In Zeiten wie diesen schwer vorstellbar: Aber Grenzen sind von Menschen gemacht. Und es gibt sie nicht schon immer. Doch woher kommen Grenzen? Wozu und vor allem wem dienen sie? Und wie kommen wir zurück zu einer Welt ohne Grenzen? mosaik hat im Rahmen der diesjährigen WIENWOCHE unter dem Motto „Über Grenzen, Schleichwege und Gemeingut“ die Grenzforscherin Bridget Anderson getroffen, um ihr diese und andere Fragen zu stellen.
mosaik: Migration wird wie kein anderes Thema zur Zeit diskutiert. Aber worüber reden wir eigentlich, wenn wir »Migration« sagen?
Bridget Anderson: Grob gesagt, der „Migrant“ ist weder Uniprofessor oder Banker noch Fußballer. Der Migrant wird als arme Person dargestellt. Dazu haben Wissenschaft ebenso wie Medien und Politik beigetragen. Daher kann es unter bestimmten Umständen hilfreich sein, über Mobilität anstatt über Migration nachzudenken. Jedenfalls müssen wir anerkennen, dass die Möglichkeiten von Mobilität unterschiedlich verteilt sind: Manche Menschen sind mobil, während andere migrieren. Die Erfahrung des mobilen Bankers ist nicht dieselbe Erfahrung wie jener der migrantischen Hausarbeiterin. Ein Vorteil des Begriffs Mobilität ist, dass er die Mobilität von Menschen mit der Mobilität von Gütern und Finanzkapital verbindet. Und ich denke, wir müssen diese verschiedenen Arten von Mobilität stärker in den Blick nehmen. Warum wird staatliche Souveränität als von der ersten bedroht dargestellt, nicht aber durch die beiden anderen?
Oft heißt es, Grenzen hätten die Funktion, Menschen fernhalten. Aber hatten Nationalstaaten jemals wirklich Kontrolle über die Bewegung von Menschen? Was sind Grenzen eigentlich?
Grenzen funktionieren nicht auf diese Weise, Grenzen waren im Grunde notwendig, damit es überhaupt Nationalstaaten gab. In seinem Buch „The Invention of the Passport“ argumentiert John Torpey, dass nicht nur das Gewaltmonopol in der Natur von Staatlichkeit liegt, sondern auch das Monopol über die Bewegungsfreiheit. Natürlich wollen nicht alle Staaten Bewegung gleichermaßen begrenzen – imperiale Staaten streben danach sie zu erweitern – alle Staaten jedoch streben danach, sie zu kontrollieren. Meine Freundin Nandita Sharma wird nächstes Jahr ein wunderbares Buch veröffentlichen mit dem Titel „Home Rule“. Darin beschreibt sie, dass globale Einwanderungskontrollen zu einem Zeitpunkt eingeführt wurden, als postimperiale Staaten nationalstaatliche Souveränität erlangten.
Ich würde die Ursprünge von Einwanderungskontrollen in Europa in den frühen Vagabundengesetzen verorten, in der Kontrolle der Bewegung von lokalen armen Menschen. Auf diese Weise lassen sich auch die Kämpfe gegen Armengesetze, die Unterdrückung von BettlerInnen und Anderen mit dem Kampf gegen Kürzungspolitik und gegenwärtigen migrantischen Kämpfen verbinden.
Die Frage, was Grenzen sind, ist komplex, weil sich diese laufend verändern. Aber letztlich sind Grenzen vielfache Exklusionsmechanismen, die Menschen spalten und die dazu dienen, Ungleichheiten zu institutionalisieren und zu etablieren. Praktisch haben Staaten begrenzte Kontrolle über die Bewegung von Menschen. Würde niemand internationale Grenzen überschreiten, würden unsere Ökonomien und Gesellschaften zu einem Stillstand kommen. Daher muss eine bestimmte Anzahl an Menschen sich jedenfalls bewegen. Und sogar territoriale Grenzen sind schwer zu kontrollieren, geschweige denn die Arten von Grenzregulierungen in die europäische Staaten heutzutage verstrickt sind.
Liberale argumentieren, effizientere Grenzregime wären menschlicher und besser für alle. Was denkst du darüber?
Ich denke, Grenzen sind von Natur her ungerecht. Das bedeutet jedoch nicht, dass manche Praktiken und Politiken nicht mehr oder weniger gefährlich sind als andere. Manche Regime sind schlimmer als andere. Es gibt Momente, in denen die Öffentlichkeit besonders erschrocken ist von bestimmten Praktiken wie etwa Trumps Trennung der Kinder von ihren Familien.
Doch praktisch sind damit einige Dilemmata verbunden. Wir müssen anerkennen, dass wir in einer Welt mit Nationalstaaten leben und dass wir Menschen auf möglichst praktische Art und Weise unterstützen – etwa im Bestreben nach dem Erlangen eines Aufenthaltsstatus. Letztlich glaube ich nicht an das Konzept von Staatsangehörigkeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich meine Staatsangehörigkeit ablegen würde. Mit diesen Widersprüchen müssen wir umgehen. Im Moment bedeutet die Losung „No Border“ – also keine Grenzen – antikapitalistische, inklusive und nicht dominante Räume aufzubauen und zugleich Menschen zu unterstützen, sich frei bewegen zu können und das Recht zu erlangen bleiben zu dürfen.
Wenn Migration nur richtig kontrolliert würde, könnte Lohn- und Sozialdumping ein Riegel vorgeschoben werden. So argumentieren mittlerweile rechtsgerichtete PolitikerInnen, aber mit unter auch linke politische Parteien und Gewerkschaften. Wie müssten wir deiner Meinung nach anders über globale soziale Ungleichheit nachdenken?
Das ist die größte Herausforderung. Grenzen sind Mittel, um globale Ungleichheit durchzusetzen. In einer Welt, in der man mit einem Einkommen von 30.000 Euro im Jahr global betrachtet zu den 1% der EinkommensbezieherInnen gehört, ist es nicht überraschend, dass sich Menschen Sorgen über Migration machen. Wenn man nicht genug hat, um das eigene Leben zu sichern – sogar in den reichen Ländern, die stark durch den Globalen Süden subventioniert werden und wo jene mit Staatsangehörigkeit beispielsweise freien Zugang zu höherer Schulbildung haben – dann wird Menschen klar, dass es viele andere Menschen gibt, die viel weniger haben als sie selbst. Selbstverständlich macht man sich dann Sorgen über Einwanderung. Oxfam hat letztes Jahr einen Bericht veröffentlicht, dass acht Männer denselben Reichtum besitzen wie die halbe Welt. Das ist das Problem, nicht Migration.
Was sollten politische AkteurInnen in der gegenwärtigen Situation fordern, wenn es ihnen um eine Welt ohne Grenzen geht?
In einer kapitalistischen Welt wären keine Grenzen keine Lösung für Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Die Forderung nach der Abschaffung von Grenzen muss Teil eines jeden antikapitalistischen, antidominanten Projekts sein. Wenn wir uns also mit niedrigen Löhnen und Sozialdumping beschäftigen, müssen wir sicherstellen, dass Beschäftigte in der Lage versetzt werden sich gegen diese Praktiken zu wehren, statt spezielle Kategorien von ArbeiterInnen zu schaffen, die davon ausgeschlossen sind. Genau das schafft erst solche ArbeiterInnen, die einander unterbieten – also sich noch billiger verkaufen – müssen. Einer „No Border“ Bewegung darf es nicht nur um „MigrantInnen“ gehen, denn wer ist das ohnehin? Eine „No Border“ Bewegung muss für alle sein – also ein Common, ein Gemeingut werden.
Bridget Anderson ist Professorin für Mobilität, Migration und Citizenship an der Universität Bristol. Davor war sie Forschungsleiterin am Centre on Migration, Policy and Society (COMPAS) an der Universität Oxford. Anderson berät MigrantInnenorganisation, Gewerkschaften und RechtspraktikerInnen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.
Das Interview führte Sandra Stern. Es erschien in der Festivalzeitschrift der diesjährigen WIENWOCHE, die mosaik produzierte. Das Festival wird am 14. September um 20 Uhr in der Norbahn-Halle eröffnet und dauert bis zum 23. September.