Corona und der Schmäh von der Eigenverantwortung

Fotos von langen Schlangen vor Einkaufszentren dominieren die sozialen Netzwerke. Dabei übersehen wir die gesamtgesellschaftliche Dimension von Corona und reproduzieren jenes gefährliche Bild, das seit Jahren den politischen Diskurs beherrscht: das der unverantwortlichen Einzelperson, schreibt Jakob Rennhofer.

Nicht nur kommunikativ ist das Verhalten der Regierung in den letzten Wochen in vielerlei Hinsicht katastrophal gewesen. Die inhaltliche Qualität der Verordnungen, die aus dem Gesundheitsministerium kommen, ist immer noch so mangelhaft wie in den ersten Monaten der Pandemie. Das ständige „Hin und her“ bei der Ankündigung von Maßnahmen führt zu vollkommener Verwirrung innerhalb der Bevölkerung. Und der leicht schizophrene Kommunikationsstil der Regierung macht die Sache auch nicht leichter. Um über diese Verwirrung hinwegzutäuschen, schiebt die Regierung in Österreich geborene Schülerinnen unter martialischem Polizeiaufgebot mitten in der Nacht ab. Eine Aktion, der nicht mal große Teile des politischen rechtskonservativen Flügels etwas abgewinnen konnten. Angesichts dieser Tatsachen ist es wohl offenkundig, dass breite Teile der Bevölkerung bestimmte Maßnahmen nicht mehr mittragen. Ob bewusst oder unbewusst.

In Reaktion darauf lässt sich ein neues Bündnis von Konservativen und Liberalen erkennen, dessen Antwort lautet: Die Leute seien schlicht zu blöd, Corona-Regeln einzuhalten. Sie seien schuld an den hohen Infektionszahle und am Scheitern des Projekts „Eigenverantwortung“. Es wimmelt nur so von Fotos, die Menschen mit falsch aufliegender Maske zeigen oder von Nachrichtenmeldungen über Schlangen vor Einkaufszentren nach Ende des Lockdowns. Empörung lautet das Stichwort: „Schaut mal wie blöd diese Menschen sind, ich hab‘ euch ja gesagt, wir sind zu dumm zur Bewältigung der Pandemie!“

Leugnung als einzige Alternative

Als wäre dieser gesellschaftliche Nihilismus nicht schon schlimm genug, scheint die einzige große Meinungsalternative dazu das rechte Narrativ der Corona-Leugner zu sein, die mit Verschwörungstheorien flirten und ihr Fehlverhalten zum Akt des Widerstandes gegen einen herbeiphantasierten neuen Totalitarismus der Bundesregierung erklären. Dieses Bild scheint eine selbsterfüllende Prophezeiung der Regierung zu sein, indem sie zusätzliche Maßnahmen wie die „Demoverbote“ Ende Jänner ergreift. 

Können wir die Bevölkerung also in jene zwei Gruppen teilen? In ein tendenziell liberales Bürgertum, dass sich in der scheinbar moralischen Überlegenheit seiner Äußerungen badet? Und in eine Anti-Corona-Sekte, die jeglichen Realitätssinn für die Pandemie verloren hat? Es wäre ein Leichtes, diese Einteilung als gegeben hinzunehmen. Dieser Ansatz ist jedoch völlig blind für die gesamtgesellschaftliche Dimension der Problematik. Er vergisst den Großteil der Menschen, die sich zwischen Verantwortungsbewusstsein und dem Wunsch nach einer sozialen Normalität positionieren. Jene, die durch die katastrophale Kommunikation der Regierung verwirrt und zunehmend verärgert sind.

Eigenverantwortung bei Tönnies

Der politische Corona-Diskurs ist geprägt vom Begriff der Eigenverantwortung. „Jede/r kann einen Beitrag leisten“, „es liegt an uns allen“, „nur unsere persönliche Vorsicht kann die Verbreitung des Virus einbremsen“. Diese Sätze werden gebetsmühlenartig wiederholt, obwohl sie sehr individualisierend klingen. 

Der deutsche Soziologe Stephan Lessenich macht darauf aufmerksam, dass die Eigenverantwortung schon vor der Pandemie als Grundbegriff einer neoliberalen Moralvorstellung fungierte. Wir werden aufgefordert, „allein sozial“ zu sein. Und darum gebeten, uns selbst zu kontrollieren und zu zügeln. Jede/r hätte es selbst in der Hand, Held*in oder Gefährder*in zu sein. Das mag in gewisser Hinsicht vielleicht zutreffen. Immerhin obliegt einem ja selbst die Entscheidung, ob man ein Zusammentreffen mit mehreren Leuten besucht oder eben nicht.

Wenn alle problemlos faulenzen können, wer bringt mir dann meine Pizza?

Dennoch verkennt diese Logik die strukturellen Ursachen hinter Entwicklungen, Handlungsentscheidungen und letztendlich Ansteckungen. Es wäre beispielsweise absurd, den MitarbeiterInnen des Fleischproduzenten Tönnies, bei dem es unter anderem im Juni zu massiven Ansteckungswellen im Betrieb kam, mangelnde Eigenverantwortung vorzuwerfen. Die Ursachen liegen in der ökonomischen Struktur. Die prekär beschäftigten ArbeiterInnen wurden Opfer mangelnder Hygienestandards, die der Konzern anscheinend, trotz der Pandemie, nicht gewillt war einzuhalten.

Der überhebliche Blick auf die Pandemie

Ausgerechnet ein humorvoll gehaltener Werbespot der deutschen Regierung legt diesen abgehobenen Blick auf die Gesellschaft offen. Der in der Zukunft spielende Spot zeigt einen alten Mann, der über seine Erfahrungen aus dem Corona-Jahr 2020 berichtet. Damals war er 22 Jahre alt. Mit übertriebenem Pathos spricht er vom gesellschaftlichen Zusammenhalt und darüber, dass plötzlich alle das taten, was sie für ihr Land tun mussten – nämlich faul daheim herumlungern, Essen bestellen und Serien schauen. Die Pointe soll suggerieren, dass es gerade in Vergleich zu anderen Krisen keinerlei Anstrengungen benötige, einfach nur in den eigenen vier Wänden zu faulenzen und nichts zu tun. Abgesehen davon, dass der Spot all jene verunglimpft, die aufgrund der sozialen Einschränkungen mit ernsthaften psychischen und physischen Problemen konfrontiert sind, stellt sich unmittelbar die folgende Frage: Wenn alle problemlos faulenzen können, wer bringt mir dann meine Pizza?

Vermutlich jemand, der sich in einem prekären Beschäftigungsverhältnis befindet. Jemand, der in der Pandemie gebraucht wird wie noch nie zuvor und trotzdem um seinen Arbeitsplatz bangt. Was ist mit all jenen, die während der Krise ihren Job verloren haben? Oder jenen, die sich in Kurzarbeit befinden und unter Zukunftsängsten leiden? Diese sozioökonomischen Sorgen werden natürlich weder berücksichtigt noch anerkannt. Der Werbespot ist paradigmatisch für die überhebliche Haltung eines wohlstandsgesättigten Bürgertums. Das Bürgertum verurteilt all diejenigen, für die es sich vorher schon nicht interessiert hat, nun dafür, dass sie sich nicht seinen moralisch-pandemischen Standards anpassen.

Eigenverantwortung für alle

Wenn wir also damit anfangen, die Eigenverantwortung des Individuums zum primären moralischen Prinzip in der Pandemie zu erklären, ohne dabei ökonomische, soziale oder gesellschaftliche Verhältnisse zu berücksichtigen, dann öffnen wir die politische Büchse der Pandora. Die Politik könnte dann tun und lassen, was sie will. Jede Kritik an der Regierung wäre auf das plumpe Hinweisen auf Eigenverantwortung und deren Nichteinhaltung beschränkt. Das wäre fatal, denn die Politik hat klare Maßnahmen zu setzen, sowohl hygienische als auch sozialpolitische.

Das ist nötig, um einen gesellschaftlichen Handlungsraum hervorzubringen, in dem sowas wie Eigenverantwortung für alle zugänglich ist. Und nicht nur einer selbstgerechten Bürgerschicht, die Freude an ihrer moralischen Überlegenheit empfindet. Wenn diese Politik schlampig oder gar nicht gemacht und zusätzlich intransparent kommuniziert wird, dann schwindet auch die Eigenverantwortung all jener, die an der Pandemie schwer tragen. Und in den sozialen Medien kann sich darüber dann wieder empört werden.

Autor

 
Nach oben scrollen