Die documenta, die weltweit bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, findet dieses Jahr neben Kassel auch in Athen statt. Trotz Kritik von verschiedenen Seiten zeigt die Ausstellung, was politische Kunst alles kann, meint Sabine Fuchs.
Seit 1955 findet die documenta im deutschen Kassel statt. Dieses Jahr gibt es unter dem Motto „Von Athen lernen“ einen zweiten, gleichberechtigten Ausstellungsteil in der griechischen Hauptstadt. Als Kurator Adam Szymczyk diese Entscheidung im Oktober 2014 bekanntgab, kam die Kritik zunächst vor allem von rechts. CDU-Politiker Norbert Wett polterte, man lasse sich die documenta nicht „nach Athen wegnehmen“. Obwohl etliche griechische KünstlerInnen wie Georgia Sagri oder Angelo Plessas auf der documenta14 vertreten sind, gab es auch kritische Stimmen aus der griechischen Kunstszene selbst – und die sind ernster zu nehmen als die leicht durchschaubaren politischen Vorwürfe.
Die documenta als Ausbeuterin der Krise?
So sieht etwa Iliana Fokianaki, Gründerin des nicht-kommerziellen Athener Ausstellungsprojektes state of concept, die documenta als Ausbeuterin der griechischen Krise. Die renommierte und finanziell etablierte deutsche Kunstinstitution würde die prekäre Situation lediglich nützen, um Prestige und kulturelles Kapital zu gewinnen. Angefeuert wurde die Debatte auch durch Missverständnisse über die Bezahlung des Aufsichtspersonals, doch diese konnten vor der Eröffnung ausgeräumt werden. Das Athener Personal erhält hat wie jenes in Kassel Arbeitsverträge mit angemessener Entlohnung und Versicherungsschutz.
Der Kurator der Athen-Biennale Poka-Yio wirft der documenta Kolonialismus und Krisenpornographie vor und nahm seine Kritik gleich wortstark in Konzept und Titel der sechsten Athen-Biennale auf: „Waiting for the Barbarians“. Im Rahmen von deren Vorprogramm fand eine Kunstaktion unter dem Titel „Resurrection with documena“ (Auferstehung mit documena) statt, die ihr künstlerisches Konzept direkt vom angeblichen Orientalismus und Kolonialismus der documenta14 ableitet – ohne diesen allerdings zu belegen.
Die Absicht ist solidarisch
Nun sind Reflexe gegen deutsche Großinstitutionen angesichts des Vorgehens der deutschen Regierung gegenüber Griechenland und des antigriechischen Rassismus vieler deutscher Medien nur zu verständlich. Ebenso klar ist, dass viele junge GriechInnen nicht nur von der Massenarbeitslosigkeit betroffen sind, sondern fehlende Zukunftsperspektiven auch traumatisieren können. Das gilt umso mehr für junge KünstlerInnen, die in der prekären wirtschaftlichen Lage kaum mehr von ihrer Kunst leben können. Unter diesen Voraussetzungen will man sich nicht auch noch sagen lassen, wie Kunstausstellung geht.
Trotzdem trifft die Kritik nicht zu und hinterlässt zudem einen schalen Beigeschmack. Die Nationalisierung der Krise verstellt den Blick darauf, dass der Kapitalismus ein globales Phänomen ist. Um ihn zu bekämpfen muss man das anerkennen – und über nationale (und europäische) Grenzen hinaus solidarisch handeln. Und als solidarischer Akt war Adam Szymczyks Entscheidung für Athen gedacht.
Politisch im besten Sinn
Dabei stellt sich die Frage, wie Kunst überhaupt politisch wirken kann. Direkt in den politischen Prozess einzugreifen ist ihr nicht möglich. Was sie aber kann, ist Diskurse eröffnen und vorantreiben, partizipatorische und emanzipatorische Prozesse anregen und gesellschaftliche Debatten auf einer anderen Ebene als die üblichen Politdiskussionen führen. Die documenta14 hat das Ziel, in genau diesem Sinne politisch zu sein. Sie will nicht nur politische Kunst ausstellen, sondern auch die Öffentlichkeit einbeziehen. Eines der Signale dafür sind die sehr moderaten Eintrittspreisen: Viele der Ausstellungsorte in Athen sind gratis zugänglich. Den höchsten Eintrittspreis hat das Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst mit 8 Euro.
Von Demokratie bis Kolonialismus
Die Öffentlichkeit wird auch durch unterschiedliche Präsentationsformen und einen sehr weit gefassten Kunstbegriff einbezogen. So finden schon seit Oktober 2016 öffentliche Programme statt, die politische Probleme der Gegenwart mit den Mitteln künstlerischer und intellektueller Intervention zur Diskussion stellen. Dabei geht es um Demokratie und Krieg, um kooperatives Denken und Handeln oder um den Zusammenhang von Kapitalismus und Kolonialismus. Die Athener Sozialwissenschaftlerin Nelli Kambouri beschäftigt sich in einem der Programme mit der Krise in Griechenland aus der Perspektive postkolonialer Theorie. Damit konterkariert sie den Kolonialismus-Vorwurf gegen die Ausstellung. Ebenfalls an den documenta-Programmen beteiligt waren Antonio Negri, die Philosophin Judith Revel und der kamerunische Politikwissenschaftler und Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe.
Dazu kommt ein Radioprogramm, das weltweit auf insgesamt zehn Sendestationen ausgestrahlt wird. Unter dem Titel „Every Time a Ear di Soun“ geht es um Fragen wie: Eignen sich gesprochene Sprache, Musik und andere akustische Phänomene zum Schreiben gegenhegemonialer Geschichte(n)? Kann das Radio ein Ort des Widerstands sein? Außerdem werden auf dem staatlichen griechischen Fernsehsender ERT2 unter dem Titel Keimena wöchentlich Dokumentar- und Spielfilme präsentiert, die sich mit dem Aufeinanderprallen von individuellem Alltagsleben und globalen Machtstrukturen auseinandersetzen.
Ungewöhnliche Orte für Kunst
Die politische Dimension der documenta zeigt sich auch an ihren Veranstaltungsorten. Dabei handelt es sich nicht nur um klassische Orte moderner Kunst wie das Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst EMST, das gebaut aber nie eröffnet wurde, weil der griechische Staat unter dem Kürzungsdiktat der Troika den Betrieb nicht finanzieren kann. Nun wurde es durch die documenta zumindest zeitweise in Betrieb genommen; im Gegenzug werden 230 Werke aus der Sammlung des EMST bei dem in Kassel stattfindenden Teil der documenta gezeigt.
Die documenta14 präsentiert sich aber auch im öffentlichen Raum der Stadt – etwa am Kotzia-Platz gegenüber dem Athener Rathaus. Dort lädt der pakistanische Künstler Rasheed Araeen, inspiriert von der Idee des Gastmahls unter dem Titel „Food for Thought: Thought for Change“ zum Essen. Gewünschter und eintretender Effekt: Zufällig vorbeikommende TouristInnen sitzen mit GriechInnen aus der Umgebung, die sie sich ihre Mahlzeiten sonst kaum noch leisten können, an einem Tisch und kommen mit ihnen ins Gespräch.
Auch kleine und abseits gelegene, aber historisch wichtige Orte werden einbezogen, so das Museum des demokratischen Widerstands gegen die Diktatur im Eleftherias-Park. Oder die Gedenkstätte der Razzia von Kokkinia, einer traditionell linken Arbeitergemeinde, die an ein Kriegsverbrechen der deutschen Besatzungstruppen 1944 erinnert. Damals wurden 75 WiderstandskämpferInnen festgenommen und erschossen, 7.000 AnrainerInnen ins KZ und 1.200 weitere als ZwangsarbeiterInnen nach Deutschland verschleppt. Hier zeigt die Künstlerin Mary Zygouri eine Performance, die in doppelter Weise auf die Geschichte des Ortes verweist: Nicht nur auf das Verbrechen der deutschen Besatzung, sondern auch auf die Zensur einer dortigen Kunstaktion durch ehemalige KollaborateurInnen 1979.
Die Themen der beteiligten KünstlerInnen sind vielfältig. In der Installation des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh im Odeion geht es um den Finanzkapitalismus. Kolonialismus ist das Thema der 101 Ölbilder umfassenden Bilderserie über die Geschichte des Kongo von Tshibumba Kanda Matulu im Benaki-Museum an der Piräus-Straße. Mit der Ausrottung ethnischer Minderheiten und ihrer Kulturen befasst sich die chilenische Künstlerin Cecilia Vicuña in ihrer ästhetisch besonders eindrucksvollen, fast zehn Meter hohen Installation aus ungesponnener roter Wolle.
Aber es geht auch um die griechische Gegenwart selbst: Die marokkanische Künstlerin und Filmemacherin Bouchra Khalili zeigt in einem inszenierten, aber auf Interviews beruhenden Video („The Tempest Society“, zu sehen in der Hochschule der bildenden Künste ASFA) die Lebenssituation junger Menschen in Athen auf stilisierte, gleichzeitig aber sehr direkte Weise. Khalilis Film macht deutlich, dass eine ästhetisierte – also künstlerische – Darstellungsform Politik und ihre Auswirkungen oft viel unmittelbarer einsichtig machen kann als etwa ein abstrakter Vortrag. Damit zeigt sie auch die Bedeutung von politischer Kunst.
Fazit: Kapitalismus funktioniert nicht
Die documenta14 veranschaulicht an jedem ihrer Orte und in fast allen dort gezeigten Kunstwerken fundamentale Kritik an den herrschenden Zuständen. So formuliert sie die Erkenntnis: Der Kapitalismus funktioniert nicht. Und sein Nicht-Funktionieren hat eine ziemlich lange Geschichte. Das ist für eine Kunstausstellung nicht wenig.
Sabine Fuchs ist Historikerin. Sie lebt und arbeitet in Wien und ist bei Aufbruch aktiv.