Es geht nicht nur um Griechenland

Das heutige Desaster der europäischen Griechenland-Politik ist „nur“ die riesige Spitze eines Eisbergs, die in der Lage ist, die gesamte Eurozone in die Tiefe des Meeres hinabzuziehen. Ohne die langjährige Misswirtschaft in Griechenland beschönigen zu wollen, ohne die strategische Hilflosigkeit der griechischen Syrizaregierung beschönigen zu wollen, liegt der Kern des Problems in der einseitig auf Austerität ausgerichteten Wirtschaftspolitik für alle EU-Länder. Es braucht eine wirtschaftspolitische Wende für Europa erklärt Kurt Bayer. 

Waren deren negative Folgen auch schon vor der Krise in einigen Ländern sichtbar, so ist der Misserfolg dieser Politikausrichtung in der Krise für alle, die Augen und Ohren haben, mehr als deutlich sichtbar geworden.

Im Gegensatz zu den USA und Japan, die in unterschiedlichem Ausmaß die Krise überwunden haben, gelingt es der Eurozone erst 2015 (wenn die Prognosen eintreffen) das BIP-Niveau von 2007 wieder zu erreichen. Die Arbeitslosigkeit ist stark angestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit noch viel mehr – nicht einmal das angegebene Ziel, die Schuldenquote der Euroländer mit dieser Politik zu reduzieren, ist gelungen. Im Gegenteil: Insgesamt ist die Schuldenquote heute um 15 Prozentpunkte höher als 2007. Und das sind nur Durchschnittszahlen: Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern, Irland, aber auch Italien, Frankreich dümpeln alle dahin (im besten Fall) oder erleben humanitäre Katastrophen, einen Rückbau des europäischen Wohlfahrtsstaates, Überliquidität bei Banken und Unternehmen und mit der extrem hohen Arbeitslosigkeit eine soziale und politische Zeitbombe, die den Zusammenhalt, die politische Stabilität und damit die Zukunftshoffnungen schwerstens gefährdet.

Es ist nicht verständlich, dass für die in der EU wirtschaftspolitisch Verantwortlichen das Versagen ihrer Krisenbekämpfungspolitik nicht zu einem Umdenken ihrer Politik geführt hat. In neoliberaler Arroganz nur darauf zu setzen, dass Lohnzurückhaltung, Exportüberschüsse und Arbeits- und Gütermarktreformen selbst zu weiterem Wachstum führen, hat sich als vollkommener Fehlschluss entpuppt. Die Weigerung der EU, die Investitionsschwäche (Investitionen sind heute um 30% niedriger als vor der Krise) durch Industriepolitik und andere investitionssteigernde Maßnahmen zu stärken, etwa öffentliche Investitionen aus den Regeln des Stabilitätspaktes herauszurechnen, erweist sich als fatal.

Der EU fehlen mittelfristige Strategien zur Steigerung der Wohlfahrt

Was die EU (und die Welt) braucht, ist eine neue mittelfristige Wirtschaftsstrategie, welche die drei Säulen Wirtschaft (Einkommen), sozialer Zusammenhalt (Arbeitsmarkt, Wohlfahrt, Verteilung) und Umwelt gemeinsam zu verbessern trachtet.

Die Lissabon-Strategie und die Europa-2020-Strategie konnten und können das nicht liefern. Das neu geschaffene Juncker-Investitionspaket, welches 315 Mrd. Euro über mehrere Jahre flüssig machen soll, ist ein richtiger Mini-Schritt, allerdings zu klein um wirklich Impulse zu setzen. Und er krankt an einem Grundwiderspruch: das Investitionsklima in der EU ist aufgrund der Konjunkturschwäche, der Turbulenzen auf den Finanzmärkten, teilweise auch der neuen Bankenregulierungen, besonders aber aufgrund der jahrelangen Austeritätspolitik so schlecht, dass ein „Pflaster“ wie Juncker-Investitionspaket da kaum florieren kann.

Krisenbekämpfung heißt Vorrang für das Gemeinwohl

Für Europa gilt es heute eine mittelfristige Wachstumsstrategie zu entwerfen, die eine Stärkung des typisch europäischen Wohlfahrtsmodells ermöglicht und die Lebenssituation der Europäerinnen verbessert. Eine sinnvolle Strategie muss dafür aktiv die weiter schwelende Krise bekämpfen, dabei aber gleich die Weichen für eine öko-soziale Wende stellen. Dies bedeutet zweierlei:

  • Ausgehend von der derzeitigen Situation muss zuallererst eine Krisenbewältigungsstrategie gefahren werden, die die schlimmsten Auswirkungen der Krise wirksam bekämpft, gleichzeitig aber Weichen für eine bessere Zukunft stellt.
  • Der Vorrang des Gemeinwohls mag für den einzelnen Einschränkungen bedeuten, die jedoch zugunsten einer gesellschaftlichen Perspektive auf die Nachhaltigkeit der Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsziele notwendig sind.

Bei einer solchen Strategie müssen Konflikte zwischen einzelnen Zielbereichen klar angesprochen und gemeinsam begriffen werden, denn in Europa ist der „Lebensqualitäts-Mix“ aus materiellen Einkommen, sozialem Zusammenhalt und intakter Umwelt unterschiedlich verteilt. Das Anerkennen solcher Interessenpositionen ist eine notwenige Voraussetzung, solche Konflikte pragmatisch zu lösen, etwa indem Verlierer entschädigt werden, aber auch, indem das gemeinsame Interesse an einer besseren Gesellschaft geweckt wird und als „fair“ betrachtete Lösungen angestrebt werden, die für alle Beteiligten zumindest akzeptabel sind, wenn schon nicht bevorzugt werden.

Für eine erfolgreiche mittelfristige Strategie müssen folgende Mittel Vorrang haben:

  • Eine expansive und öko-sozial ausgerichtete Investitionspolitik, die private Investitionen ermutigt und grundlegende Richtungsentscheidungen für die europäische Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt vorgibt. Dafür muss zuerst aber vor allem die Austeritätspolitik entsorgt werden – und die Ausrichtung der EU und Eurozone expansiv gestaltet werden.
  • Öffentliche Ausgabenstrukturen sind in Hinblick auf ihre soziale, ökologische und wachstumsrelevante Wirksamkeit zu durchforsten. Dabei sind vor allem Subventionen mit sozial oder umweltschädlich negativen Auswirkungen zu streichen und – wo sinnvoll – durch solche mit positiven Auswirkungen zu ersetzen (z.B. Subventionen für fossile Brennstoffe durch solche für erneuerbare Energieträger (ohne Atomkraft)).
  • Steuersysteme müssen von der zu hohen Besteuerung der Arbeit entlastet werden und durch Steuern auf CO2, auf Finanztransaktionen, auf umweltschädliches Verhalten ersetzt werden, sowie insgesamt einer stärkeren Progression (vor allem bei hohen Einkommen und Vermögen) unterworfen werden.
  • Die Forschungsförderung in Europa muss den Vorsprung, den Europa in umweltfreundlicher, energieeffizienter und materialsparender Produktionsweise erreicht hat, stark weiter ausbauen, sowie klimaschonendes Handeln erleichtern. Technischer Fortschritt allein wird zwar weder die ökonomischen noch die sozialen und Umweltprobleme lösen, stellt aber dennoch einen sehr wichtigen Treiber einer solchen mittelfristigen Wachstumsstrategie dar.
  • Um eine solche Strategie, welche auf EU-Ebene vorgegeben, aber von den Mitgliedstaaten je nach deren Umständen ausgefüllt und umgesetzt wird, erfolgreich auf den Weg zu bringen, müssen auch die Governance-Strukturen und die Abstimmungserfordernisse auf EU und Euro-Ebene überdacht werden, ebenso wie die Zusammenarbeit zwischen Parlament, Rat und Kommission.
  • Auch gibt es Länder in der Eurozone, wie Deutschland, Österreich, Belgien, Holland, welche massive Exportüberschüsse in Drittländern erzielen. Diese Länder hätten genug ökonomischen Spielraum, die europäische Binnennachfrage anzukurbeln, indem sie ihre eigene Löhne erhöhen, Investitionsprogramme finanzieren und sich nicht nur auf die Lohnkonkurrenz von globalen Billigproduzenten ausreden, mit „denen sie wettbewerbsfähig bleiben müssten“.

Es ist absurd, dass eine gezielte Eurogruppen-Wirtschaftspolitik für das 12-Billionen-Euro-Schwergewicht Eurozone nicht existiert, sondern nur eine für die einzelnen Mitgliedsländer. Dadurch wird dem wichtigen Faktor der „Inlandsnachfrage“ der Eurozone keine Aufmerksamkeit zuteil, sondern einzelne Länder sollen jeweils den „best practices“ ihrer EU-/Eurozonen-Kollegen nacheifern.

Das Riesendilemma dieser Politikverfehlung, die viele Menschen die Existenz und die Zukunftshoffnung kostet, ist: Trotz offensichtlicher Zielverfehlung hält die Eurozone (und auch die EU insgesamt) weiterhin an dieser Politik fest! Was muss noch passieren, zusätzlich zum Desaster in Griechenland, zusätzlich zum Aufstieg der fremdenfeindlichen rechtsextremen EU-Gegner, dass die europäischen Eliten zur Einsicht kommen, dass ihre dogmatische Politik verfehlt ist?

Kurt Bayer, Studien Jus (Graz), Ökonomie (Maryland, USA), Englisch (Graz), 25 Jahre Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, 10 Jahre Bundesministerium für Finanzen (zuständig für Wirtschaftspolitik, EU und Internationale Finanzinstitutionen), 2 Jahre Weltbank (Washington, D.C.), 5 Jahre Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (London), derzeit freier Wirtschaftspublizist

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