Mehr direkte Demokratie? Was wir von der Schweiz wirklich lernen können

Kritik an der repräsentativen Demokratie gibt es schon lange. Auch Linke bemängeln etwa den Einfluss von Lobbygruppen (wie jüngst bei der Glyphosat-Entscheidung) oder die fehlende Repräsentation etwa von Menschen, die ohne Wahlrecht in einem Land leben. In Österreich setzt aber vor allem die rechtsextreme FPÖ auf dieses Thema.

Dabei verweist sie immer wieder auf das Schweizer Modell, das mehr direktdemokratische Elemente wie Volksinitiativen und Volksbefragungen vorsieht. Grund genug, sich genau anzusehen, ob das System der Schweiz wirklich eine Stärkung der Demokratie bringt.

Das Schweizer Modell: Lücken und Tücken

Die Schweiz ist der einzige europäische Staat, der auf höchster Ebene über wirklich verbindliche direktdemokratische Instrumente verfügt. So können 100.000 BürgerInnen per Volksinitiative einen Volksentscheid über eine Verfassungsänderung erzwingen. Wird der Vorschlag von der Mehrheit der Stimmberechtigten und der Mehrheit der Kantone angenommen, erlangt er Verfassungsrang.

Darüber hinaus kann gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlamentes das Referendum ergriffen werden. 50.000 Stimmberechtigte können eine Volksabstimmung über ein Gesetz verlangen. Die Mehrheit der Stimmberechtigten entscheidet dann über die Annahme oder Ablehnung des fraglichen Gesetzes. Aber ist durch dieses politische Entscheidungssystem tatsächlich eine breite Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozess gewährleistet?

Bescheidene Wirkung

Seit ihrer Einführung im Jahr 1891 wurde die Möglichkeit einer Volksinitiative bisher 455 Mal ergriffen. 209 Volksinitiativen kamen an die Urne, jedoch wurden lediglich 22 Volksinitiativen von Volk und Ständen angenommen. Eine höchst umstrittene von Volk und Ständen angenommene Volksinitiative der jüngeren Vergangenheit war jene „Gegen Masseneinwanderung“ vom 9. Februar 2014.

Die tatsächliche Kraft des direktdemokratischen Instruments ist also rein zahlenmäßig bescheiden. Dazu kommt, dass die durchschnittliche Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts 1971 bei nur knapp 43 Prozent liegt.

Historisch konservativ

In Fragen der Sozialpolitik hat sich die direkte Demokratie eher als Hemmschuh denn als Motor erwiesen. Anhand zweier historischer Beispiele mit sehr hoher Stimmbeteiligung kann dies verdeutlicht werden.

1922 schritten die Schweizer (damals ausschließlich Männer) mit einer Rekordbeteiligung von 86,3 Prozent zur Urne, um mit 87 Prozent gegen die Initiative zur einmaligen Vermögensabgabe zur Erfüllung der sozialen Aufgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden abzustimmen. Sieben Jahre davor hatte der „Erlass eines Artikels der Bundesverfassung zur Erhebung einer einmaligen Kriegssteuer“ eine Zustimmung von 94,3 Prozent erhalten.

Ablehnung für soziale Reformen

An diesem Konservativismus hat sich bis heute wenig geändert. Dies zeigen die jüngsten Abstimmungsergebnisse. Sowohl die Initiative für die 36-Stunden-Woche (2002), die Vorlage „6 Wochen Ferien für alle“ (2012), die 1:12-Initiative für gerechte Löhne der Juso (2013) sowie die Volksinitiativen „Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)“ (2014) und „Für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ (2016), wurden von der Mehrheit der WählerInnen abgelehnt.

Ausnahmen stellen nur die mit 50,6 Prozent äußerst knappe Annahme der Initiative „Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!“ (2012) und mit Einschränkungen die vom SVP-nahen Unternehmer Thomas Minder eingereichte „Abzocker-Initiative“ (2013) dar, die es AktionärInnen erlaubt, die Löhne von TopmanagerInnen zu beeinflussen.

Initiativen der Rechten

Demgegenüber konnte die nationalpopulistische SVP unter Christoph Blocher das Instrument für ihre Zwecke geschickt nutzen. Das bekannteste Beispiel ist die 2009 mit 57,5 Prozent angenommene Initiative „Gegen den Bau von Minaretten“. Weitere Beispiele für den rassistischen und neoliberalen Populismus der SVP stellen die 2010 angenommene „Ausschaffungsinitiative krimineller Ausländer“, die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ (2014) sowie die im März 2018 zur Abstimmung gelangende No Billag-Initiative dar, mit der der öffentlich-rechtliche Rundfunk zerschlagen werden soll.

Der SVP gelingt es damit, sich als „Hüterin der Volksrechte“ zu positionieren und mit Mitteln der direkten Demokratie populistische und fremdenfeindliche Politik zu betreiben.

Meinungsmache durch Medien

Im Hintergrund agiert der SVP-Übervater und Multimilliardär Christoph Blocher. Er baut seit Jahren sein Wirtschafts- und Medienimperium aus, indem er immer weitere, hauptsächlich regional erscheinende Zeitungen übernimmt. So kann er rassistische Meinungsmache über ein dichtes Netz von Medien betreiben.

Während permanent über die Themen Ausländer, Sicherheit und Migration geschrieben und geredet wird, soll sich das Kapital möglichst ungestört entfalten. Das Interesse der FPÖ am Schweizer Modell ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.

Voraussetzungen für direkte Demokratie

Nun kann man einwenden, dass das nicht unbedingt gegen Instrumente der direkten Demokratie spricht. Tatsächlich zeigt das Beispiel der Schweiz, dass für eine lebendige direkte Demokratie vor allem freie, offene und pluralistische Medien und kritische Bildung notwendig sind.

Voraussetzung für eine wirklich funktionierende direkte Demokratie wäre auch eine Demokratisierung der Wirtschaft. Denn um neue Themen und politische Alternativen in die Öffentlichkeit zu tragen, braucht es beträchtliche Finanzmittel und Zeit für persönliches Engagement. Beides ist in unseren kapitalistischen Gesellschaften sehr ungleich verteilt.

Lehren aus der Schweiz

Für Linke in Österreich gibt es momentan wenig Positives vom Schweizer Modell zu lernen. Einzig die Einsicht, dass das Modell der direkten Demokratie ganz bewusst von der SVP dazu instrumentalisiert wurde, die Öffentlichkeit von Fragen der Verteilung von Vermögen und Einkommen, von Gerechtigkeit und politischer Teilhabe abzulenken.

Im Gegenzug nutzt sie Volksinitiativen, um rassistische Hetze zu betreiben. Sollte die FPÖ hier Anleihen nehmen, ist zu befürchten, dass sich auch die Verhältnisse in Österreich noch weiter zuspitzen.

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