Das Zuhause als Gefängnis: Häusliche Gewalt in der Corona-Krise

Die Fälle häuslicher Gewalt haben während des Lockdowns dramatisch zugenommen. Und doch würde es zu kurz greifen, den Corona-Maßnahmen die Schuld für die Gewalt zu geben. Denn solange der private Raum der politischen Auseinandersetzung entzogen bleibt, wird sich wenig ändern. Ein Text von Barbara Stefan und Paul Herbinger über die vielen Seiten einer allgegenwärtigen Gewalt.

Die Zahlen sind beängstigend: Für jeden Monat Lockdown eine Steigerung von 20 Prozent, weltweit 15 Millionen Delikte mehr. Die Rede ist von häuslicher Gewalt, die in der Corona-Krise massiv zunimmt. Dabei ist die Lage in Österreich nach der türkis-blauen Regierung besonders drastisch. Die massiven Kürzungen im Gewaltschutzbereich und bei Frauenvereinen und die ideologische Förderung eines patriarchalen Familienmodells kommen unter Corona voll zum Tragen.

Passive Regierung

Hastig versuchten die zuständigen Stellen, das Schlimmste zu verhindern. Frauenhäuser stocken ihre Bettenkapazität auf, die Notrufnummer sowie der HelpCh@t stellen zusätzliche Kräfte an. Sogar die zuständigen MinisterInnen thematisierten gegen häusliche Gewalt – zumindest in Interviews. Frauenministerin Susanne Raab erklärte Mitte März: „Quarantäne und häusliche Isolation ist kein rechtsfreier Raum. Die Krise ist kein Freibrief für häusliche Gewalt. Wir gehen mit aller Härte gegen jeden vor, der Frauen und Kinder angreift“. Justizministerin Alma Zadić machte klar, dass die strafrechtliche Verfolgung von Tätern gesichert sei. Aktive Maßnahmen setzte die Regierung jedoch nicht.

Zahlen noch niedrig

Doch in Österreich und anderen europäischen Ländern bleibt der messbare Nachweis eines extremen Anstiegs häuslicher Gewalt noch aus. Frauenhäuser waren bis vor kurzem nur zu 70 Prozent ausgelastet, die Betretungsverbote haben sich nur leicht gesteigert und auch die Notrufnummern wurden nicht signifikant häufiger genutzt als vor der Corona-Krise. Was ist los?

Die Vermutung liegt nahe, dass Statistiken zu häuslicher Gewalt gerade noch wenig über den faktischen Anstieg von Gewalt während des Lockdowns aussagen. Und obwohl die Fallzahlen bei sozialen Einrichtungen und die Anzeigestatistik bei der Polizei langsam steigen, ist es wichtig, sich den Unterschied zwischen tatsächlicher Gewalt und diesen Zahlen anzusehen. Denn sie verraten viel über Ursachen und offene Handlungsfelder.

Zuhause im Gefängnis

Der Lockdown bedeutet für viele von Gewalt betroffene Personen, mit ihren Gefährdern eingesperrt zu sein. Sie sitzen in einem Gefängnis. Die Kommunikation der Regierung, bei der selten klar war, was erlaubt ist und was nicht, verschlimmerte die Situation. Denn was für viele ein mühseliges Ärgernis ist, ist für von Gewalt betroffene Menschen lebensbedrohlich. Weil die Regierung Angst vor dem Virus verbreiten wollte, kommunizierte sie ihre drastischen Maßnahmen gezielt unklar.

Betretungsverbote greifen derzeit nicht

Auch die polizeilichen Maßnahmen gegen häusliche Gewalt griffen nicht mehr wie zuvor. Nehmen wir das Betretungsverbot. Es soll einer gefährdeten Person ermöglichen, sicher im eigenen Privatraum zu verweilen, anstatt zu flüchten. Nun scheitert es an den praktischen Problemen des Lockdowns. Wenn ein*e Polizist*in ein Betretungsverbot ausspricht und somit der Gefährder zwei Wochen lang den gemeinsamen Wohnort nicht mehr betreten darf, stellt sich die Frage, wo er in Zeiten von Corona wohnen soll. Hotels haben zu. Private Besuche galten (fälschlicherweise) als verboten.

Die Unumsetzbarkeit der Maßnahme stellt nicht nur den Gefährder vor ein Problem. Auch betroffene Personen sind bei der Entscheidung, die Polizei zu rufen, damit konfrontiert. Ohnehin haben sie im Lockdown weder den Freiraum noch die Zeit, sich in Anwesenheit des Gefährders an die Notfallnummer zu wenden und sich mit Exit-Strategien auseinanderzusetzen.

Wie Corona den Ausstieg erschwert

Denn der Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung muss geplant werden. Der Moment, nachdem der Trennungswunsch formuliert und vollzogen wird, ist der gefährlichste. Gerade nach der Trennung kommt es am häufigsten zu Femiziden, Mordversuchen, körperlicher Gewalt, Gewaltandrohungen, psychischer Gewalt oder Stalking.

Doch ohnehin fällt es Betroffenen schwer, sich inmitten der unklaren gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen eine Vorstellung von einem Leben nach dem Exit zu bilden, geschweige denn diesen Schritt zu wagen. Kündigungen und Kurzarbeit, eine drohende Wirtschaftskrise und die ständige Angst vor der Erkrankung sind kein guter Boden für den Aufbau eines neuen Lebens. Das gilt noch weniger mit Kindern oder wenn man in finanzieller Abhängigkeit eines Partners lebt oder gar einen unsicheren Aufenthaltsstatus besitzt. Und wem fällt es leicht, sich angesichts eines Lockdowns für eine unbekannte Wohnsituation unter fremden Menschen, wie etwa in einem Frauenhaus, zu entscheiden?

So wird (episodische) Gewalt in den vertrauten vier Wänden einer ungewissen, unsicheren Zukunft vorgezogen, zumindest solange sie keine lebensbedrohlichen Ausmaße anzunehmen scheint. Umso wahrscheinlicher ist es, dass Frauen momentan Konflikten aus dem Weg gehen, um den häuslichen Scheinfrieden nicht zu gefährden, beziehungsweise die Gewalt in ihrer Beziehung ‚aushalten‘.

Nicht nur körperliche Gewalt

Oft gerät in Vergessenheit, dass zur physischen auch psychische Gewalt kommt. Viele Polizeistatistiken erfassen die meisten Formen davon nicht einmal, da sie nicht strafbar sind. Auch die mediale Berichterstattung dreht sich meist ausschließlich um körperliche Gewalt. Dabei erleben sie Betroffene in vielen Fällen sogar als schlimmer als die körperliche Gewalt.

Die psychische Gewalt kann sehr unterschiedliche Formen annehmen und sich auf verschiedene Arten äußern. Kontrolle, extreme Eifersucht, anhaltende (passive) Aggressivität, unkontrollierbare Gereiztheit, permanentes Ignorieren der Bedürfnisse der Partnerin, Beschimpfungen, Kontaktaufnahmen trotz geäußertem Wunsch des Kontaktabbruchs, konsequente Verweigerung von klärenden Gesprächen, Viktimisierung und Schuldzuschreibungen, ständiges Beschweren über die eigenen Probleme, während die Probleme der anderen ignoriert oder abgewertet werden, aber auch das Gefühl geben, dass die andere Person minderwertig ist, übertreibt, zu emotional reagiert usw. können mögliche Formen psychischer Gewalt sein.

Diese Form der Gewalt entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit und wird deshalb auch im Privaten nicht als Teil des Problems häuslicher Gewalt gehandhabt. Sie verschwindet in der Kriminalstatistik und oft auch in dem unterfinanzierten Angebot sozialer Einrichtungen.

Privatisierte Unterdrückung

Aushalten müssen Frauen sehr viel. In der monogamen Hetero-Paarbeziehung wird die Frau zur privaten Seelsorgerin, Sexualtherapeutin, Köchin, Haushälterin und zum Kindermädchen. Für den Mann gilt indes das Zuhause als soziales Ventil, wo er umsorgt wird oder seinen Emotionen freien Lauf lassen kann. Dass ein Mann seinen Unmut über Jobverlust oder Geldnot an seiner Partnerin auslassen kann, hat mit strukturellen patriarchalen Bedingungen zu tun.

Das Patriarchat privatisiert die Unterdrückung der Frau. Sie wird also im privaten Raum, in der „Familie“ ausgetragen. Dort, wo es niemand sieht, als privates Machtverhältnis zwischen einem „Paar“, in der vom sozialen Umfeld isolierte Frauen ihre Rolle zu erfüllen haben und ihrem gesellschaftlich mächtigeren „Partner“ schutzlos ausgeliefert sind, wird die Geschlechter-Hierarchie aufrecht erhalten.

Die Welt auf den Schultern

Sogenannte „Beziehungskonflikte“ sind also auch politische Konflikte. Sie werden nicht zuletzt rund um Fragen der Arbeitsverteilung, Freizeit, Verantwortung, emotionalen Arbeit, Sexualität und Freiheit geführt. Die sozialen Geschlechterrollen werden insbesondere in Beziehungskonflikten ausverhandelt. Sich in solche „privaten Konflikte“ einzumischen, Männer zurechtzuweisen, Frauen zu empowern sind kleine Akte der Befreiung vom Patriarchat. Denn das Private ist politisch.

Im Ausnahmezustand des Lockdowns wurde mit einer völligen Selbstverständlichkeit der Großteil des Krisenmanagements in den privaten Raum gedrängt, wo die Hauptverantwortung für alle reproduktiven Tätigkeiten auf den Schultern der Frauen lastet. So wurde auch alles, was damit einhergeht, nämlich ein Machtverhältnis und jede Form von Gewalt, ohne Zweifel in Kauf genommen. Die Frage nach Gewalt im Privatraum kann nicht ohne die Frage nach dem Geschlechterverhältnis gestellt werden, die sie erst bedingt.

Keine Einzelschicksale

Häusliche Gewalt als individuelles, psychologisches Problem oder als Einzelfälle zu begreifen, ohne diese zugrunde liegende Ordnung anzusprechen, läuft ins Leere. Damit ist auch klar: Der Lockdown ist nicht die Ursache von männlicher Gewalt gegen Frauen. Er verschärft nur die bereits bestehende Unterdrückung der Frau im Privaten, ihre Reduktion auf Reproduktion. Die darauffolgende Wirtschaftskrise wird ebenso ungleich hart auf Frauen einbrechen. Die Inkaufnahme von „Einzelschicksalen“ und die Weigerung, eine Geschlechter-Ordnung als Teil des Problems anzuerkennen, tragen zur Zuspitzung von häuslicher Gewalt bei.

Es braucht mehr als symbolpolitische Betroffenheits-Rhetorik und kurzsichtige Hinweise auf psychische Voraussetzungen. Wir brauchen kollektive Maßnahmen, die in die soziale, ökonomische und symbolische Situation der Frauen eingreifen, Männer zur Verantwortung ziehen und zum Teil der Gewaltprävention machen, das Konzept „Familie“ neu denken und schließlich Reproduktionsarbeit gemeinschaftlich organisieren. Denn ohne sie wird sich die Gewalt in der kommenden Wirtschaftskrise und potenziell weiteren Lockdowns weiter zuspitzen.

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