In Teil 1 der Analyse wird beschrieben, mit welchen Mitteln die Euro-Regierungen versuchen „Syriza in die Kapitulation zu mobben“. Zwei Monate nach dem Regierungswechsel in Griechenland ist offensichtlich, dass es nicht nur nicht gelungen ist, den dominierenden Block in Europa aufzuweichen, sondern dass dieser sich sogar verhärtet hat und entschlossen ist, die griechische Regierung auflaufen zu lassen. Jetzt häuft sich die Kritik, dass die Syriza-Frontleute selbst eine Mitschuld an ihrer Isolation haben. Zu chaotisch hätten sie agiert, zu aggressiv und konfrontativ seien sie aufgetreten, womit sie potentielle Verbündete unnütz gegen sich aufgebracht hätten. Im zweiten Teil wird nun die grundsätzlichere Frage nach strategischen Dilemmata der Syriza-Regierung gestellt.
Ist die Syriza-Führung zu angepasst?
Eine andere Kritik kommt eher von links und aus dem radikaleren Flügel der Syriza selbst. Sie lässt sich so zusammenfassen und wurde unlängst vom Ökonomen und Syriza-Abgeordneten Costas Lapavitsas in einem umfassenden Interview für das US-Magazin „Jacobin“ formuliert: Das strategische Problem der Regierungsspitze um Tsipras und Varoufakis bestehe darin, dass sie erstens mit der Voraussetzung in die Verhandlungen ging, dass ein Ende der Austerität und ein Schuldenerlass innerhalb des Rahmens der Institutionen der Währungsunion möglich seien und, dass zweitens das völlig unzweifelhafte Ziel formuliert wurde, Griechenland im Euro zu halten. Letzteres Ziel stimmt natürlich auch mit den ganz klaren Wünschen der Mehrheit der Griechinnen und Griechen überein. Es hat aber auch dazu geführt, dass die Regierung immer klar machte sie werde den „Schalter für die Atombombe“ nicht drücken. Das macht die Regierung erpressbar. Ohne realistisches Drohpotential musste sie alle Diktate schlucken. Die beiden Kritikpunkte kann man auch verbinden: Vielleicht haben Tsipras und Varoufakis zu sehr auf die Vernunft ihrer PartnerInnen vertraut, sodass sie tatsächlich dachten, das Drohpotential nicht zu benötigen. Das und insbesondere der Hinweis, dass die Währungsunion nicht an sich neutral ist, sondern von Institutionen flankiert wird, in die ihre neoliberale Entstehungsgeschichte schon eingeschrieben ist (Maastricht-Kriterien, ESM, Fiskalpakt, Schuldenbremse, etc.), also möglicherweise “unreformierbar” ist, ist sicherlich nicht völlig von der Hand zu weisen.
Womöglich markieren die beiden oben genannten, auf den ersten Blick widersprüchlichen Vorwürfe ein strategisches Dilemma. Einerseits will die griechische Regierungsführung als „standhaft“ erscheinen und jeden Eindruck vermeiden, sich zu unterwerfen (das speist den Vorwurf, sie sei konfrontativ), anderseits hat sie tatsächlich eine vergleichsweise moderate Agenda (ein bisschen mehr Keynesianismus innerhalb der Eurozone ohne echten Plan B). Wenn man in einem solchen Dilemma ist, muss man manövrieren.
Weder Ländermatch noch Freundschaftsspiel
Verkompliziert wird all das noch durch den Umstand, dass jede europäische Regierung gewissermaßen in mehrere Richtungen blickt. Die konservativ geführte, deutsche Regierung, deren europapolitischer Linie sich die SPD völlig unterworfen hat, muss natürlich immer eine funktionierende Einigkeit innerhalb der EU im Auge haben, ABER AUCH das Meinungsklima in Deutschland UND die Mehrheitsverhältnisse in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beachten. Genauso muss auch die Syriza-Regierung sowohl die Kompromissmöglichkeiten innerhalb der Eurogruppe ALS AUCH das Meinungsklima in Griechenland UND die verschiedenen Flügel von Syriza ausbalancieren.
Das heißt aber ebenso: Wer in Europa erfolgreich handeln will, muss einerseits versuchen, die Regierungen anderer Länder oder das Meinungsklima in anderen Ländern für sich zu gewinnen, aber andererseits und insbesondere für die nationale Galerie spielen. Denn letztlich wird er oder sie im nationalen Rahmen gewählt.
Diese beiden strukturellen Notwendigkeiten können sich aber widersprechen und haben eine große Gefahr: nämlich die Gefahr, dass politische Konflikte nicht politisiert werden (im Sinne von Links versus Rechts, Keynesianismus versus Austeritität, Sozialismus versus Großkapital etc.) sondern „nationalisiert“ oder sogar „ethnisiert“. In den europäischen Gläubigerländern wie Deutschland, Finnland und auch Österreich hat sich in den vergangen fünf Jahren ein „ökonomischer Rassismus“ breit gemacht. Es wird nicht nur abschätzig auf die „unsoliden Schuldnerländer“ herabgeblickt, sondern deren ökonomische Probleme werden mit angeblichen ethnisch-kulturellen Eigenschaften verbunden: Schlendrian, Faulheit, ein Hang zur Korruption, all das würde zur südlichen Lebensweise dazu gehören, so lautet die verbreitete Storyline. Insofern ist es kein Wunder, dass die Gegenreaktion in Ländern des Südens auch einen nationalistischen Rahmen annimmt – tatsächlich ist ja „das eigentliche Wunder, dass das nicht schon viel früher passierte“, wie Paul Krugman unlängst schrieb.
Man soll die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen: Der Sieg von Syriza ist nicht nur ein „linker“ Wahlsieg. Der Aufstieg von Syriza und der Wahltriumph Ende Januar verdankt sich dem Umstand, dass die Partei einen hegemonialen Block schmieden konnte, der klassische und neue Linke genauso umfasst, wie modernistische Wähler und Wählerinnen der politischen Mitte, die Syriza als neue Kraft den altmodischen Klientelparteien vorzogen. Aber ebenso Griechinnen und Griechen, die sich in ihrer „nationalen Würde“ gekränkt fühlten haben Syriza gewählt. Das ist an sich noch überhaupt keine Tragödie: Linke Wahlsiege waren in der Geschichte nur selten vollends „rein“, das heißt, sie waren nie frei auch von fragwürdigen Wahlmotiven. Ein gewisses Maß an patriotischem Appeal gab es sehr oft auch in den bewundernswertesten linken Projekten (etwa das „alle zusammen“, das an sozialen Zusammenhalt und Solidarität appelliert, dies aber tendenziell sehr oft territorial, wenn nicht sogar ethnisch implizit eingrenzt). Hier gerade auf Syriza mit dem Finger zu zeigen, hätte auch etwas Heuchlerisches. Man bedenke beispielsweise, dass der Aufbau des skandinavischen Wohlfahrtsstaates in Schweden unter dem Slogan „Folkhemmet“ (Volksheim, Anm.) vonstattenging. Oder etwa Bruno Kreisky, der immer wieder darauf hinwies, in Schweden habe er einen „sozialen Patriotismus“ kennen gelernt, den er in Österreich verwirklichen wollte.
Nichtsdestoweniger ist eine „nationalistische“ Rahmung sozialistischer Reformpolitik fragwürdig und umso riskanter, wenn es sich nicht ausschließlich um einen nach innen gerichteten, inklusiven Patriotismus handelt sondern wenn auf der Klaviatur eines nach außen gerichteten Nationalismus gespielt wird, und das noch dazu im Kontext der Europäischen Union. Es ist, wie gesagt, eine verständliche Reaktion angesichts des jahrelangen „ökonomischen Rassismus“ des Nordens und des geradezu haarsträubenden deutschen Nationalismus. Dennoch birgt eine solche Reaktion offensichtliche Gefahren, grundsätzlicher Natur und politisch taktischer Natur.
Es ist ja klar: Wenn ich den Konflikt um die Austeritätspolitik in Europa als Konflikt „Griechen gegen Deutsche“ deute, dann werde ich erstens Schwierigkeiten haben, jene Deutschen als BündnispartnerInnen zu gewinnen, die ich gewinnen kann und will. Zweitens wird es auch schwieriger werden, FranzösInnen, ItalienerInnen oder andere für meine Anliegen zu gewinnen, weil die im schlimmsten Fall dann den Eindruck haben, der Konflikt zwischen den GriechInnen und den Deutschen gehe sie nichts an.
Natürlich ist die Rhetorik von Syriza nicht aus einem Guss: Erstens ist sie eine bunte Partei und zweitens hat sie auch etliche Parteilose in ihren Reihen. Es ist eher eine Tohuwabohu-Rhetorik, in der aber, um das mindeste zu sagen, nationalistische Rhetorik auch ihren Platz einnimmt. In der Realität wird von der Parteispitze an dem einen Tag die „griechische“ Klaviatur bedient und am nächsten „die europäische“. Politisch taktisch ist das durchaus alles verständlich, führt aber mindestens zu Dissonanzen und zum Eindruck, die politische Kommunikation sei inkonsistent und konfus und jeden Tag sei ein anderer Akteur damit beschäftigt, etwas zurück zu nehmen, was er tags zuvor gesagt hat. Im schlimmeren Falle entsteht ein Krieg der Worte, der nicht entlang politischer sondern entlang nationaler Konfliktlinien verläuft und einen Beitrag zur Vergiftung des Klimas leistet. Der mangelnder Solidarität mit Syriza völlig unverdächtige Henning Meyer hat im Portal SocialEurope deshalb nicht ganz unrecht mit seinem Appell an beide Seiten: „Der Krieg der Worte zwischen der deutschen und der griechischen Regierung muss sofort aufhören!“
Die Heuchelei der Syriza-KritikerInnen
Mit einem Wort: Man kann durchaus auch als solidarischeR LinkeR kritikwürdige Aspekte am Agieren der griechischen Syriza-Regierung in den vergangenen knappen zwei Monaten finden. Das ist ja gar nicht der Punkt. Es wird nie jemanden geben, der völlig fehlerfrei ist. Die Renationalisierung der europäischen Diskurse, für die Syriza nicht verantwortlich ist, geht auch an ihr nicht spurlos vorüber. Es hat aber durchaus auch ein Geschmäckle, wenn neutrale und völlig passive BeobachterInnen oder gar aktive GegnerInnen der Syriza-Regierung vorwerfen, sie würde diesen oder jenen Fehler machen, wenn sie sich de facto in einem Belagerungszustand befindet. Hat denn jemand den europäischen Konservativen befohlen, die ausgestreckte Hand von Tsipras und Varoufakis zurückzuschlagen? Hat denn jemand den Mainstream der europäischen Sozialdemokratie dazu gezwungen, sich – von wenigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen – aus Angst vor Merkel und Schäuble einer eigenständigen Position zu entsagen? Hat jemand gesagt, dass sich die verschiedenen europäischen Sozialbewegungen damit zu begnügen haben, interessiert-solidarisch nach Athen zu blicken, sich aber ansonsten relativ still verhalten zu müssen? Glaubt das erdrückende Gros der deutschsprachigen Journalistinnen und Journalisten, ihre Beteiligung am Diffamierungs-Herdentrieb gegenüber der Syriza-Regierung würde irgendwelche positiven Folgen haben? Wer will, dass Syriza einen weniger konfrontativen Kurs fährt, könnte ja damit beginnen, der griechischen Regierung mit einer Prise Wohlwollen zu begegnen statt mit dem täglichen Stakkato an Diffamierungen, Beleidigungen und Drohungen.
Kurzum: Das Problem von Syriza ist ihre Isolation. Wenn man einer jungen Regierung nicht einmal ein paar Wochen gibt, um eine Routine zu entwickeln, wenn man sie vom Tag Eins an dazu zwingt, sich mit nichts anderem als Notfalls-Maßnahmen zur Abwendung eines ökonomischen Kollapses zu beschäftigen, mit einem Wort, wenn man dafür sorgt, dass sie permanent mit dem Rücken zur Wand steht, dann braucht man sich auch nicht wundern, wenn sie den einen oder anderen Fehler macht.
Freilich ist auch wahr, dass es in der Linken immer schon die fragwürdige Tendenz gibt, die Ursache für die eigenen Fehler oder auch die eigene Schwäche bei den anderen zu suchen (wahlweise beim Kapital, den Neoliberalen, den SozialdemokratInnen, dem Fernsehprogramm, der Kronen Zeitung, der Konterrevolution). Man liegt damit nie falsch aber macht es sich damit zugleich immer auch sehr leicht. Der ideologische Kampf ist ja kein Freundschaftsspiel und deshalb ist auch nicht zu erwarten, dass eine Linke, die sich nicht unterwirft, von den herrschenden Eliten freundlich behandelt wird. Die Antwort darauf muss sein, eine Politik zu betreiben und Bündnisse so zu schmieden, dass man die Isolation überwindet statt sie zu verschärfen. Syriza ist eine Partei, die das auf ihrem nationalstaatlichen Terrain mit fulminantem Erfolg geschafft hat, aber die Mittel, die ihr das ermöglicht haben, bergen zugleich die Gefahr, ein Hemmnis dafür zu sein, vergleichbare Erfolge auf transnationalem Terrain zu erzielen. Die Linke generell hat in ihrer Geschichte an dieser Aufgabe oft versagt, manchmal aber auch nicht. Zur Geschichte des Versagens gehört etwa die Geschichte des Sektierertums, das gewissermaßen ein falsches Foto der eigenen Gesellschaft im Kopf hatte und den Kreis der „echten Linken“ und der zu gewinnenden „Verbündeten“ viel zu eng zog. Zur Geschichte des Erfolges gehören etwa gramscianisch inspirierte Bündnisstrategien. Diese versuchen über die engen, eigenen Kreise hinaus Verbündete zu einem, wie Gramsci das nannte, „historischen Block“ zusammenzufügen. Wie ein solcher Block aussieht, wer dazu gehört und was eigentlich seine Ziele sind (Aufbau eines Wohlfahrtsstaates im Kapitalismus, langsame Transformation des Kapitalismus, Bekämpfung der Austerität, Revolution etc.) das variiert je nach Epoche und ist ohnehin immer umstritten. Der heterogene Block zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass über ein paar unmittelbare Ziele Einigkeit herrscht, aber nicht unbedingt über alle Fernziele. Dass man dafür jedenfalls Leute und Milieus gewinnen muss, mit denen man nicht in allem einer Meinung ist, aber zumindest temporär an einem Seil zieht, sollte sich von selbst verstehen. Und dass der Feind nicht schläft, ist ohnehin sonnenklar.
Was wir in Europa in den vergangenen zwei Monaten erlebt haben ist, um im fragwürdigen Jargon militärischer Metaphern zu sprechen, ein Stellungskrieg. Dem Austeritätscamp um Merkel, Schäuble und Co. ist es leichter gelungen, als vielleicht mancher erwartet hätte, ihr Terrain zu behaupten. Syriza ist es im Gegenzug dazu schlechter gelungen, als manche erhofft hätte, ihr Terrain auszuweiten. Das ist grundsätzlich noch kein Beinbruch, wenngleich die ökonomische Situation für die griechische Regierung äußerst schwierig ist. Aber es ist ein Sachverhalt, den man nicht ignorieren soll und wenn man etwas besser machen kann, dann soll man das tun.
Robert Misik ist Journalist und Sachbuchautor. Er lebt und arbeitet in Wien.