Der Strafprozess und seine Alternativen: Die Debatte um die Diversion

Manche Aspekte der am 14. August 2015 in Kraft getretenen Strafrechtsreform wurden in der Öffentlichkeit heftig diskutiert. Dazu zählt etwa die Frage des erweiterten Tatbestands der sexuellen Belästigung. Andere wiederum, wie die letztlich wieder zurückgenommene Änderung der Diversion, wurden kaum bemerkt. Eine Gesellschaft, die Kriminalität im Allgemeinen und Gewalt im Besonderen stark problematisiert, sollte sich jedoch nicht nur Gedanken über  Täter_innen und Straftatbestände machen, sondern auch über die Sanktionen.

Der Tenor im Boulevard lautet: es braucht hohe Gefängnisstrafen! Und wenn das nicht funktioniert – noch höhere! Doch was genau soll eigentlich funktionieren? Die österreichischen Gefängnisse sind komplett unterfinanziert, ein Skandal jagt den anderen und die Justizwache bewegt sich seit Jahren am Rande des Streiks. Durchgeführt wird er deshalb nicht, weil ein Streik in erster Linie auf Kosten der Gefangenen ginge.  Doch auch in Gefängnissen in besserem Zustand werden Menschen erwiesenermaßen durch lange Freiheitsstrafen nicht „re-sozialisiert“. Auch hat die Strafdrohung nur eine geringe Auswirkung auf die Kriminalitätsrate: maßgeblich ist vielmehr die Einschätzung über die Wahrscheinlichkeit, bei einer Straftat tatsächlich erwischt zu werden.

Diversion als Alternative zu Gefängnis

Österreich war  Vorreiterin bei Alternativen zu Gefängnisstrafen. 1990 wurde die Diversion für Jugendliche und im Jahr 2000 auch für Erwachsene eingeführt, früher als in den meisten anderen Ländern. Staatsanwaltschaft oder Gericht können in einer Strafsache entscheiden, dass anstelle einer Gerichtsverhandlung eine Diversion durch die Bewährungshilfe-NGO NEUSTART durchgeführt werden soll. Diese tritt anstelle eines Urteils. Es existieren vier Arten der Diversion: das Zahlen eines Geldbetrags, die Erbringung gemeinnütziger Leistungen, eine Probezeit mit Auflagen und den außergerichtlichen Tatausgleich. Zu einem Urteil, einer Gefängnisstrafe und einem Strafregister-Eintrag kommt es danach in der Regel nicht mehr. 2014 gab es in Österreich über 41.000 Fälle, die diversionell erledigt wurden.

Diversion und häusliche Gewalt

Um die Anwendung der Diversion in Fällen von häuslicher Gewalt gibt es eine Debatte, die so alt ist, wie die Diversion selbst. Sie wird vor allem von und unter Feminist_innen geführt. Zuletzt ist diese Diskussion erneut aufgeflammt, als im Zuge der Strafrechtsreform 2015 vorgesehen war, die Diversion für Gewaltdelikte pauschal auszuschließen, was jedoch nach dem Begutachtungsverfahren zurückgenommen wurde. Hier ein kurzer Abriss der zentralsten Argumente.

Welche Fälle kommen in Frage?

Rechtlich kommen für die Diversion nur Fälle in Frage, die nicht mit einer Strafe von über fünf Jahren bedroht sind. Die Tat darf außerdem nicht den Tod eines Menschen verursacht haben und  die Schuld des_der Täter_in nicht besonders schwer sein. Der_die Täter_in hat immer das Recht, die Diversion abzulehnen und einen regulären Strafprozess zu verlangen. Grundsätzlich kommen für alle Fälle auch alle Arten der Diversion in Frage. Bei Gewaltdelikten herrscht weitgehend Einigkeit, dass eine Geldstrafe keinen Sinn hat oder sich sogar negativ auswirkt. Beispielsweise, wenn in einem Fall häuslicher Gewalt das Geld aus der gemeinsamen Haushaltskasse aufgebracht wird und damit erst recht das Opfer mitbelastet wird. Beim Tatausgleich gehen die Meinungen allerdings auseinander.

Zustimmung des Opfers zum Tatausgleich

Da der Tatausgleich meistens in Form eines Treffens zwischen Opfer und Täter_in stattfindet und der Mitwirkung beider Seiten bedarf, ist er nur mit Zustimmung auch des Opfers möglich. Eine Kritik an der Anwendung eines Tatausgleichs bei Fällen häuslicher Gewalt besteht darin, dass das Opfer dem Tatausgleich unter Druck gesetzt sein könnte, zuzustimmen. In Fällen, in denen das Opfer schon lange durch Gewalt kontrolliert wird, ist der Tatausgleich daher nach Meinung vieler kein geeignetes Mittel. Wenn „Männergewalt Mittel der Herrschaftsausübung ist“, wie NEUSTART schreibt, kann die Diversion nichts ausrichten.  Wird eine solche Situation im Vorgespräch festgestellt, sollte kein Tatausgleich angestrebt werden. Der Bundesverband der Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen Österreichs äußert sich dazu jedoch kritisch: es komme auch in Fällen besonders schwerer Gewalt immer wieder zu Diversionen. Von anderer Seite, besonders im internationalen Vergleich, wird die Zuteilungspraxis in Österreich jedoch überaus positiv bewertet.

Mediation bei Gewalt?

Der Tatausgleich kann in Form einer Mediation durchgeführt werden, ist aber nicht mit dieser gleichzusetzen. Auch andere direkte und indirekte Kommunikationsmodelle und Vermittlungsmethoden können im Tatausgleich zur Anwendung kommen, gesetzlich ist die Form nicht im Detail festgelegt.
Die Durchführung einer Mediation wird in Fällen von Gewalt von vielen Feminist_innen abgelehnt, hier nach ihrer Ansicht der Ausgangspunkt für eine Mediation nicht gegeben ist. Bei einer Mediation geht es um einen Konflikt zwischen grundsätzlich gleichgestellten Parteien, die nach einer Einigung und schließlich vielleicht auch einer Lösung im Kompromiss suchen. Gewalt hingegen schafft ein Machtungleichgewicht, das durch keinen Kompromiss zu lösen ist.

Symbolgehalt

Auch der Symbolgehalt der Diversion wird angezweifelt. Ihr fehle  die eindeutige öffentliche Verurteilung der Tat. Tatsächlich verknüpfen viele Menschen die Strafe mit dem moralischen Urteil über eine Handlung: nur wenn man für eine Tat ins Gefängnis geht, oder eine (hohe) Geldstrafe zahlen muss – jedenfalls gerichtlich verurteilt wird, war sie tatsächlich „falsch“. Doch auch diese Straflogik muss hinterfragt werden. Könnte das moralische Urteil nicht völlig unabhängig von der Strafsanktion bestehen? Ist das nicht auch im Zwischenmenschlichen so, wo Übertretungen als komplett „daneben“ gewertet werden, auch wenn sie bei weitem nicht ins Strafrecht fallen? Dazu kommt, dass in einem Tatausgleich oft eine intensivere (emotionale) Auseinandersetzung des_der Täter_in mit dem Opfer und den Folgen der Tat passiert, als in einem Strafprozess. In bestimmten Fällen stellt sich auch die Frage, ob der Strafprozess auf symbolischer Ebene wirklich die beste Alternative ist. In Vergewaltigungsfällen gibt es besonders oft Zweifelsfreisprüche, was nicht bedeutet, dass das Gericht von der Unschuld des_der Täter_in überzeugt ist, sondern, dass die Schuld nicht bewiesen werden konnte. In der Öffentlichkeit wie auch der persönlichen Wahrnehmung der Beschuldigten wird dies jedoch sehr häufig wie ein Freispruch wahrgenommen.

Chancen des Tatausgleichs

Der Tatausgleich hat eine größere Bandbreite an Ergebnismöglichkeiten. Er kann zum Beispiel im Gegensatz zu einem Strafprozess zu einer Schadenswiedergutmachung führen. Opfer und Täter_in können in einer schriftlichen Vereinbarung festhalten, was in Zukunft geschehen soll, welche Verhaltensweisen von Seiten des_der Täters_in hergestellt werden müssen. Ein Strafprozess hingegen kann nicht in dieser Form auf individuelle Bedürfnisse eines Opfers eingehen. Ein Tatausgleich bedeutet insofern mehr Mitbestimmung für das Opfer und damit auch eine Art Ermächtigung. Studien des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie belegen, dass die Rückfallraten nach einem Tatausgleich geringer sind als nach Gefängnisstrafen. Fast 90 % werden nach einem erfolgreich abgeschlossenen Tatausgleich nicht mehr straffällig. Auch die Zufriedenheit der Opfer gilt durchschnittlich als sehr hoch. Oft hat also weder das Opfer, noch die Gesellschaft etwas von einer langen Gefängnisstrafe. Auch eine grundsätzliche Kritik an Gefängnissen als ultimativem Ausdruck eines respressiven und patriarchalen Staats ist dem Feminismus nicht fremd. Aus dieser Perspektive wird der Tatausgleich als Chance auf Alternativen gesehen.

Angelika Adensamer ist Juristin, Redaktionsmitglied der Zeitschrift juridikum, aktiv im rechtsinfokollektiv und auf Twitter unter @herrangelika zu finden. 

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