Friedens-Debatte: „Die politische Intelligenz der Bevölkerung übersteigt die der Eliten“

Fast vier Monate hält der Krieg in der Ukraine bereits an. Und immer noch dominieren bellizistische Stimmen die öffentliche Debatte. Über den kriegstreiberischen Charakter des Liberalismus und den Versuch, andere Stimmen hörbar zu machen, spricht Walter Baier, Mitinitiator des Friedensbriefs, im Interview.

mosaik: Du hast gemeinsam mit einer Reihe von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur einen „Friedensbrief“ initiiert. Was wollt ihr damit erreichen?

Walter Baier: Marlene Streeruwitz hat das Handbuch gegen den Krieg publiziert. Im Anschluss an eine Buchpräsentation hatten wir die Idee, gemeinsam etwas gegen die kriegstreiberische Stimmung zu unternehmen. Denn diese Stimmung macht eine vernünftige Diskussion über den Krieg unmöglich, zerstört die Kultur und verstellt die Sicht auf eine friedliche Lösung.

Jetzt ist unser Ziel  erst einmal, Leute zu sammeln, die das auch so sehen. Es ist beeindruckend, wie viele unterschiedliche Menschen an so einem Austausch interessiert sind.

Wir stellen in keiner Weise den verbrecherischen Charakter des russischen Angriffskrieges in Frage. Wir wollen aber denen widersprechen, die meinen, dass der Krieg bis zum Sieg der einen und der Niederlage der anderen Seite weitergeführt werden muss. Was wir wollen ist, jene Stimmen hörbar zu machen, die auf einen raschen Waffenstillstand drängen und für nachhaltige Friedensverhandlungen eintreten.

In dem Brief betont ihr die österreichische Neutralität. Was macht die Neutralität heute aus und welche Rolle spielt sie noch?

Neutralität im völkerrechtlichen Sinn bedeutet, nicht Teil eines Militärbündnisses zu sein und daher keine entsprechenden Verpflichtungen einzugehen. Man muss sich klarmachen, dass in mehreren NATO-Mitgliedstaaten US-amerikanische Atomwaffen stationiert sind. Das bedeutet, dass diese Länder und ihre Bevölkerung eine Gefahr auf sich nehmen, die mit kaum einer anderen militärischen Gefahr vergleichbar ist. Atomwaffenstützpunkte stellen nun einmal Angriffsziele dar. Dazu kommt, dass Österreich als neutrales Land auch nicht dazu verpflichtet werden kann, zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Rüstung zu stecken.

Was für Möglichkeiten sich für Österreich als neutrales und nicht paktgebundenes Land ergeben, kann man diese Tage an der Konferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag sehen. Auf der Konferenz geht es darum, dass die Länder, die keine Atomwaffen haben, die Nase voll davon haben, dass Atommächte von Abrüstung reden, während sie ihre Atomwaffen beständig modernisieren und damit gefährlicher machen. Österreich und die anderen teilnehmenden Staaten verpflichten sich daher völkerrechtlich dazu, selbst keine Atomwaffen zu besitzen, zu erwerben, zu testen oder zu stationieren. Und sie verlangen von den Atommächten diesen Status anzuerkennen und zu garantieren, sie nicht mit Atomwaffen anzugreifen oder zu bedrohen. Österreich hat gemeinsam mit anderen paktfreien Staaten bei der Formulierung dieses Vertrages eine zentrale Rolle gespielt.

Ein anderes aktuelles Beispiel, sind die Verhandlungen mit dem Iran. Sie haben zum Ziel, das Atomwaffenprogramm des Iran zu beenden und die Sanktionen gegen den Iran aufzuheben. Auch diese Verhandlungen finden in Wien statt. Es braucht Orte der Begegnung, des Diskurses und der Vermittlung. Das macht sowohl die Welt sicherer als auch das Land, das diese Orte zur Verfügung stellt.

Liberale und linksliberale Stimmen überschlagen sich in der Kriegsbegeisterung. Sie wollen immer mehr Waffen, immer neue Sanktionen sehen. Woraus speist sich deines Erachtens diese Begeisterung?

Erstens war der Liberalismus immer geneigt, den Krieg als Mittel der Politik einzusetzen. Das war vor dem ersten Weltkrieg nicht anders. Natürlich gab es historisch, etwa mit Bertha von Suttner, eine andere Strömung im Liberalismus, aber die Mehrheit der Liberalen war pro-imperialistisch und bellizistisch.

Der zweite und aktuelle Aspekt ist, dass es mit der Regierungsübernahme der Biden-Administration den Übergang zu einer neuen Globalstrategie der USA und der westeuropäischen Eliten gibt. Sie sind jetzt bereit, die großen Transformationen der Weltwirtschaft mit militärischen Mitteln oder zumindest der Androhung militärischer Mittel zu beantworten. Im Vordergrund der Aufrüstung der Ukraine durch die NATO und die USA steht nicht die Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit, sondern die Strategie, den Krieg in die Länge zu ziehen. Dabei geht es nicht nur um die russische Föderation, sondern die sich abzeichnete Konfrontation zwischen den USA und China. Das wird in der ideologischen Begründung deutlich, in der der aktuelle Krieg als Auseinandersetzung zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus stilisiert wird. Eine Konfrontation, in der auch die Türkei oder Saudi-Arabien in die westliche Wertgemeinschaft eingemeindet werden.

Bemerkenswert ist die Rolle der Spitzen der Grünen in Deutschland und Österreich. Es wird deutlich, dass sie sich in liberale Parteien mit einer verdünnten ökologischen Agenda verwandelt haben.

Was unterscheidet die Linke vom von dir skizzierten Liberalismus?

Ich spreche lieber von der sozialistischen Linken, denn der Begriff Linke legt nahe, dass es eine gemeinsame Identität von linksliberal bis linksradikal gibt, die sich nur durch den Grad der Radikalität unterscheidet. Das verdeckt, dass innerhalb dieses Spektrums ganz klare Klassenlinien verlaufen. Die Liberalen sind auf der einen Seite dieser Linie und die Sozialist*innen und Kommunist*innen auf der anderen. Das ändert nichts daran, dass wir gemeinsam mit Linksliberalen gegen Nazis, Rassismus, für Menschenrechte oder LGBTIQ+-Rechte eintreten. Aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass der Liberalismus keine Ideologie der reichen Eliten und derer, die zu ihnen aufzusteigen wollen, wäre.

Und wie kann die sozialistische Linke in dieser Situation der Konfrontation handeln?

Sie muss die kolonialistischen und rassistischen Interpretationen der gegenwärtigen und absehbaren weltpolitischen Konflikte denunzieren. Ihre Aufgabe ist es, einen Weg der Transformation der Weltgesellschaft unter Ausschluss kriegerischer Mittel zu finden. Das heißt eine soziale und ökologische Transformation, die die Macht- und Eigentumsverhältnisse grundlegend verändert und dabei sicherstellt, dass dieser Weg nicht in einer Serie kriegerischer Auseinandersetzungen endet.

Welche Rolle nimmt die extreme Rechte dabei ein?

Wir erleben aktuell den Zusammenbruch einer globalen Ordnung. Eine Situation, in der wie Gramsci zitiert, das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann und die durch eine Reihe „morbider Symptome“ gekennzeichnet ist. Der Putinismus, Trump, genauso, wie Le Pen, AFD und alle anderen Nationalismen, die heute ihre Machtansprüche stellen, sind die morbiden Symptome. Man muss gegen beides vehement kämpfen. Denn weder die Nationalismen noch die Universalisierung des liberalen Kapitalismusmodells bieten Antworten auf die großen Krisen unserer Zeit.

Die Kräfteverhältnisse für sozialistische Positionen sind zurzeit nicht gerade vorteilhaft. Zugleich wird aber auch erkennbar, dass die sozial-ökologische Transformation grundlegende Eingriffe in die Produktions- und Konsumtionsweise erfordert und in eine sozialistische Richtung weist.

Allen Umfragen zufolge ist eine große Mehrheit der Bevölkerung in Österreich für die Neutralität. Im öffentlichen Diskurs dominieren aber aktuell Stimmen, die eine Eskalation des Krieges und einen Anschluss an die NATO fordern. Kann diese Kluft ein Ansatzpunkt für den Aufbau einer Friedensbewegung in Österreich sein?

Absolut, die politische Intelligenz der Bevölkerung übersteigt die der Eliten bei weitem. Jeder Mensch begreift, dass wir keinen Atomkrieg riskieren dürfen. Und jeder Mensch begreift, dass das tägliche Sterben von hunderten Soldaten in der Ukraine und Russland schnellstmöglich beendet werden muss. Es ist das eine, den völkerrechtswidrigen Krieg Putins zu verurteilen. Das andere ist, sich zu fragen, wie der Krieg beendet werden kann. Vorschläge dazu liegen, etwa in Form des Plans, den der italienische Ministerpräsident Mario Draghi unterbreitet hat, auf dem Tisch. Sie könnten den Ausgangspunkt für Verhandlungen bilden.

Dieser Krieg wirkt humanitäts- und vernunftzerstörend. Wir können uns nicht wie bei einem Ländermatch verhalten, bei dem die einen zur einen Mannschaft halten und die anderen zur anderen, während Menschen sterben. Gut ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen Zynismus nicht teilt. Dem wollen wir mit unserem Friedensbrief einen Ausdruck geben.

Interview: Martin Konecny

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