Ein Samstag in Paris: Bericht vom Aufstand der Gelbwesten

Es war der vierte Streich am Samstag. Die Gelbwesten riefen erneut zur Großdemonstration in Paris. Mario Neumann war vor Ort und hat brennende Barrikaden, Kids aus den Banlieues und Menschen gesehen, die lächelnd „La révolution!“ sagen. Für Neumann symbolisieren die Gelbwesten die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Sie wollen nicht mehr hinnehmen, dass Andere über sie bestimmen. Offen ist, in welche Richtung sich die Bewegung politisch entwickelt.

Am Samstag habe ich am „vierten Streich“ der Gilets Jaunes in Paris teilgenommen. Ich kenne Frankreich weder persönlich noch politisch besonders gut. Wenn ich trotzdem – auf Anfrage von mosaik – hier meine Eindrücke schildere, dann nur mit folgender Vorbemerkung: Ich teile meine politischen Eindrücke in der Absicht, gemeinsam mit anderen darüber nachzudenken, was der Aufstand in Frankreich bedeutet und ob er auch Fragen an politische Konzepte anderswo stellt. Ihn umfassend qualifizieren, können diejenigen tun, die sich dies zutrauen und es für notwendig halten.

Am frühen Samstagmorgen fühlt sich Paris an, als habe die Stadt geschlossen. Gesperrte Plätze und Bahnhöfe, verrammelte Läden und unbefahrene Straßen. Grau und leer. Wenige Stunden später ist alles voll und gelb. Es riecht nach Tränengas und brennenden Barrikaden. Geschäfte werden geplündert. Die Polizei schießt Tränegas, Gummigeschosse und Blendgranaten. Alle laufen in alle Richtungen, kreuz und quer, hin und zurück. Den ganzen Tag, ohne einen wirklichen Zielort, ohne eine Kundgebung, ohne Banner, Fahnen oder Flyer. Das Wichtigste ist, dass all die Körper da sind, die sonst hier keiner sehen will. Und dass sie sich widersetzen und sich dadurch eine Macht über sich und ihr Leben zurückholen. Die gelbe Weste ist dabei nicht nur zum Symbol des Aufruhrs geworden, sondern sie ist auch eine Möglichkeit für alle, die das Elend in ihrem Leben nicht mehr hinnehmen wollen.

Die Ablehnung ist allgegenwärtig

Zweifellos: Es ist ein kleiner Aufstand gegen das Leben im Krisenkapitalismus, getragen von so ziemlich allen, die es satt haben. Es ist offensichtlich eine soziale Revolte gegen das gesamte System der politischen Repräsentation. Der Staat, die Regierung und die Polizei werden dabei als Vertreterinnen dieser Macht über das Leben gesehen. Antikapitalistische Rhetorik gibt es wenig, aber gleichzeitig ist eine umfassende, grundsätzliche Ablehnung der gesamten Ordnung absolut gegenwärtig. Sie trifft auch die Linke und die Gewerkschaften, deren Vertreter*innen hier und da verbal angegriffen werden.

Das Tragen der Weste steht hingegen allen offen. Das ist interessant: Sind es die da unten, die Menge, das Volk, die Multitude, die Klasse, die Arbeiter*innen, die einfachen Leute? Alle diese Begriffe werden benutzt, um die Aufständischen zu charakterisieren. Und doch überwiegt auf der Straße eine andere Gemeinschaft: Du musst nicht nur kämpfen, weil du Teil der Klasse bist. Sondern wenn du mit uns kämpfst, bist du eben auch Teil der Klasse. Es steht jedem und jeder zu, das eigene soziale Leid in die Konfrontation einzubringen und sich mit dem Aufstand in eine politische Beziehung zu setzen.

Die Gelbwesten erobern Paris

Die soziale Zusammensetzung ist daher fast alles, was „von unten“ in seiner Vielfalt sein kann. Viele kommen aus den Vororten, auch viele junge PoC aus den Banlieus sind dabei (meist in großen Gruppen). Es sind viele, deren Körper die Spuren harter Arbeit zeichnen. Viele, deren Gesichter, Kleidung und Sprache zu verstehen geben, dass sie keinerlei Zugehörigkeit zum sozialen und kulturellen Mittelpunkt der französischen Gesellschaft empfinden. Sie messen sich nicht am Lebensstil der Mittelklassen. Es sind die, deren Existenz zwar bekannt ist, deren Leben ansonsten aber mit einer Mischung aus schlechtem Lohn, plagender Arbeit und sozialer Missachtung, fehlender Anerkennung, Unsichtbarmachung und Indifferenz begegnet wird. Auch viele Frauen, die in stiller Selbstverständlichkeit die Reproduktion der Gesellschaft besorgen sollen, sind auf der Straße. Doch das bisherige Fehlen eines feministischen Impulses ist deutlich sichtbar.

Die Frage nach der politischen Zusammensetzung ist im Moment nebensächlich. Es scheint so gut wie keine tieferen politischen Bindungen zu geben und erst recht kein Bedürfnis nach der Vermittlung von Konzepten oder Ideologien. Alle Versuche (und es gibt im deutschsprachigen Raum ja mittlerweile eine Vielzahl von ihnen), das Subjekt des Aufstands politisch oder ideologisch zu qualifizieren, müssen daher schiefgehen und verfehlen den Kern der Dynamik. Die Gilets Jaunes sind bislang ein soziales Subjekt und keine politische Identität.

Strategien des Aufstands

Die politische Uneindeutigkeit ist dabei Stärke, Chance und Risiko zugleich. Zunächst sendet der Aufstand jedoch eine eindeutige Botschaft: Innerhalb des Krisenkapitalismus existieren keine Räume für die fälligen sozialen Veränderungen. Diese Räume müssen erkämpft und erzwungen werden und können sich strategisch nur auf diese Weise öffnen lassen. Und solange diese Räume nicht erschlossen werden, können bestimmte politische Fragen nicht gestellt werden. Dabei ist entscheidend, dass die Gelbwesten einen entschiedenen Einspruch gegen die allgegenwärtigen populistischen Vorschläge von rechts und links erheben, indem sie die Mechanismen der Repräsentation und des Personenkults zurückweisen. Insofern ist der Aufstand vielleicht eher zu begreifen als ein Ereignis, das potentiell die Entwicklung neuer politischer Formen und Begriffe ermöglicht. Entscheidend ist daher weniger der aktuelle Stand des politischen Bewusstseins, sondern die mögliche Hervorbringung einer neuen Politik und Organisation der Menge. Neue Formen, die jenseits des populistischen Theaters beginnen und mit realer gesellschaftlicher Macht verbunden sind.

Warum aber Paris, warum Macron? Warum kein Streik im Betrieb? Es liegt nicht nur an der Steuerpolitik. Auf der Straße scheint vielen intuitiv klar zu sein, dass der neoliberale und autoritäre Staat das politische Kommando über ihre Leben und über die Lohnarbeit organisiert, anstatt ihn als Heilsbringer gegen einen ungezügelten Markt zu verklären. In Frankreich nicht unüblich, ist dies trotzdem keine Selbstverständlichkeit. Ein Aufstand von unten wählt eine Option, die in der zähen und monatelangen Debatte hierzulande so gut wie gar nicht erwähnt wurde: Sie verlässt den Raum der Interessenspolitik und fordert einen politischen Raum der Veränderung. Sie erkennt und entwickelt einen sozialen Antagonismus, anstatt auf korporatistische Verbesserung zu setzen. Es gibt sicherlich viele große Unterschiede, aber in dieser Weise stellt der Aufstand auf eine eigene Weise die Frage der Demokratie und trägt einige Züge der europäischen Platzbesetzungen des Jahres 2011.

Politik? Neue Klassenpolitik?

Seit vier Wochen sprechen die Gilets Jaunes aus, was eigentlich alle wissen – und jetzt doch zum vielleicht ersten Mal wirklich hören. Dass eine soziale Wirklichkeit selbst spricht und nicht sprechen lässt, sich zeigt anstatt repräsentiert zu werden, ist das Moment der französischen Stunde. Dass sie anders spricht, aussieht und handelt als ihre selbsternannten Repräsentant*innen von links es sich gedacht und gewünscht haben. Dass sie, die Gelbwesten, ihre Repräsentant*innen nicht mehr brauchen und wollen, um eine „soziale Frage“ zu stellen. Dass viele um ihre Würde ringen, auf der Straße gegen die Regierung – und nicht in der Kneipe gegen die Migration.

Das ganze Geschehen ist ungefiltert, unvermittelt, aber dadurch ehrlich. Es ist ganz sicher keine Revolution, Und dennoch hatte man das Gefühl, dass niemand einen anderen Vorschlag hören möchte. Wirklich oft hab ich am Samstag gesehen, wie Leute Fremde oder Bekannte oder mich anlächeln und nicht ganz im Ernst und nicht ganz im Spaß sagen: „La révolution!“

Rückkehr der Sehnsucht

Unpolitisch ist das alles ganz sicher nicht. Den Aufstand zu wählen und nicht den Tritt nach unten, das ist der eigentliche, wichtige und politische Vorgang in einem umkämpften sozialen Raum, über den ja alle spätestens seit „Rückkehr nach Reims“ viel und gerne reden. Und das ist schon eine entscheidende politische Weichenstellung. Dabei hat man sich hierzulande ja in den letzten Monaten vielerorts im Anschluss an die von Didier Eribon aufgeworfene Frage darauf geeinigt, dass die „soziale Frage“ verstärkt im Zentrum linker Politik stehen und diese sich zu einer Neuen Klassenpolitik verdichten möge.

Einziger vorgeschlagener Horizont einer solchen Politik der sozialen Frage bleibt jedoch die Interessenvertretung durch Repräsentation, neue zivilgesellschaftliche (Basis)initiativen und Gewerkschaftsmacht. Der Horizont grundsätzlicher Veränderung, einer Politik gegen das Kommando über das Leben – und nicht bloß für kleine Verbesserungen – wurde darin häufig abgetan als unvermittelbarer Linksradikalismus, dem kein gesellschaftliches Bedürfnis entspricht. Was aber, wenn es gar nicht die unteren Klassen sind, die sich nach Ordnung und Kompromiss sehnen, sondern die politische Linke? Was, wenn nur ihr die Sehnsucht nach einem anderen Leben abhanden gekommen ist? Klar, Frankreich ist nicht Deutschland oder Österreich. Trotzdem.

Wie geht es weiter? Der „fünfte Streich“ ist bereits angekündigt. Ich wage keine Prognose. Aber zu hoffen ist, dass sich die Samstage in die Woche verbreiten. Und dass die Linke ihre Rolle findet. Denn es geht jetzt nicht darum, die Menschen zu qualifizieren und auf das festzunageln, was sie vor dem Aufstand waren. Sondern es geht darum, eine politische Chance zu ergreifen. Die liegt sicher nicht darin, den Aufstand zu instrumentalisieren oder zu repräsentieren. Sondern darin zu verstehen, warum die Menge die Demokratie der Straße derjenigen der Institutionen vorzieht – trotz Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten.

Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im Netzwerk „Welcome United“ aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von „Jenseits von Interesse und Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968“ (Laika-Verlag).

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