Die Eskalationsspirale im Nahen Osten dreht sich unaufhörlich weiter. Die Kriege sind Ausdruck kapitalistischer und geopolitischer Interessen. Was heißt das für eine Linke hierzulande?
Samstagnacht haben die Konflikte im Nahen Osten eine neue Dimension erreicht. Die USA griffen auf der Seite Israels direkt in den Krieg gegen den Iran ein – mit bunkerbrechenden Bomben und Marschflugkörpern. Seit dem Massaker am 07. Oktobers 2023 durch die Hamas und dem darauffolgenden genozidalen Krieg Israels im Gaza-Streifen dreht sich die Eskalationsspirale in der Region unaufhörlich weiter. Angeheizt wird sie durch geopolitische Interessen und die Verschiebung globaler Kräfteverhältnisse. Eine Linke, die solidarisch mit den Menschen im Nahen Osten sein will, muss die kapitalistischen und geopolitischen Interessen der Akteur*innen wieder stärker in den Blick nehmen und sich gegen jegliche imperialistischen und nationalistischen Bestrebungen stellen.
Anhaltender Kampf um die Ordnung des Nahen Ostens
Seit über 100 Jahren ist der Nahe Osten von kolonialen und imperialen Interessen geprägt. Die Errichtung von Nationalstaaten seit dem 1. Weltkrieg war eng an die strategischen Interessen kolonialer Kräfte geknüpft. Mit Ende des 2. Weltkrieges wurde die Region zu einem Bestandteil imperialer Interessen des von den USA-angeführten Westblocks und stand unter dem Einfluss des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation mit der Sowjetunion.
Gleichzeitig ist der Nahe Osten noch immer eine Region, in der sich die nationalstaatliche Ordnung nie ganz durchsetzen konnte. Gebiete wie der Irak, Afghanistan oder Pakistan werden im Entwicklungsdiskurs als „failed states“ bezeichnet. Bis heute existieren in den Ländern starke tribalistische Gesellschaftsformen und -klassen, die sich westlichen Bedingungen ökonomischer Entwicklung und der damit verbundenen nationalen Modernisierung widersetzen. Die Integration des Nahen Ostens in den kapitalistischen Weltmarkt gilt daher als noch nicht abgeschlossen. Und so befinden wir uns – auch 100 Jahre nach dem Fall des Osmanischen Reiches – noch immer in einem Kampf, um die Ordnung des Mittleren Ostens.
Saudisch-israelische Annäherung
Dieser Kampf hat 2020 mit Blick auf Palästina eine entscheidende Wendung bekommen. Die von Trump initiierte saudisch-israelische Allianz (Abraham Accords Declaration) sollte die Vormachtstellung im Nahen Osten einnehmen. Die fortschreitende Annäherung zwischen den arabischen Staaten und Israel drohte die Palästinafrage unter der Normalisierung der Beziehungen zu begraben. Auf diese Weise hätte die palästinensische Führung – die Autonomiebehörde in der West Bank und die Hamas in Gaza – massiv an Macht und Legitimation verloren.
Aufbauend darauf wurde im September 2023 auf dem G20-Gipfel in Neu Delhi das IMEC-Projekt beschlossen. Hierbei handelt es sich um ein Infrastrukturprojekt, das den Handel durch Transportrouten von Indien über Katar, Saudi-Arabien, Israel, Zypern und Griechenland intensivieren sollte. Der Ausbau einer direkten Verbindung von Südasien, über den Nahen Osten nach Europa (India-Middle East-Europe Economic Corridor – IMEC [Karte]) ist der Versuch, die Infrastrukturprojekte der chinesischen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) aufzuholen. Die USA sind zwar formal nicht Teil des Vorhabens. Doch sie unterstützen das Projekt als ein Gegengewicht im Wettbewerb mit China um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt.
Die Rolle der Türkei
Doch das IMEC-Projekt stößt auch auf Gegnerschaft – wie beispielsweise von der Türkei. Der türkische Präsident Erdoğan drohte im Anschluss an den Gipfel in Neu Delhi, keine Projekte zu dulden, welche die Türkei als Handelspartner außen vor lassen. Als Gegenentwurf versucht das türkische Regime mit dem Iraq-Development-Project selbst eine Infrastrukturalternative aufzubauen. Das Projekt stellt eine Handels- und Kommunikationsroute von Basra im Südirak über den Norden durch die südkurdischen Gebiete in die Türkei und dann weiter nach Europa dar [Karte]. Erdoğans Projekt ist jedoch äußerst fragil. Einerseits, weil der Irak mit seinen Milizen und korrupten staatlichen Apparaten als Partner höchst unzuverlässig ist. Andererseits, weil das Projekt durch die kurdische Guerillagebiete in den nordirakischen Bergen verlaufen soll. Hier schafft es der türkische Staat seit Jahren nicht – unter anderem trotz des Einsatzes verbotener Chemiewaffen –, den Widerstand zu durchbrechen.
Die Angriffe des 7.Oktobers 2023 wurden von Erdoğan daher auch wenig überraschend mit Wohlwollen aufgenommen. Nicht nur weil er ideologisch ein Antisemit ist, sondern weil durch den Krieg im Nahen Osten die IMEC-Pläne ins Wanken gerieten und aufgeschoben werden mussten. Dass die Hamas-Führung auch politisch-ideologisch eng mit Ankara verbunden sein dürfte, zeigen die regelmäßige Besuche von Hamas-Funktionären in der Türkei. Unklar bleibt, wie weit die inoffizielle Beziehung zwischen Türkei und Hamas auf logistischer, finanzieller und geheimdienstlicher Ebene geht.
Chaos und die Neuordnung des Nahen Ostens
Das kapitalistische Weltsystem ist derzeit in einer tiefen Krise. Unsere Ära ist geprägt vom Rennen um die Kontrolle über Gebiete, Ressourcen und Routen. Es ging nie nur um Angriffskriege und Völkerrecht – auch nicht in der Ukraine –, sondern darum, wer seine (geo-)strategischen Interessen durchsetzen und weiter ausbauen kann.
In Anbetracht dessen befinden wir uns derzeit in einem zerbrechlichen Übergang zu einer multipolaren Weltordnung, in der um regionale Dominanz und um das Durchsetzen neuer Allianzen gekämpft wird. Die bedeutendsten Fraktionen des US-Imperialismus rüsten derzeit für eine globale Auseinandersetzung mit dem chinesischen Imperialismus auf. Sie wollen eine Konkurrenz auf Augenhöhe verhindern. Personalisiert ist diese Strategie durch Donald Trumps Handels- und Zollkrieg. Es findet eine Kräfteverlagerung des US-Imperialismus weg von Europa und dem Nahen Osten, hin zu China statt. Dadurch entstehen nicht nur neue Spielräume für Regionalmächte. Die Konflikte zwischen diesen Regionalmächten nehmen auch zu.
So hat etwa das Netanyahu-Regime den Angriff der Hamas dankend zum Anlass genommen, die Gewaltspirale zu eskalieren und die Region ins Chaos zu stürzen. Der Gaza-Krieg hat es nicht nur geschafft, die Hamas fast vollkommen auszuschalten, sondern auch Irans „Achse des Widerstandes“, zu der die Hezbollah im Libanon, die iranischen Proxies in Syrien und die Ansar Allah (Huthis) im Jemen gehören, zum Einstürzen gebracht. In eben dieser Gemengelage strebt die von den USA unterstützte israelische Führung eine Neuordnung des Nahen Ostens an, um seine hegemoniale Stellung als Regionalmacht endgültig zu festigen. Doch ob die eskalative Strategie die vorangebrachten nationalen Sicherheitsinteressen Israels wirklich helfen, bleibt zu bezweifeln. Vielmehr könnte diese ungeahnte Brüche hervorbringen und sich ins Gegenteil wenden. Aufgrund der ausufernden Gewalt scheint Israel als zuverlässiger Partner in Projekten wie dem IMEC an Zustimmung und Glaubwürdigkeit zu verlieren [Karte: Trade routes to Europe from India via the Middle East].
Ressourcenreicher Iran
Im Nahen Osten sind die imperialistischen Bestrebungen des Irans, regionale Hegemoniemacht zu werden, der größte Kontrahent des US-Imperialismus und seiner Verbündeten Israel und Saudi-Arabien. Iran, ein Land mit einer langen zivilisatorischen Geschichte und immensen Bodenschätzen, verfügt nach Russland die meisten Erdöl- und Gasreserven. Wer diese kontrollieren kann, kontrolliert die Region.
Auch wird der Iran von Russland und China unterstützt. Sie versuchen ihrerseits, ihre Einflusssphäre zu erweitern und die westliche Expansion zu verhindern. Für die USA ergibt sich gerade also eine Chance, einen Regimewechsel im Iran herbeizuführen und die Allianzen mit China und Russland zu kappen und somit Kontrolle über dieses Gebiet zu erlangen. Es geht den USA nicht um die Befreiung der Bevölkerung von der Gewalt und Repression des Mullah-Regimes.
Politik und Medien im Westen scheinen bereits den Shah Sohn Reza Pahlavi als Nachfolger zu handhaben. Dieser präsentierte bereits öffentlich seine Übergangspläne für die ersten 100 Tage nach einem möglichen Fall Khameinis. Von ihm wäre keine weniger nationalistische und unterdrückerische Politik gegenüber Opposition und Minderheiten zu erwarten. Wer die Angriffe auf den Iran mit „Jin Jiyan Azadi“ bejubelt und glaubt, dass sie der Sicherheit der Menschen im Mittleren Osten dienen, der gibt jeglichen Anspruch auf Emanzipation und Befreiung auf.
Die notwendige Rückkehr des Anti-Imperialismus
Die polit-ökonomischen Verhältnisse im Nahen Osten sind extrem komplex und vielschichtig. Die Karten für Macht und Einfluss werden gerade neu gemischt. In dieser Phase sollte sich die Position einer revolutionären Linken gegen jeden imperialen Krieg richten – sei es von den USA und Israel oder aber durch den Iran und Russland. Diese Kriege tragen weder zur Stabilisierung der Region bei, noch dienen sie der Sicherheit der Bevölkerung. Im Vordergrund stehen vielmehr die Absicherung kapitalistischer Bestrebungen und geopolitischer Interessen. Es ist die politische Elite, die von ihren Regierungssitzen und Villen aus zum Krieg rufen. Und es ist die zivile Bevölkerung, die mit ihrem Leben zahlt – Palästinenser*innen, Israelis, Kurd*innen, Perser*innen, Armenier*innen, Baluch*innen etc.
Aus europäischer Perspektive gilt es, die nationale und europaweite Aufrüstung zu blockieren sowie jegliche kriegstreiberischen Unterstützungen des Westens in Israel und dem Nahen Osten zu verurteilen. Es gilt Kriegspropaganda, die ideologisch (nationalistisch, religiös-fundamentalistisch) aufgeladen ist, und Diskurse um Sicherheit, Terrorismus oder nukleare Bedrohung mit den materiellen Interessen der Akteure kritisch zu hinterfragen.
Jenseits nationalstaatlicher Gebilde
Die Positionierung als Linke hierzulande, die solidarisch mit den Menschen im Nahen Osten stehen, sollte eine sein, die sich im Zuge der multipolaren Neuordnung gegen jede imperialen und nationalistischen Interessen stellt und nach Alternativen außerhalb dieser Blöcke sucht. Ein Regimewechsel kann nur von der eigenen Bevölkerung herbeigeführt werden und ein Freiheitskampf nur von den Kräften angeführt werden, die sich nach sozialistischen, demokratischen, pluralistischen und frauenbefreienden Werten orientiert.
Die nationalstaatliche Ordnung, die durch die kolonialen Mächte im Nahen Osten errichtet wurde, hat die Vielfalt zerstört und tiefe Risse durch die Gesellschaften gezogen. Gestärkt werden müssen daher jene Kräfte, die sich gegen imperiale Einmischung richten und für Frieden und Ko-Existenz jenseits nationalstaatlicher Gebilde einstehen. Die Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) im Westen des Irans ruft in ihrem Statement dazu auf, auf die Kraft der Selbstorganisierung der Gesellschaft zu vertrauen und Verteidigungs- und Hilfskommittees zu gründen. Ihre jahrzehntelange Organisierung im Untergrund könnte die nötige Erfahrung und Kraft mitbringen, die ein Zurückdrängen des iranischen Regimes effektiv möglich machen. Zu hoffen wäre es.
Titelbild: tipinfo

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