In Großbritannien wollen bereits 130.000 Menschen ab ersten Oktober keine Energierechnungen mehr bezahlen. Vorausgesetzt, der Initiative schließen sich insgesamt eine Million Leute an. Was die Kampagne „Don’t pay“ erreichen will und wie das funktionieren soll, berichtet mosaik-Redakteurin Lisa Mittendrein.
Aufgrund der hohen Preise einfach die Energierechnung nicht mehr bezahlen? Da verlangt die neue britische „Don’t pay“-Kampagne den Leuten so einiges ab. Und eine Million Menschen davon zu überzeugen, klingt erst einmal sehr ambitioniert. Doch sie haben eine Chance, tatsächlich massenhaften zivilen Ungehorsam in Form eines Zahlungsboykotts zu erreichen.
Weil 4.000 Euro Energiekosten untragbar sind
Wie auch in Österreich, Deutschland und vielen anderen Ländern gibt es in Großbritannien eine schwere Krise der Lebenserhaltungskosten. Lebensmittelpreise, Mieten und Energiekosten explodieren. Dabei importiert das Land kaum russisches Gas und Konzerne fahren Rekordprofite ein: In den nächsten zwei Jahren werden britische Energiekonzerne Schätzungen zufolge 170 Milliarden Pfund (197 Milliarden Euro) Profit machen.
Nun sollen im Herbst die Energiepreise erneut stark steigen. Obwohl sie staatlich reguliert ist, wird die Energiepreisobergrenze ab Oktober um 82 Prozent angehoben – der dritte Preisanstieg in eineinhalb Jahren. Ein durchschnittlicher Haushalt wird voraussichtlich 3.300 Pfund (3.900 Euro) im Jahr für Energiekosten ausgeben. Don’t Pay-Aktivist:innen fürchten, dass bis Weihnachten jeder dritte Haushalt nicht mehr heizen kann.
„Niemand außer uns wird tun, was nötig ist“
Die Aktivist:innen von Don’t pay sagen: „Die Energiekonzerne werden ihre Preise nicht aus reiner Nächstenliebe senken“. Und weil die Regierung keine ausreichenden Maßnahmen ergreift, können sie nicht damit rechnen dass irgendwer außer ihnen „das tut, was notwendig ist.“
Das Ziel der Kampagne ist, dass eine Million Menschen ihre Bereitschaft zum Boykott deklarieren. Nur dann rufen die Initiator:innen auch tatsächlich dazu auf, die Rechnungen nicht zu bezahlen. Denn in der Masse liegt Sicherheit: Wollen die Energieanbieter den Boykottierenden die Versorgung abdrehen, müssen sie abertausende Kund:innen kontaktieren. Sie müssen Fristen setzen, Zahlungspläne vorschlagen, gerichtliche Befugnisse beantragen. „Das wird sie lähmen und einen monatelangen Rückstau verursachen“, argumentiert Don’t pay. Allerdings – und das gibt die Kampagne auch offen zu – gibt es auch Risiken, denn niemand weiß, wie die Energiekonzerne auf einen Massenboykott reagieren werden. Im Endeffekt soll der Boykott die Regierung zwingen, mit den Energieanbietern zu verhandeln und die Preise auf ein gerechtes Niveau zu senken.
Gerechte Preise, teurer Luxusverbrauch und Übergewinnsteuern
Die Kampagne hat derzeit nur drei simple Forderungen: Erstens sollen die Energiepreise auf das Niveau von April 2021 gesenkt werden. Das ist leicht umsetzbar, denn in Großbritannien gibt es auch für die Preise privater Anbieter staatliche Höchstgrenzen. Zweitens soll es keine Prepaid-Verträge mit hohen Kosten mehr geben. Denn damit haben gerade die Ärmsten die teuersten Tarife und ihr Strom beziehungsweise ihre Heizungen werden sofort abgedreht, wenn ihnen das Guthaben ausgeht. Und drittens müssen günstige Sozialtarife eingeführt und der Luxusverbrauch verteuert werden.
All das soll mit einer Übergewinnsteuer auf die obszönen Profite der Energiekonzerne finanziert werden. Über diese kurzfristigen Krisenmaßnahmen hinaus will die Kampagne ab Herbst gemeinsam überlegen, wie sich das Energiesystem verändern muss, damit es gerechte Preise für alle gibt.
Ungewöhnliche Verbündete
Laut Umfragen hat die Kampagne auch die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite. 55 Prozent der Befragten halten es demnach angesichts der steigenden Lebenserhaltungskosten für gerechtfertigt, die Energierechnungen zu boykottieren. Unter 35 bis 44-Jährigen sind es sogar 70 Prozent.
Und: Die Zustimmung besteht nicht nur unter Labour-Wähler:innen, sondern auch unter konservativen Tories. Wichtige Tory-Berater wie Dominic Cummings und konservative Intellektuelle wie James Frayne sehen großen Grund zur Sorge. Dafür haben sie anscheinend guten Grund. Don’t pay ist eine Graswurzelbewegung und viele, die sich engagieren, sind keine typischen Aktivist:innen. So portraitierte die britische Zeitung The Times vor kurzem die Jungpriesterin Mo Budd, die meint, Mitglieder der englischen Kirche seien traditionell nicht für direkte Aktionen in politischen oder sozialen Krisen bekannt. Man finde sie sonst eher in der Freiwilligenarbeit bei Lebensausgaben oder in Notunterkünften. „Aber das Ausmaß der Krise der Lebenshaltungskosten erfordert eine andere Reaktion“, so Budd.
Auch konservative Wähler:innen und Mütter kommen zu den Treffen von Don’t Pay. Für Ash Sarkar von der Medienorganisation Novara Media zeigt das „dass die Unterstützung aus politischen Spektren und Teilen der Zivilgesellschaft wächst, die sonst nicht Teil des neuesten linken Projekts sind“. Die Forderungen und der Boykott-Aufruf gehen über die üblichen subkulturellen und parteipolitischen Zugehörigkeiten hinaus.
Die Organisationsstruktur von Don‘t pay ist dezentral. Aktivist:innen schalten eigenständig Anzeigen in lokalen Zeitungen, crashen Tory-Events und machen Infotische in ihrer Gemeinde. Neben den 130.000, die sich schon bereiterklärt haben zu streiken, wollen 30.000 Menschen selbst in der Kampagne aktiv werden. Sie werden in den kommenden Wochen Veranstaltungen, Versammlungen und Protestaktionen im ganzen Land organisieren.
Vorbild: Das Ende von Margret Thatcher
Eines der Vorbilder von Don’t pay ist die Kampagne gegen die ungerechte „Poll tax“ in den 1980ern und 90ern – eine für alle Brit:innen gleich hohe Kopfsteuer, unabhängig von Einkommen und Reichtum. Nach Jahren neoliberaler Reformen brachte diese ungerechte neue Steuer das Fass zum überlaufen. 17 Millionen Menschen weigerten sich, sie zu zahlen, es gab Massenproteste und eine breite lokale Organisierung. Die Bewegung gewann, die Steuer wurde abgeschafft, Thatcher ging. Die Brit:innen haben also ein gutes Vorbild für den Boykott. Der britische Finanzjournalist Martin Lewis spricht bereits davon, dass der Regierung ein Poll-Tax-Moment bevorstehen könnte.
Wie es mit Don’t pay weitergeht, bleibt spannend. Und auch wenn die Situation in Großbritannien anders ist, so macht die Kampagne klar: Teuerung und Energiekrise belasten große Bevölkerungsgruppen akut und mit konkretem, kollektivem Handeln können wir sie für solidarische Antworten gewinnen.