Große Koalition und SPD-Chaos: In Deutschland geht eine Epoche zu Ende

Tom Strohschneider ist einer der genauesten Beobachter der deutschen Politik. Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland erklärt im mosaik-Interview, woran die Große Koalition doch noch scheitern könnte, vor welchen Herausforderungen die SPD steht und warum der Linken ein bisschen dialektische Gelassenheit ganz gut täte. 

mosaik: Ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl und viel Hin und Her gibt es wieder eine Große Koalition aus SPD, CDU und CSU. Ist im politischen Deutschland alles wieder beim Alten?

Tom Strohschneider: Die Große Koalition ist noch nicht fix. In der Sozialdemokratie gibt es derzeit schwierige Diskussionen und einen Konflikt um Ressourcen und Macht zwischen Bünden und Strömungen. Das wird ganz deutlich am peinlichen Personalgerangel der letzten Tage. Wenn man eine Stunde nicht ins Internet gekuckt hat, wusste man nicht mehr, was in der letzten Folge der großartigen Serie namens „SPD“ passiert ist. Warten wir also den Mitgliederentscheid ab.

Andererseits wäre auch eine neuerliche Große Koalition vor allem Ausdruck einer Übergangsperiode und Zeichen einer zu Ende gehenden Epoche – sozusagen der alten Bundesrepublik. Der Koalitionsvertrag ist ein unglaublich kleinteiliges Dokument des Kompromisses, er atmet den Geist der Mitte: hier ein bisschen was fürs Kapital, da ein bisschen Zurückdrehen des Neoliberalismus.

Viele der angekündigten Maßnahmen machen die Welt zumindest nicht schlimmer, als sie ist. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Vereinbarungen, in denen – mit Gramsci gesprochen – die Monster adressiert werden, die in einer Übergangsperiode auftauchen. Das gilt etwa für die katastrophale Migrationspolitik, die genauso eine Konzession an die Rechten ist wie das neue „Heimatministerium“. Die zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen, etwa Ungleichheit oder Klimawandel, werden dagegen nicht angepackt.

Scheitern könnte die „GroKo“, die Große Koalition, noch am Mitgliedervotum der SPD. Kann das noch knapp werden?

Der Personalwirbel in der SPD hilft der „No-GroKo-Bewegung“. Ob sie sich wirklich durchsetzt, ist aber vielleicht gar nicht so entscheidend. Auch nach einem knappen Sieg der GroKo-Befürworter würde die Diskussion weitergehen, ob diese Koalitionsform überhaupt die nötige Zustimmung hat. Zumal die drei Parteien CDU, CSU und SPD in aktuellen Umfragen gar keine Mehrheit mehr bekämen. Die No-GroKo-Leute würden auch mit 45 Prozent zwar den Mitgliederentscheid verlieren, die Debatte aber gewinnen. Doch was dann?

Ein Sieg der SPD-Linken wäre ein Signal – aber erst einmal nicht mehr. Ihr fehlen weiterhin Antworten auf die zentrale Frage, nämlich: Was kann heute, unter Bedingungen eines entgrenzten Marktes, das Sozialdemokratische sein? Wie schafft man soziale Integration, wenn die wohlfahrtsstaatliche Absicherung auf einzelstaatlicher Ebene immer mehr unter Druck gerät? Wenn die Folgen globaler kapitalistischer Expansion in jenen Ländern spürbar werden, die bisher davon profitiert haben?

Dazu kommen Fragen der Ökologie. Jeder wird zustimmen, dass eine Lösung der deutschen Verteilungsprobleme noch lange nicht die weltweiten Ungerechtigkeiten beseitigt. Denn es ist völlig klar: Die Lebensweise unserer industriekapitalistischen Gesellschaften ist global betrachtet so ausbeuterisch, dass linke Antworten in einem Land allein die eigentlichen Herausforderungen nicht lösen können.

Um die GroKo per Abstimmung zu verhindern, hat die Parteijugend eine Kampagne unter dem Motto „Tritt ein, sag nein!“ gestartet. Seither sind über 25.000 Menschen der SPD beigetreten. Das erinnert an die Labour Party unter Jeremy Corbyn. Bahnt sich eine ähnliche Erneuerung der SPD an?

Ich will vorausschicken, dass man als Linker ein Interesse daran haben sollte, dass sozialdemokratische Erneuerung gelingt. Auch dann, wenn man selbst über den kapitalistischen Status quo hinausgehen will. Ohne starke und solidarisch orientierte Sozialdemokratie werden positive Veränderungen kurz- und mittelfristig nicht möglich sein.

Ich weiß, dass gerne und mit Sympathie auf Entwicklungen wie in Großbritannien geschaut wird. Dort hat eine Basisbewegung die sozialdemokratische Partei auf ein neues Gleis gesetzt. Die eigentlichen Fragen stellen sich aber auch in Großbritannien erst, wenn Corbyn an die Regierung kommen sollte. Dann müsste er zeigen, wie unter den Bedingungen der europäischen und globalen kapitalistischen Ordnung ein Kurswechsel hin zu einer kommunalsozialistischen, umverteilungspolitischen und solidarökonomischen Politik hinzubekommen ist.

Wir hatten ähnliche Hoffnungen, als Syriza in Griechenland die Regierung übernommen hat. Dort mussten wir sehen, dass die internationalen und europäischen Rahmenbedingungen eine linke Kurswende außerordentlich schwer machen.

Und dann ist da noch die spezifische Situation der SPD. Ich finde, dass Kevin Kühnert, der Jusos-Vorsitzende, momentan eine unglaublich starke Figur macht. Das erzeugt bei vielen Leuten Hoffnung. Aber eine „Erneuerung“ der SPD müsste eine Umwälzung viel größeren Maßstabs bedeuten – personell und programmatisch.

Was wäre in dieser „Übergangsperiode“, wie du sie nennst, programmatisch gefragt?

Drei große Fragen stellen sich aus meiner Sicht. Erstens: Wie kann man eine Politik sozialer Integration erreichen, unter kapitalistischen Verhältnissen, die immer globaler werden? Eine Steuerung der Ökonomie kann heute nur international, oder zumindest auf europäischer Ebene in Gang gesetzt werden. Da ist die linke Debatte noch am Anfang.

Von einer europäischen Arbeitslosenversicherung, einer Angleichung von Löhnen und Gehältern sind wir weit entfernt. In einzelnen Ländern wie Großbritannien oder Portugal tut sich was, aber eine tatsächlich europäische linke Aufbruchsbewegung zeigt sich noch nicht.

Zweitens: Wir haben es mit einer Krise der politischen Form zu tun. Die drückt sich darin aus, dass Form und Substanz nicht mehr zusammenpassen. Ein Beispiel: Sowohl in der SPD, als auch in der Linkspartei und in den Grünen – ja, wenn man so will, in der ganzen Gesellschaft – wird eine neue Bruchlinie kenntlich. Auf der einen Seite herrscht die Illusion vor, man könne soziale Integration nationalstaatlich organisieren, was notwendig Ausschlüsse mit sich bringt. Die andere Seite setzt auf eine internationale Steuerung der sozialen Integration. Diese Konflikte verlaufen nun nicht zwischen den Parteien, sondern das sind Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien, die irgendwann zu einer Auflösung drängen. Womöglich als Neuformierung der politischen Form.

Drittens muss man hoffen, dass nicht die Rechten von der Krise der Sozialdemokratie profitieren. Man wird mit einer gewissen Nüchternheit herangehen müssen, denn die gesellschaftliche Linke wird in den nächsten Jahren wohl nicht mehrheitsfähig und handlungsfähig werden. Da muss man sich die Frage stellen, wer eigentlich die Truppen sind, die in einer Zeit, in der in anderen Ländern ein massiver Roll-back passiert, zumindest Dinge verteidigen können.

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat einmal davon gesprochen, dass man den demokratischen Kapitalismus retten müsse. Damals ist er dafür ausgelacht worden. Aber wenn man sich die letzten drei, vier Jahre ansieht, mag es eine sinnvolle taktische Überlegung sein, die bestehenden Verhältnisse gegen rechte Regression, flüchtlingsfeindliche Radikalisierung usw. zu verteidigen. Dafür braucht es eine starke Linke. Wir haben diese starke Linke aber nicht. Stattdessen gibt es Debatten um neue Sammlungsbewegungen, die mich nicht überzeugen.

Diese neue Sammlungsbewegung von links wird aktuell vor allem von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine gefordert. Sie wollen damit die Opposition gegen Große Koalition stärken und gleichzeitig der rechten AfD WählerInnen streitig machen. Wie siehst du diesen Vorstoß, der aktuell auch viele Konflikte innerhalb der Partei Die Linke verursacht?

Ich glaube nicht, dass die Idee der Sammlungsbewegung die Konflikte in der Partei verursacht. Sie ist eher Ausdruck bestehender Konflikte.

Dem Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht liegt ein politischer Instinkt zugrunde. Sie sehen, dass die Entwicklung so fragil ist, dass die Möglichkeit organisatorischer Neuordnungsprozesse besteht. Sie strecken jetzt frühzeitig den Finger raus und sagen: „Wir haben hier eine Idee!“

Aber: So eine Sammlungsbewegung müsste Ausdruck sozialer Unruhe und Bewegungen sein. Der Vorstoß von Lafontaine und Wagenknecht knüpft aber an keine aktuellen Auseinandersetzungen an. Er will soziale Bewegung von oben in Gang setzen. Damit haben wir schon immer schlechte Erfahrungen gemacht.

Wir bräuchten eher eine Verknüpfung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen im Alltag, von Kämpfen etwa von Pflegearbeitenden oder Erwerbslosen. Das Ziel müsste sein, die Klasse, die von den herrschenden Verhältnissen in Konkurrenz zueinander gezwungen wird, auf ihr gemeinsames Interesse zurückzubinden.

Hat der Vorschlag von Wagenknecht und Lafontaine überhaupt Chancen auf Umsetzung?

Die Reaktionen sind überwiegend negativ. Das gilt für die Angesprochenen bei der SPD und den Grünen, und auch in der Linkspartei wird der Vorschlag mehrheitlich zurückgewiesen.

Aber die Debatten sind noch lange nicht beendet. Die Linkspartei hat im Frühjahr Parteitag, da stehen Vorstandswahlen an und wir wissen, dass entlang solcher Konflikte auch Auseinandersetzungen um Parteiressourcen entstehen werden. Da drängt sich dann auch die Frage ob das, was momentan als „Sammlungsbewegung“ diskutiert wird, nicht eher zu einer Spaltungsbewegung wird – zumindest in dieser Partei.

Viele der von dir angesprochenen Bruchlinien verlaufen entlang der Frage der Migration. Wenn man die Diskussion in der deutschen Linken von außen beobachtet, wird einem etwas bange: Da wird äußerst scharf, teilweise gehässig polemisiert. Warum tut sich gerade die Linke mit diesem Thema so schwer?

Auf parteipolitischer Ebene stellt sich die Frage, ob und wie man Wählerinnen und Wähler, die nach rechts abgewandert sind, zurückholen kann. Wenn man das versucht, indem man  Ressentiments aufgreift, ist das sehr, sehr gefährlich.

Hinzu kommt auch hier eine Debatte zwischen zwei Polen, mit einer starken Tendenz zum Schwarz-Weiß-Denken: Hier „Klassenpolitik“, dort „Identitätspolitik“.

Dabei wird oft unterschlagen, dass ein ganz wesentlicher Moment unserer Geschichte – der Geschichte der Arbeiterbewegung – die Synthese von identitäts-, demokratie-, und kulturpolitischen Fragen mit sozialen Fragen war. Diese Einheit in der Differenz war in der Arbeiterbewegung schon mal stärker. Vor 150 Jahren sind wir mit der Forderung nach dem Frauenwahlrecht gestartet. Wer heute für die Rechte von Frauen und Schwulen eintritt, gilt beinahe schon als Neoliberaler. Das ist grotesk und geschichtsvergessen.

Dazu kommt die von dir angesprochene zugespitzte Rhetorik, die Synthesen schwermacht, in denen das Gute behalten und das Schlechte überwunden werden kann. Ein bisschen mehr dialektische Gelassenheit würde der Linken gerade guttun.

Interview: Benjamin Opratko

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