GoStudent: Die Nachhilfe-Industrie und ihr Geschäft mit der Ungleichheit

Vergangene Woche machte das Nachhilfe-Start-up „GoStudent“ mit einem neuen Investment-Rekord Schlagzeilen. Die private Nachhilfe-Industrie schlägt Profit aus sozialer Ungleichheit, kritisiert Flora Petrik.

Der Wiener Online-Nachhilfeanbieter GoStudent hat vergangene Woche einen beachtlichen Rekord gebrochen: Mit 300 Millionen Euro hat die Firma das höchste Start-up-Investment erhalten, das in Österreich jemals aufgenommen wurde. Das Unternehmen ist nun satte drei Milliarden Euro wert. Das zeigt: Nachhilfe erweist sich als ertragreiches Geschäftsfeld für das Kapital – mit viel Luft nach oben. Die Privatindustrie macht ein Millionengeschäft mit einem Schulsystem, das viele nur durch Nachhilfe bewältigen können.

Vererbte Bildung

Aus welcher Familie wir kommen, bestimmt immer noch stark unsere Zukunft – besonders in Österreich. Hierzulande vererben wir Bildung – im EU-Vergleich – besonders stark. Kinder und Jugendliche mit wohlhabenden Eltern erfahren mehr Unterstützung zu Hause und können bessere Schulen besuchen. Der schulische Anspruch, alle gleich zu behandeln, verschärft dabei soziale Unterschiede umso mehr – denn nicht alle beginnen an derselben Startlinie.

Schüler*innen aus Familien mit weniger Geld starten nicht nur mit weniger Ressourcen, ihnen werden zudem zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Wer sich schwer tut, mit den Anforderungen der Schule zurecht zu kommen, wird aussortiert. Diejenigen, die auf der Strecke bleiben, sind auf sich allein gestellt – oder haben mit etwas Glück Eltern, die es sich leisten können, für private Nachhilfe aufzukommen.

Lohndumping bei GoStudent

Das Geld dieser Eltern soll nun in die Taschen der GoStudent-Investor*innen fließen. Ein näherer Blick auf das Start-Up zeigt: Die Nachhilfegebenden sind dabei nicht mehr als ein lästiger Kostenfaktor. Die Online-Nachhilfelehrer*innen erhalten 13 Euro pro Nachhilfestunde – und das ohne Lohn für Vor- und Nachbereitung. Aus diesem bereits niedrigen Betrag müssen die Tutor*innen dann noch eigenhändig Steuern und Sozialversicherung zahlen.

Dieses Lohndumping passt zum Aushungern des öffentlichen Bildungssektors, in dem Lehrpersonal kaum eine Chance hat, sich den Schüler*innen individuell zu widmen, die Lehr-Lern-Beziehung zu vertiefen und Bildungsprozesse zu ermöglichen. Bezeichnend ist dabei ein Blick in das Bildungsbudget für das Jahr 2022. Dort ist nur ein Plus von 65 Millionen Euro für Förderunterricht vorgesehen – weniger als ein Drittel der GoStudent-Investition.

Klingelnde Kassen in der Nachhilfe-Industrie

Die Kassa der Nachhilfe-Industrie klingelt besonders zu Corona-Zeiten. Doch auch schon vor der Pandemie boomte das Geschäft mit der Not der Schüler*innen. Seit Jahren werden die Probleme unseres Schulsystems immer weiter privatisiert. Knapp ein Drittel aller Schüler*innen muss heute schon Nachhilfe nehmen, um im Unterricht mitzukommen. Nachhilfeunterricht hat sich in den letzten zwanzig Jahren regelrecht zu einem parallelen Bildungssystem entwickelt – ein Schattenprogramm, das sich nur wenige leisten können.

27 Prozent der Eltern geben an, dass ihr Kind Nachhilfe braucht, sie sie aber nicht bezahlen können. Dabei ist Schule in Österreich sowieso, entgegen allgemeiner Erwartung, nicht kostenlos: 2.215 Euro mussten Eltern im Durchschnitt für den Schulbesuch ihrer Kinder im Schuljahr 2020/2021 ausgeben. Das trifft besonders Haushalte mit niedrigem Einkommen.

Nachhilfe als Klassenfrage

Damit wird schulische Bildung zu einer Frage sozialer Gerechtigkeit. Wenn fast jede*r dritte Schüler*in externe Nachhilfe beansprucht, liegt auf der Hand, dass der schulische Unterricht seiner Aufgabe nicht gerecht wird – und das Lehrangebot schlichtweg nicht ausreicht. Rechnet man die durchschnittlichen Kosten auf alle davon betroffenen Schüler*innen hoch, ergeben sich in Österreich Gesamtausgaben für Nachhilfe in der Höhe von rund 101 Millionen Euro. Das heißt, jedes Jahr fließen hundert Millionen Euro von privaten Haushalten in Ersatzleistungen für unser Bildungssystem. Wer bezahlt diese Unsummen?

Die letzten Jahre zeigen, dass vermehrt jene in die Geldbörse greifen müssen, die sowieso weniger Geld zur Verfügung haben. Fast jedem dritten Kind aus einem Haushalt mit niedrigem Einkommen empfiehlt die Schule, Nachhilfe zu nehmen. Bei Schüler*innen aus Haushalten mit höheren Einkommen ist das nur halb so oft der Fall. Auch Kindern von Alleinerzieher*innen oder aus Familien mit Migrationshintergrund erhalten deutlich öfter Nachhilfe-Empfehlungen. Nicht nur müssen also Eltern in Österreich privat die Schulerfolge ihrer Kinder sicherstellen, sondern besonders Niedrigverdiener-Haushalte, Alleinerziehende und Familien mit Migrationshintergrund sind von dieser massiven finanziellen Belastung betroffen. Das führt zu einer Umverteilung von unten nach oben – und das auf Kosten der Bildungschancen vieler Kinder.

Verschärfung in der Pandemie

Was bereits seit Jahren im Schulsystem falsch läuft, verschärfte sich durch die Pandemie. Das sich daran etwas ändern muss, liegt auf der Hand. Das die Regierung daran kein Interesse hat, ebenso. Vorschläge zu einer Verbesserung der Situation von Schüler*innen gibt es zahlreich. Es braucht mehr Geld für Schulstandorte mit vielen benachteiligten Kindern, eine Aufstockung von Personal, höhere Löhne für pädagogische Fachkräfte sowie einen massiven Ausbau der Nachmittagsbetreuung.

Auch die Einführung der Ganztagsschule ist längst überfällig. Das sich die Politik so vehement gegen eine ganztägige Betreuung wehrt, während zahlreiche Schüler*innen ihre Nachmittage sowieso in Nachhilfezentren verbringen, erscheint umso paradoxer.

Nicht nur Nachhilfe sorgt für die Privatisierung der Unterfinanzierung des Schulsystems. Auch der Fokus auf Hausübung als Mittel der Wissensvermittlung trägt seinen Teil dazu bei. Hausübungen haben nämlich einen viel geringeren Einfluss auf den Lernerfolg als häufig angenommen, wie viele Studien zeigen. Tendenziell stärken sie vor allem bereits leistungsstarke Schüler*innen. „Leistungsstark“ zu sein heißt in sehr vielen Fällen jedoch einfach wohlhabendere Eltern zu haben als andere.

Lernnetz: Solidarisch Hürden überwinden

Das Bildungssystem hat einen eindeutigen Klassencharakter – und davon profitieren private Unternehmen. Weil sich daran etwas ändern muss, hat die Jugendorganisation Junge Linke das Lernnetz gestartet. Beim Lernnetz gibt es kostenlose Lernnhilfe von jungen Leuten für junge Leute. Das Angebot richtet sich an Schüler*innen in ganz Österreich, die Unterstützung in der Schule benötigen und für die Nachhilfe eine finanzielle Belastung darstellt.

Dabei geht es den Aktivist*innen jedoch nicht nur darum zu helfen: „Wir wollen auch das Gefühl vermitteln, das man zusammen etwas erreichen kann. Das Nachhilfebedarf kein individuelles Versagen ist, sondern vom System verursacht. Und das wir, wenn wir solidarisch sind, gemeinsam Hürden überwinden können“, so Kathrin Gusenbauer, Koordinatorin des Lernnetzes. Das Angebot scheint auf große Resonanz zu stoßen. Jeden Tag melden sich Schüler*innen, in Oberösterreich und Wien hat die Junge Linke bereits Lernnetz-Zentren eröffnet und sucht laufend weitere ehrenamtliche Tutor*innen.

In einer Klassengesellschaft wird Schule nie frei von Ungleichheiten sein. Als Linke dürfen wir dem aber nicht einfach hilflos gegenüberstehen. Stattdessen müssen wir Strukturen und Ressourcen organisieren, die nicht nur Menschen ganz konkret helfen, sondern die auch darüber hinaus solidarische Wirkmacht haben. Das Lernnetz der Jungen Linken ist dafür ein elementarer Baustein.

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