Sehr geehrte Redakteurinnen und Redakteure!
Es ist schon wieder geschehen. Wieder sind Menschen an den Grenzen der Europäischen Union qualvoll ertrunken. Wieder dieselben Schlagzeilen. Wieder die Steigerung der namenlosen Zahl toter Flüchtlinge. Über 1.000 Opfer zählen wir heute, innerhalb von nur ein paar Tagen. Die mehrheitlich sehr kurz greifenden medialen Darstellungen zu den fast 30.000 Toten seit dem Jahr 2000 veranlassen mich, diesen Brief zu schreiben. Elisa Ludwig über Medien und ihre Verantwortung (eine frühere Fassung des Texts erschien hier).
Diese Zeilen entstehen nicht, weil Sie Ihrer bloßen Berichtspflicht nicht nachkommen. Dieser Brief möchte Sie daran erinnern, Ihrem ganzen Auftrag gerecht zu werden. Als „Vierte Gewalt“ haben Sie unschätzbare Macht wenn es darum geht, die Bevölkerung tiefgreifend aufzuklären, öffentliche Debatten in Gang zu setzen und damit den zivilgesellschaftlichen Druck auf die Regierenden zu aktivieren. Niemals war dieser Druck notwendiger als jetzt, in Zeiten der Krise.
Wir befinden uns in einer Krise, wenn Woche für Woche vorhersehbare Todesmeldungen über uns herein brechen und einer der reichsten Gesellschaften der Welt kaum etwas anderes übrig zu bleiben scheint, als in Trauer, Apathie oder im Schock zu verharren. Wir befinden uns in einer Krise, wenn dominante Medien- und Politikschaffende glauben, ihrer Verpflichtung genüge zu tun, wenn sie bloß über Zahlen sprechen, nicht aber Hintergründe aufzeigen. Die Krise wird zudem angeheizt, wenn keine Aussicht auf Veränderung existiert und wenn weder über klare Verantwortungsübernahme, noch über sinnvolle Lösungsvorschläge gesprochen wird. Es ist auch deshalb eine Krise der Medien: Weil einem seltenen Flugzeugabsturz enorm viel mehr Platz eingeräumt wird, als jenen Menschen, die auf der Flucht nach Europa systematisch sterben müssen. Und vor allem befinden wir uns in einer demokratiepolitischen und ethischen Krise, wenn die Mächtigsten innerhalb unseres Landes offensichtlich davon ausgehen, dass unzählige politische Tote ohne gesellschaftlichen Schaden einfach hingenommen werden können.
Diese Krise könnte uns die Möglichkeit eröffnen, neue Wege des Zusammenlebens auf unserer Welt zu diskutieren. Doch dazu brauchen wir pro-aktive, Bewusstsein fördernde und kritikfähige Medien, die sich nicht damit begnügen, eine klanglose Statistik nach der anderen zu publizieren. Dazu brauchen wir Medien, die Folgendes verstehen: Das Gegenwärtige ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Teil unserer Geschichte. Einer Geschichte mit wichtigen Zusammenhängen, die auch nachvollzogen werden müssen, über die auch berichtet werden muss: Damit wir als Einzelne und als Gesellschaft aus unseren Fehlern lernen können.
Andernfalls wird das Gegenwärtige bleiben, wie es ist: Familien mit Kindern, Männer und Frauen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben, werden sich weiterhin zu Zigtausenden auf den Weg in den sicheren Tod begeben – wenn wir uns der österreichisch-europäischen Maßnahmen nicht bewusst werden, die einen enormen Beitrag dazu leisten, dass die Krise (weltweit) existiert. Und das, geehrte Medienschaffende, ist auch ein Teil Ihrer Arbeit. Ich meine, es zählt zum Wichtigsten, was Sie bereit stellen können: Reflexion und Diskussion – in historischer, gesellschaftspolitischer, wirtschaftlicher Perspektive. Welches Ziel verfolgen Sie als Redakteurinnen und Redakteure? Jenes, das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein zu stärken? Verantwortungsübernahme zu befähigen? Zukunftsaussichten zur Diskussion zu stellen? Wer denken Sie, ist Ihre Zielgruppe? Mündige Bürgerinnen und Bürger? Das hoffe ich, inständig. Vor allem in so schwierigen Zeiten.
In tiefer Bestürzung, auch über Ihr Schweigen,
Elisa Ludwig
Ein Kind von Flüchtlingen, die nicht im Meer ertrunken sind.