Griechenland Schwerpunkt II: “Wir brauchen eine koordinierte Bewegung gegen die Europäische Union”

Die Wahlen in Griechenland am 25. Jänner bieten zum ersten Mal die Perspektive für eine Linksregierung in der Eurozone. Aus diesem Anlass haben wir mit unterschiedlichen Teilen der griechischen Linken gesprochen. In diesem Interview, geführt von unserem Redakteur Benjamin Opratko, zeigt Panagiotis Sotiris, Soziologe an der Universität der Ägäis und führendes Mitglied des linksradikalen Bündnisses Antarsya, Chancen und Begrenzungen der Strategie von Syriza auf. 

Panagiotis, ganz Europa blickt dieser Tage nach Griechenland, wo am 25.Jänner gewählt wird. Du bist Teil des Bündnisses ANTARSYA-MARS, einer Koalition aus antikapitalistischen und EU-kritischen Kräften. Warum, neben SYRIZA und der KKE, eine dritte linke Kandidatur?

Griechenland steht in diesem Moment vor einem bedeutsamen politischen Wechsel. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es nach den Wahlen eine neue, von SYRIZA geführte Regierung geben wird und wir die Samaras-Venizelos-Regierung loswerden, die eine pro-Troika und pro-Austeritäts-Regierung war. Das ist eine gute Entwicklung. Gleichzeitig ist es eine enorme Herausforderung: Wie können wir aus einem Regierungswechsel eine wirkliche politische und gesellschaftliche Veränderung machen? Die griechische Gesellschaft leidet an einem langen schmerzhaften Krisenprozess, an der Kürzungspolitik und verheerender Arbeitslosigkeit. Zugleich hat die griechische Gesellschaft aber in einem beeindruckenden Protestzyklus gezeigt, dass sie kämpfen kann und für echten Wandel bereit ist. Die Frage ist also: Wie verändern wir die Dinge? Und hier liegt das Hauptproblem der Strategie, auf die SYRIZA setzt: Sie besteht darauf, dass wir uns von der Verarmungspolitik und dem Schuldenberg befreien und gleichzeitig im institutionellen Rahmenwerk der Europäischen Union bleiben können. Die Parteiführung hat sich für den Euro ausgesprochen und sie hat vorgeschlagen, Verhandlungen über die griechischen Staatsschulden mit unseren Gläubigern aufzunehmen. Dabei sind Griechenlands Gläubiger schon lange keine privaten Investoren, sondern hauptsächlich europäische Regierungen. Wir sagen: Das ist keine realistische Strategie. Unsere Position sollte nicht missverstanden werden als die traditionelle Gegenüberstellung von „Reform oder Revolution“. Was wir deutlich machen wollen, ist: Ja, wir brauchen ein sofortiges Ende der Verarmungspolitik. Wir brauchen eine energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine massive Ankurbelung der Binnennachfrage. Wir müssen die öffentlichen Ausgaben drastisch erhöhen, um die tiefen sozialen Wunden, die von der Kürzungspolitik verursacht wurden, zu heilen. Aber all das ist im Rahmen der EU, wie sie gegenwärtig existiert, nicht möglich. Jede Verhandlung wird darauf hinauslaufen, dass Europäische Union und Internationaler Währungsfonds uns erpressen werden. Und da Griechenland immer noch von den Zahlungen der EU abhängig ist, können und werden jeder Regierung Kompromisse aufgezwungen werden. Statt des nötigen Bruchs mit der Verarmungspolitik droht so das Szenario, dass eine linke Regierung eine andere Form der Kürzungspolitik durchsetzt. Das würde die Menschen in Griechenland zutiefst enttäuschen und eine neue Art der politischen Krise nach sich ziehen. Die alten Parteien würden dann in einer neuern, noch aggressiveren, noch autoritäreren, rechtsextremen Form zurückkommen. Dann hätten wir die historische Chance, die von den Menschen in Griechenland erkämpft wurde, vertan. Aber wir wollen nicht einfach die Rolle der Kassandra gegenüber SYRIZA einnehmen. Unsere Einschätzung stützt sich auf die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, etwa jene in Zypern. Als die zypriotische Regierung (damals geführt von der linken Partei AKEL, Anm.) angesichts einer tiefen Wirtschaftskrise und dem Zusammenbruch des Bankensektors versuchte, mit der Europäischen Union zu verhandeln, kam es letztlich zu einem Paket, das noch schlimmer war als das ursprüngliche. Das ist auch unsere politische Sorge hinsichtlich der SYRIZA-Strategie. Daher halten wir es für notwendig, radikale Brüche durchzuführen: Eine sofortige Einstellung der Schuldenzahlungen, ein Prozess in Richtung Schuldenerlass, Austritt aus der Eurozone und die Wiedererlangung monetärer Souveränität, Verstaatlichung des Bankensystems und – damit verbunden ist letztlich die Zurückweisung der in den Europäischen Verträgen eingeschriebenen Vorgaben. Erst das würde die demokratische, gesellschaftliche Kontrolle über die zentralen geld- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen wieder ermöglichen. Denn nichts kann mehr sein wie vor dem Ausbruch der Krise – was für die Kräfte der Linken eine große Chance bedeutet. Vielen Menschen sind bereit, radikale Veränderungen zu akzeptieren. Aber wenn man diese herbeiführen will, muss man mit radikalen Brüchen beginnen. Der Faktor, der die politische und soziale Situation in Griechenland bestimmt, ist der europäische Integrationsprozess. Dieser ist nicht einfach ein „Ideal“, sondern ein ganz spezifischer, materieller, institutioneller Rahmen. Das betrifft die gemeinsame Währung und alle Aspekte der European Economic Governance (Fiskalplakt, Stabilitäts- und Währungspakt, etc., Anm.), aber auch ganz grundlegend das, was als Begrenzung der Souveränität bezeichnet werden kann, die Teil des Europäischen Projektes ist. Innerhalb dieses Projekts kannst du keine radikale Veränderung haben.

Wie schätzt du denn die Chancen für eine solche radikale Veränderung ein – auch in Hinblick auf die Kräfteverhältnisse innerhalb von SYRIZA? Immerhin haben in jüngster Zeit auch Leute wie Costas Lapavitsas, der eine sehr ähnliche Position vertritt wie jene, die du gerade skizziert hast, bekannt gegeben, dass sie für SYRIZA kandidieren. 

Viele Leute innerhalb von SYRIZA teilen diese Position und sehen die Notwendigkeit, mit der Eurozone und möglicherweise auch mit der EU zu brechen. Es gibt eine ganze Fraktion innerhalb der Partei, die Linke Plattform, die auf die eine oder andere Weise solche Positionen vertritt. Aber zur gleichen Zeit hat die Führung von SYRIZA nicht nur ihre Position gefestigt, sondern auch die gesamte Partei ein Stück nach rechts geschoben – hin zu einer „realistischen“ Position. SYRIZA wird bald keine Oppositionspartei mehr sein, sondern eine Partei an der Regierung und wir wissen, dass die konkrete materielle Struktur des Staates der entscheidende Faktor ist – nicht so sehr die internen Unstimmigkeiten in der Regierungspartei. Ich glaube nicht, dass die Regierungsbeteiligung zu einer Öffnung der Debatte in SYRIZA beitragen wird. Es wird dann eher heißen: Wir sind jetzt an der Regierung, wir tragen große Verantwortung, wir müssen als Einheit auftreten und so weiter. Ich sage aber nicht, dass die Debatte deshalb aufhören wird. Im Gegenteil, in der griechischen Gesellschaft wird sie dann erst richtig aufbrechen. Wir werden bald mit den Grenzen der Strategie der SYRIZA-Führung konfrontiert sein, und dann wird es eine Diskussion in der griechischen Gesellschaft und in den sozialen Bewegungen geben: Was sollen wir nun tun? Was, wenn wir von der EU erpresst werden? Was, wenn sie alle Zahlungen stoppen? Wie können wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen, etc.? Ich bin überzeugt, dass an diesem Punkt Positionen wie jene von ANTARSYA und anderen radikalen Anti-EU-Kräften der griechischen Linken relevant und notwendig werden. Aber dafür ist es notwendig, einen unabhängigen Pol innerhalb der griechischen Linken zu haben, der diese Positionen vertritt. Das ist es, was wir versuchen. Wir sind der Meinung, dass Strategien politische Repräsentation brauchen. Strategien brauchen nicht nur Intellektuelle oder kritische Stimmen. Sie brauchen politische Organisationen, Strömungen, Bündnisse, die sie in der politischen Landschaft ausdrücken können. Wir brauchen eine Kraft auf der Linken die darauf besteht, dass es echte Veränderung geben kann, dass diese echte Veränderung aber nur durch einen radikalen Bruch erreicht werden kann.

Manche Kritiker einer linken Exit-Strategie, wie du sie skizzierst, wenden jedoch ein, dass dies in der gegenwärtigen Situation  nur dazu führen würde, dass die Mehrheit der Bevölkerung noch mehr leiden würde. Von der Wiedereinführung einer abgewerteten nationalen Währung würde vor allem das exportorientierte Kapital profitieren, während die realen Einkommen und die verbliebenen Ersparnisse der Bevölkerung wegschmelzen würden. 

Ich stimme mit dieser Kritik nicht überein. Einerseits, weil in der gegenwärtigen politischen Situation ein Bruch mit der Verarmungspolitik auf europäischer Ebene unmöglich ist. Die Vorstellung, dass die EU irgendwie Griechenland wohlwollend irgendeine Form der Unterstützung zukommen lassen würde, ist Wunschdenken. Im Gegenteil: Wenn es uns gelingt, in Griechenland mit der Kürzungspolitik zu brechen, dann können wir ein Beispiel schaffen, das dazu beitragen kann, auch in Europa die Kräfteverhältnisse zu verändern. Auf der anderen Seite hat unsere Position nichts mit irgendeinem Konzept des exportorientierten Wachstums zu tun. Die Rückkehr zur monetären Souveränität, zusammen mit Maßnahmen wie der Wiedereinführung von Kapitalkontrollen, soll vielmehr dazu beitragen, Schutzmechanismen gegen die systemische Gewalt des internationalisierten Kapitals zu schaffen, um soziale Absicherungen und soziale Rechte zu beschützen – und nicht dazu, Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Das griechische Kapital ist vehement gegen jede Exit-Strategie. Denn sie verstehen, dass dies ihre Klassenposition untergraben würde. Darüber hinaus stellt nur die Rückkehr zur monetären Souveränität plus Verstaatlichung des Bankensystems sicher, dass die Ersparnisse der Haushalte abgesichert sind.

Wie können und sollten Menschen in den europäischen „Kernländern“ denn deiner Ansicht nach die Kämpfe der griechischen Bewegungen und die Interessen der griechischen Bevölkerung unterstützen?

Das Wichtigste was sie tun können ist, gegen ihre eigenen Regierungen und deren neoliberale Politik zu kämpfen. Das ist die wichtigste Form der Solidarität. Darüber hinaus müssen sie das Europäische Projekt selbst in Frage stellen, einschließlich der gemeinsamen Währung. Die finanzielle, geldpolitische und institutionelle Architektur der Eurozone ist zum Nachteil der Lohnabhängigen sowohl in den Kernländern als auch an der Peripherie. Ich denke nicht, dass wir die Europäische Integration im Namen des Internationalismus unterstützen sollten. Die Europäische Integration ist der „Nationalismus des Kapitals“, es geht darum, Profite zu steigern. Dagegen müssen wir uns stellen. Das ist umso notwendiger, da nun – mit dem Fehlen einer notwendigen „linken EU-Kritik“ – die zynische, reaktionäre, rassistische und letztlich unternehmensfreundliche EU-Kritik der extremen Rechten einen Aufschwung erlebt. Wir brauchen eine koordinierte Bewegung gegen die Europäische Union auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

Panagiotis Sotiris lehrt soziale und politische Philosophie and der Universität der Ägäis und ist führendes Mitglied bei Antarsya.

Antarsya (dt. Meuterei) ist ein linksradikales Bündnis. Obwohl es nicht im Parlament vertreten ist, hat es einen beachtlichen Einfluss in sozialen Bewegungen und ist auch auf der lokalen Ebene stark verankert.

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