar, dass Premierminister Alexis Tsipras den linken SYRIZA-Flügel aus der Partei wirft und eine neue Koalition mit von ihnen gewünschten Parteien bildet. Anstatt das griechische Kompromissangebot anzunehmen, setzen sie auf Eskalation. Offenbar wollen die Finanzminister_innen ihr Gegenüber, das unter großem finanziellen Druck steht, zur Kapitulation zwingen.

Große Finanzprobleme

Zwei Faktoren verschärfen die ohnehin schlechte Lage des Staatshaushalts: Erstens können oder wollen die Griech_innen ihre Steuern immer seltener bezahlen. Allein im Jänner und Februar betrugen die Rückstände 2,5 Milliarden Euro. Zweitens müssen aktuell besonders viele alte Staatsschulden zurückgezahlt werden. Obwohl erst zwei Monate im Amt, hat die griechische Regierung bereits Milliardenbeträge an den Internationalen Währungsfonds und Co. überwiesen. Während die übrigen EU-Staaten auslaufende Staatsanleihen meist einfach durch neue ersetzen, muss Griechenland, das auf den Finanzmärkten kein Geld bekommt, die Schulden aus den laufenden Steuereinnahmen begleichen. Das ging bis jetzt gut, doch noch im April und Mai stehen etliche weitere Zahlungen an. Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, will Griechenland die Auszahlung der, noch ausständigen Tranchen aus dem alten Troika-Programm erreichen. Voraussetzung dafür ist die Zustimmung der Gläubiger_innen zur Maßnahmenliste. Das nützt die Eurogruppe nun aus, um die unliebsame linke Regierung unter Druck zu setzen.

Widerstand gegen Verarmungspolitik

Mittelfristig will Griechenland die Finanzprobleme durch höhere Besteuerung von Reichen statt mit weiteren Kürzungen bei den Armen lösen. Das ist nicht einfach ein technischer Unterschied, sondern ein fundamental anderer politischer Ansatz. Griechenland tritt für ein Gegenmodell zu der Verarmungspolitik ein, auf die sich die Eurozone seit Jahren einschwört. Keine Regierung, egal welcher Farbe, hat es je gewagt, sich diesem Kurs zu widersetzen – bis jetzt. In einem Fall hat Griechenland den Gehorsam bereits verweigert: Mitte März wurde ein erstes Gesetz zur Bekämpfung der humanitären Krise verabschiedet. Es sieht vor, 300.000 vom Stromnetz abgetrennte Haushalte wieder mit Elektrizität zu versorgen. Dazu kommen Mietunterstützungen und Essensmarken für Arme. Die EU-Kommission hatte im Vorfeld versucht, den Beschluss des Gesetzes zu verhindern. Die griechische Regierung machte die Einmischung öffentlich, zwang Kommissar Pierre Moscovici damit zu einem Dementi und verabschiedete das Gesetz wie geplant.

Es darf keine Alternative geben

Wir befinden uns also im schärfsten wirtschaftspolitischen Konflikt, den die EU seit Krisenbeginn erlebt hat. Sein Ausgang wird möglicherweise über den Fortbestand der Eurozone entscheiden. Eine wesentliche Strategie der Eliten besteht darin, genau das zu verschleiern. Es kann ihnen nur recht sein, wenn die Öffentlichkeit über die Verhandlungen wie über eine Seifenopfer diskutiert, statt über die politischen und ökonomischen Streitpunkte. Am Ende könnte noch wer auf die Idee kommen, die „Halbstarken“ hätten sogar die besseren Argumente! Wenn Medien den Konflikt auf Banalitäten reduzieren, machen sie sich also zu Erfüllungsgehilfen der politischen Eliten, die ihre Dominanz absichern wollen. Diese handelten lange gemäß Margaret Thatchers Devise: „Es gibt keine Alternative“. Heute, da Griechenland eine solche vorschlägt, wird daraus ein erbittertes „Es darf keine Alternative geben“. Lassen wir sie damit nicht durchkommen.

Valentin Schwarz ist mosaik-Redakteur, engagiert sich bei Attac und Griechenland entscheidet.

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