Comeback der Gelbwesten: Was tun?

Wird eine europaweite Gelbwesten-Bewegung die Antwort auf Teuerungen sein? Thomas Ernest überlegt, was das für die Linke bedeuten könnte.

Die Monatszeitung Le Monde Diplomatique spricht in ihrer Juni-Ausgabe von der Möglichkeit einer europaweiten Gelbwestenbewegung. Der Economist schreibt von globalen Aufständen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf die massiven Preisanstiege folgen werden. Blickt man auf die momentane Situation braucht man in der Tat kaum hellseherische Fähigkeiten, um große Protest- bis Umsturzbewegungen zu antizipieren. Corona-Pandemie und Ukrainekrieg, zwei der wohl schwersten Krisen der Nachkriegsordnung, deren Ende derzeit keineswegs absehbar ist, machen derartige Prognosen mehr als plausibel.

Inflation und der kommende Aufstand

Die Inflationsrate in der Eurozone war bereits im Mai bei 8,1 Prozent und in den USA bei 9,1 Prozent angelangt. In der Türkei lag sie bei wahnsinnigen 73 Prozent. Insbesondere die Preise von Nahrungsmitteln und Energie waren von massiven Steigerungen betroffen. Die Weizenpreise stiegen durch den Ukrainekrieg um 60 Prozent. Die Lebensmittelpreise waren bereits höher als während der globalen Nahrungsmittelkrise von 2008, die ca. 155 Millionen Menschen in Armut und Elend stürzte. Ein Standard & Poors Report vom Mai stellte zudem fest, dass der Schock der Lebensmittelversorgung noch bis nach 2024 spürbar sein wird. Dieser Schock wird am härtesten die lebensmittelimportierenden Länder wie etwa Marokko, Tadschikistan, Ägypten oder Mosambique treffen. Er wird jedoch ebenso die schmalen Budgets des Proletariats in den westlichen Ländern weiter ausdünnen. Eine ähnlich düstere Prognose liefern die Energiepreise. Anfang Mai war der europäische Gaspreis sechs Mal höher als zur selben Zeit im vorangegangenen Jahr.

Blickt man auf das letzte Jahrzehnt, so war es zumeist entweder ein Anstieg von Nahrungsmittel- oder Energiepreisen, der größere Aufstände oder gar Revolutionen lostrat. Auf die Verteuerung der Grundnahrungsmittel ab 2007 folgten Aufstände wie etwa in Indien, Mozambique und Haiti. Der massive Anstieg der Nahrungsmittelpreise ab 2010 entfesselte den Flächenbrand des Arabischen Frühlings zu Beginn des letzten Jahrzehnts. Und am Ende der 2010er Jahre waren es insbesondere die Kraftstoffpreise oder die Einschränkung basaler Mobilität, die Bewegungen ermöglichten, die schnell über sich hinauswuchsen.

Der soziale Populismus der Gelbwesten

Die Gelbwesten, die, glaubt man Le Monde Diplomatique, nun bald europaweit für Unruhe sorgen werden, waren die Reaktion des französischen Proletariats auf eine vermeintliche Ökosteuer auf Benzin. Diese hätten das Autofahren für viele Geringverdiener:innen nicht unwesentlich verteuert. Tausende Menschen besetzten deshalb ab November 2018 die Kreisverkehre in der französischen Provinz. Ausgehend von Anrufen auf Facebook wurde die Warnweste schnell zum Symbol der Bewegung. Schließlich eint sie die normalerweise voneinander isolierten prekären Autofahrer:innen. Da sich die Bewegung um Fragen der Steuergerechtigkeit wie auch Automobilität versammelte und es sich bei den Protestierenden zugleich um völlig neue politische Akteur:innen handelte, gingen große Teile der französischen wie auch globalen Linken zunächst von einer reaktionären Bewegung aus. Berichte über rassistische Übergriffe an den Kreisverkehren schienen diesen anfänglichen Verdacht zu bestätigen. Doch schon bald sollte sich herausstellen, dass es mit diesem Urteil nicht getan ist.

Gelbwesten: keine kleinbürgerliche Steuerpartei

Spätestens als die Bewegung Anfang Dezember die Champs Eysées stürmte und die dahinterliegenden Viertel der französischen Bourgeoisie verwüstete, wurde auch vielen Linken klar, dass es mit dem Label der kleinbürgerlichen Steuerpartei nicht getan ist. Es kristallisierte sich heraus, dass es nicht primär xenophobe oder antisemitische Forderungen waren, die im Zentrum der Bewegung standen. Stattdessen waren es Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und nach dem Ende des teuren Lebens. Der Populismus der Gelbwesten war weder rechts noch links, sondern sozial. Zugleich war die Wut der Bewegung derart massiv und vor allem destruktiv, dass sich bald auch rechtsextreme Politiker:innen wie Marine Le Pen von den Zerstörungen im Zentrum der Kapitale distanzieren mussten.

Doch auch die traditionelle französische Linke blieb oft außen vor. Die sozialen Forderungen wurden nicht in der gewohnten Sprache des Sozialismus vorgetragen. Den Begriff der Klasse ersetzten die Gelbwesten durch das Volk und man bezog sich auf die französische Revolution und die revolutionären Volksklassen. Hierzu schrieb eine Gruppe Pariser Genoss:innen im Dezember 2018: „Diese ständige Referenz auf die revolutionäre Nation verdeutlicht nur, in welchem Ausmaß das Verschwinden der Arbeiteridentität seit den 1970er Jahren auch einen Verlust des historischen Bewusstseins für die Geschichte der Arbeiterbewegungen in großen Teilen des Proletariats zeitigte“.

Inflation schafft kein Klassenbewusstsein

Der Populismus, der von einem Konflikt zwischen Volk und Eliten ausgeht, ist jedoch nicht zufällig die Ideologie vieler Bewegungen der Gegenwart. Zum einen existiert keine nennenswerte Linke mehr, die organisatorische Vorarbeit hätte leisten und theoretische Klarheit schaffen können. So haben die meisten Gelbwesten vor dem Aufstand noch nie an einer Demonstration teilgenommen. Sie arbeiten zumeist in denjenigen Branchen, die kaum gewerkschaftliche Organisierung kennen. Zum anderen sind die Kämpfe gegen Preissteigerungen auch Kämpfe, die in der Tat das gesamte Volk betreffen: Arbeitslose, Rentner:innen, Prekäre, Kleinunternehmer, die absteigende Mittelschicht oder Student:innen. Die Inflation trifft diese Gruppen zudem zunächst isoliert als Konsument:innen und nicht als betriebliches Kollektiv oder als potentielle Klasseneinheit. So nimmt es sich kaum Wunder, dass sich diese Vereinzelten eher als betrogene Bürger:innen denn als Klasse verstehen.

Die Wiederkehr der sozialen Frage

In Frankreich nahm dieser Populismus eine französische Form an. Das Gespenst der Revolution suchte die französische Bourgeoisie erneut heim. Und das schmutzige Proletariat der Provinzen zertrümmerte die Marseillaise auf den Lippen die Symbole von Reichtum und Nation. Es ist nicht zu erwarten, dass die Unzufriedenheit hier ähnliche Wege gehen wird. Möglicherweise herrscht die bewährte Kirchhofsruhe bis alle unter der Erde liegen.

Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Kontostand auch große Teile der zentraleuropäischen Bevölkerung irgendwann auf die Straße treiben wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich dann schnell bürgerliche oder gar reaktionäre Kräfte an die Spitze der Bewegung stellen. Denn wie Lenin in Was tun? richtigerweise feststellte, geht die spontane Bewegung den Weg des geringsten Widerstandes. Sie heftet sich an bürgerliche Ideologien: „Aus dem einfachen Grund, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt“.

Einzig eine theoretisch klare und gut organisierte Linke hätte Chancen, innerhalb der kommenden Kämpfe nicht unterzugehen. Wir müssen uns deshalb, ausgehend von vergangenen Bewegungen, bereits jetzt fragen, wie wir mit möglichen kommenden Protesten umgehen. Mit Blick auf historische Konzepte revolutionärer Organisierung können wir uns bereits organisieren oder zumindest über die Formen der Organisation streiten. Diese Fragen sind schon jetzt zu stellen, denn der vorherrschende Partikularismus verspricht zunächst zwar keine sozialistische Spontaneität, doch die Situation wird die soziale Frage unweigerlich ins Zentrum rücken.

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