Nach dem Scheitern SYRIZAs hinterfragt die europäische Linke ihre Positionen zu Euro und EU. Etienne Schneider reagiert auf die aktuelle Debatte zum Lexit, dem Linken Exit. Er meint: Die Debatte um einen Austritt ist notwendig, aber ein Lexit ist kein Wundermittel.
Der Schock sitzt noch immer tief: Vom Wahlsieg SYRIZAs und dem OXI beflügelt, zerbrachen die Hoffnungen der europäischen Linken auf einen Bruch mit der Austeritätspolitik. Kaum jemand hatte geglaubt, dass ein Kurswechsel leicht durchzusetzen sein würde. Doch nur die Wenigsten hätten es für möglich gehalten, wie offen und kaltblütig Eurogruppe und EZB gegen eine demokratisch gewählte Regierung vorgehen würden, um diese zu erpressen und letztlich in die Knie zu zwingen.
Es ist richtig und wichtig, dass die Linke seither überall in Europa ihre bisherige Haltung zu EU und Euro radikal in Frage stellt. Cristina Asensi trifft in ihrem mosaik-Beitrag den Nagel auf dem Kopf: Die EU und der Euro sind keine Institutionen zur Zähmung globalisierter Märkte, sondern das genaue Gegenteil. Sie sind politische Formen zur Durchsetzung und Entfesselung des globalen Neoliberalismus in Europa. Obwohl sich die wenigsten Illusionen über den neoliberalen Charakter der EU und des Euro machten, bestand die vorherrschende Strategie der europäischen Linken lange darin, die EU reformieren zu wollen: Demokratisierung, soziale Konvergenz, Solidarität und Umverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Regionen. Dazu mangelt es nicht an Vorschlägen. Ganze Bücherregale lassen sich mit durchdachten und ausgefeilten Arbeiten füllen, wie sich die europäische Integration grundlegend progressiv umgestalten oder gleich vollständig neu von unten begründen ließe.
Progressive EU ist unrealistisch
Das Problem ist nur: Angesichts der aktuellen politischen Kräfteverhältnisse in Europa haben diese Ansätze keine Chance, sich durchzusetzen. Sie sind dazu verdammt, gedankliche Modellkonstruktionen zu bleiben. Die bisherige neoliberale Integration hat derartig starke Ungleichgewichte hervorgebracht, dass sich nicht nur die Krise, sondern auch die politischen Konstellationen in Europa ungleich und ungleichzeitig entwickeln. Wer auf die Reform der gesamten EU setzt, muss darauf hoffen, dass sich in absehbarer Zeit überall gleichzeitig, vor allem in den politisch entscheidenden Ländern Deutschland und Frankreich, linke Mehrheiten ergeben.
Wenn wir uns selbst und unsere begrenzten Kräfte ernst nehmen und in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren wirkliche Alternativen durchsetzen wollen, müssen wir uns ehrlich eingestehen: Ein solches Szenario als Vorbedingung einer linken Reform von EU und Euro ist schlichtweg nicht realistisch.
Deshalb müssen wir, wie Cristina Asensi und viele andere vorschlagen, über Strategien eines ‚Linken Exit‘ nachdenken. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir Alternativen gegen und außerhalb von EU und Euro entwickeln können. Dies gilt gerade aus Sicht der südeuropäischen Peripherie (Griechenland, Portugal, Spanien), wo linke Kräfte derzeit am stärksten und die Erpressungsmöglichkeiten von EZB und Eurogruppe am größten sind.
Lexit alleine reicht nicht
Aber: Der Bruch mit dem Euro wäre nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für Alternativen. Manche Lexit-Diskussionen vermitteln den Eindruck, mit dem Euro-Austritt, der Einführung eigener Währungen und dem Rückgewinn einer eigenständigen Geldpolitik wäre der entscheidende Schritt bereits getan. Das Gegenteil ist der Fall: Die wirklich schwierigen Probleme fangen hier erst an.
Was würde ein Austritt bringen? Eine eigenständige Zentralbank kann das Bankensystem selbst mit Liquidität versorgen, d.h. der EZB und Eurogruppe jenes Erpressungsinstrument aus der Hand nehmen, das sie gegen SYRIZA einsetzten. Darüber hinaus hätte der Lexit aus Sicht seiner BefürworterInnen vor allem drei Vorteile:
1. Eine eigene Währung lässt sich abwerten. So würden Exporte im Ausland, wie auch Tourismus für AusländerInnen günstiger. Damit verbessert sich die so genannte preisliche Wettbewerbsfähigkeit.
2. Eine eigenständige Zentralbank kann das Kreditsystem gezielt steuern und regulieren und so Investitionen in bestimmte Bereiche anregen oder spekulative Blasenbildung unterbinden.
3. Der öffentliche Investitionsspielraum würde sich vergrößern, da außerhalb des Euro ein einseitiger Schuldenschnitt möglich ist. Zudem gäbe es – anders als im Eurosystem – die Möglichkeit, dass sich die öffentlichen Haushalte direkt bei der Zentralbank verschulden.
Die Probleme fangen erst an
Dem Rückgewinn wirtschaftspolitischer Souveränität stehen aber schwerwiegende Einschränkungen gegenüber, die sich aus den ‚Sachzwängen‘ des Weltmarkts ergeben. Diese Sachzwänge wurden im Zuge der neoliberalen Globalisierung zwar politisch hergestellt, sie sind deshalb aber nicht minder wirksam.
1. Bei einer Währungsabwertung verteuern sich auch die Importe. Im besten Fall regt das den Ersatz durch eigene Produktion an. Gerade aus Sicht der südeuropäischen Peripherie können viele Importe aber gar nicht ersetzt werden, weil dazu schlichtweg die entsprechenden Produktionskapazitäten fehlen. Um diese aufzubauen und Importabhängigkeiten zu überwinden, müssten zuerst Produktionsmittel wie Maschinen importiert werden. Hierfür müsste gleichzeitig die Einfuhr von Konsumartikeln und damit der bisherige Lebensstandard vieler Menschen über längere Zeit eingeschränkt werden – zumindest dann, wenn eine starke Außenverschuldung vermieden werden soll.
2. Eine eigenständige Zentralbank wäre zwar formal unabhängig, könnte bei uneingeschränktem Kapitalverkehr de facto aber nur in Abhängigkeit von den Zentralbanken der wichtigsten globalen Währungen agieren: Um Kapitalabfluss zu verhindern, müsste sie das Zinsniveau über jenem der dominanten Währungen halten. Hohe Zinsen blockieren allerdings Investitionen, solange das Kreditsystem unter privatwirtschaftlicher Kontrolle steht. Um geldpolitische Spielräume zu gewinnen, bräuchte es also nicht nur eine eigene Währung, sondern auch strikte Kapitalverkehrskontrollen. Diese erfordern die Bereitschaft, zusätzlich zum Euro auch mit dem europäischen Binnenmarkt zu brechen und handelspolitische Gegenreaktionen in Kauf zu nehmen.
3. Ein einseitiger Schuldenschnitt würde die Schuldenbelastung zunächst senken. Die erwartbare Abwertung der neuen Währung würde aber die verbleibende Außenverschuldung in Fremdwährung wiederum erhöhen. Je umfassender die Schulden gestrichen würden, desto schwieriger wäre es zudem, überhaupt noch internationale Kreditgeber zu finden. Verliert ein Land die Möglichkeit, sich zu akzeptablen Bedingungen im Ausland zu verschulden, kann es immer nur so viel importieren wie es exportiert. Damit verkleinert sich auch der Spielraum für den Import wichtiger Produktionsmittel, mit denen sich Importabhängigkeiten auf lange Sicht überwinden lassen.
Lexit: Keine Antwort
Der Lexit wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Zwar lassen sich prinzipiell viele wirtschaftspolitische Instrumente auf die nationalstaatliche Ebene zurückholen. Die realen Spielräume wären aber trotz formaler Eigenständigkeit stark eingeschränkt – vor allem aus der Sicht von kleineren, peripheren Ländern wie Griechenland oder Portugal. Das macht die Lexit-Strategie zu einem äußerst riskanten Unterfangen. Ihr Scheitern würde nicht nur die Linke auf Jahrzehnte diskreditieren, sondern auch den Boden für eine noch radikalere Durchsetzung des Neoliberalismus oder gar den Aufstieg neofaschistischer Kräfte bereiten.
Wenn wir uns politisch nicht selbst lähmen wollen, indem wir weiter an Reformentwürfen für und Forderungen an eine bereits zerfallende EU festhalten, dürfen diese Risiken kein prinzipielles Argument gegen den Lexit sein. Sie begründen jedoch ein großes Aber: Ohne Konzepte und Strategien, wie ein progressiver Kurswechsel außenwirtschaftlich abgesichert und die Produktion sozial-ökologisch umgebaut werden kann, ist mit einem Austritt wenig bis nichts gewonnen. Deshalb sollten wir nicht mit der Austrittsfrage anfangen oder sie gar zum Kern unserer Strategie machen. Aber wir sollten im entscheidenden Moment darauf vorbereitet sein.
Alternativen ausarbeiten
Jenseits der Währungsfrage gibt es gewaltige wirtschafts-, handels-, industrie- und entwicklungspolitische Probleme, die die Linke außerhalb Europas schon lange beschäftigen. In der europäischen und vor allem deutschsprachigen Lexit-Diskussion spielt dies bisher eine untergeordnete Rolle. Viele damit verbundene Fragen erscheinen zunächst technisch. Wir müssen uns ihnen stellen und Strategien ausarbeiten, wie wir trotz ungünstiger Bedingungen Alternativen wirklich durchsetzen können. Nur so können wir dem linken Projekt vielleicht einen Teil jener Überzeugungskraft zurückgeben, die es angesichts der historischen Niederlagen und Verirrungen der letzten Jahrzehnte verloren hat.
Etienne Schneider ist Politikwissenschaftler, forscht zur Politischen Ökonomie der Eurokrise und ist Redakteur der Zeitschrift PROKLA.
Dieser Beitrag ist Teil der EU-Debatte auf mosaik. Bisher sind Beiträge von Cristina Asensi und Kurt Bayer erschienen.