Die Corona-Raubtiere: Wie sich Konzerne und Kanzleien an der Pandemie bereichern wollen

Menschenleben retten, das Gesundheitssystem stützen, den wirtschaftlichen Absturz abfedern: Gegen derartige Maßnahmen sollten Konzerne mit der Paralleljustiz ISDS klagen, meinen Wirtschafts-Anwält*innen. Wir müssen den Corona-Raubtieren die Grundlage entziehen, schreiben Iris Frey und Theresa Kofler.

In der Corona-Krise passiert manches, das lange Tabu war. Regierungen schließen vorübergehend Fabriken und Geschäfte. Etliche Unternehmen stellen ihre Produktion um: Textilwerke nähen Masken statt Mode. Selbst ein neoliberaler Politiker wie Donald Trump zwingt General Motors, statt Autos Beatmungsgeräte zu produzieren.

Während die einen sterben, bereiten die anderen Klagen vor

So wichtig staatliche Eingriffe dieser Art sind, ob im Kampf gegen die Pandemie oder die Klimakrise, so wahnwitzig reagieren darauf einige Anwaltskanzleien. Gemeinsam mit großen Investoren und Prozessfinanzierern wittern sie fette Beute. Sie bereiten sich darauf vor, Staaten wegen der Corona-Maßnahmen zu verklagen und riesige Schadenersatz-Zahlungen abzusahnen.

„Für die Geldgeber von Schiedsgerichtsverfahren könnten die letzten Wochen den Beginn eines Booms markieren“, schreibt das spezialisierte Anwaltsmagazin Law360 am 8. April, wenige Wochen nach Beginn der Lockdowns. Mehrere Elite-Anwaltskanzleien veröffentlichen ähnliche „Hinweise“ an Investoren. Besonders dreist sind jene, die mit Investoren im stark von Corona betroffenen Italien arbeiten.

Die Raubtiere der Corona-Pandemie 

Ende März sterben in Italien über 900 Menschen pro Tag. Zum gleichen Zeitpunkt spekulieren Anwält*innen der Mailänder Kanzlei ArbLit in einem Artikel darüber, welche Möglichkeiten sich bieten könnten, Italien wegen seiner Krisenmaßnahmen zu verklagen.

Die Anwält*innen schlagen den Investoren Wege vor, um aus dieser Situation Profit zu schlagen und verschaffen sich damit selbst neue Fälle. Zum Beispiel so: Der italienische Staat beschlagnahmt medizinische Ausrüstung und Hotels, um Kranke zu versorgen. Ist die vorgesehene staatliche Entschädigung einem Investor vielleicht zu niedrig? Der perfekte Grund, um zu klagen! Oder die Ausnahmen für Menschen, die ihre Kreditraten vorübergehend nicht bezahlen können: Möchte da nicht ein Geldgeber wegen „indirekter Enteignung“ klagen?

Und wenn es nicht klappen sollte, die Regierung wegen übertriebener Maßnahmen zu belangen – dann vielleicht wegen des Gegenteils? Ein Konzern könnte Italien auch verklagen, weil es daran gescheitert sei, „die Gesundheit seiner Manager und Angestellten zu schützen“, schlagen die Anwält*innen vor. Sie zeigen eine bemerkenswerte Biegsamkeit, wenn es darum geht, ein Land, in dem gerade Tausende sterben, wie Raubtiere auszuweiden.

Klagen gegen günstige Medizin und sauberes Wasser

Ein neuer Report der NGOs Corporate Europe Observatory und Transnational Institute hat die bisherigen Hinweise der Anwaltskanzleien analysiert. Er identifiziert zehn Bereiche, in denen Klagen zu erwarten sind.

Dazu gehören Maßnahmen zur Stützung des Gesundheitssystems, für den erschwinglichen Zugang zu Medikamenten, Tests und Impfungen oder für die Bereitstellung von sauberem Wasser zum Händewaschen.

Auf welcher Grundlage? 

Die Klagen, um die es hier geht, laufen nicht über normale Gerichte. Investoren nutzen dafür eine Paralleljustiz, die nur ihnen offen steht. Mit dem sogenannten ISDS-Mechanismus (Investor-State-Dispute Settlement, also Investor-Staat-Streitschlichtung) können sie Staaten verklagen, wenn sie Verluste aufgrund von Maßnahmen oder Regulierungen befürchten. Die Entscheidungen fallen nicht etwa auf Grundlage von Gesetzen, sondern schwammigen Formulierungen wie „faire und gerechte Behandlung“ oder der bereits erwähnten „indirekten Enteignung“.

Viele Handels- und Investitionsabkommen enthalten den Mechanismus, etwa das Klimakiller-Abkommen „Energiecharta-Vertrag“ oder die Entwürfe von CETA und TTIP. Diese Paralleljustiz ist schon in normalen Zeiten undemokratisch und extrem schädlich, weil sie es Konzernen erlaubt, gegen gesellschaftlich wichtige Gesetze wie den Atomausstieg in Deutschland, fixierte Wasserpreise oder den Schutz der italienischen Strände zu klagen.

Wirtschaftskrisen häufig missbraucht

Doch besonders gern bereichern sich Investoren an Krisen, wie der Arabische Frühling oder die Wirtschaftskrise in Argentinien gezeigt haben. 2001 rutschte Argentinien in eine Wirtschaftskrise und die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze. Daraufhin bediente die Regierung die Staatsschulden nicht mehr, wertete die Währung ab und fror Wasser- und Strompreise ein. Dagegen reichten 42 Unternehmen Klagen ein und forderten insgesamt 16 Milliarden Dollar Schadensersatz. Auch heute steht Argentinien wieder vor dem Bankrott. Die Klagen der Corona-Raubtiere könnten der letzte Dolchstoß sein.

Österreich verzögert Teil-Ausstieg…

Auch heute, in der Corona-Krise, umkreisen die Raubtiere bereits ihre Beute. Peru wurde bereits eine Klage angedroht, weil die Regierung die Einhebung von Straßen-Maut vorübergehend ausgesetzt hat.

Aber auch Österreich könnte von den maßlosen Steuergeld-Geschenken an Investoren betroffen sein. Das Land hat alleine 69 bilaterale Investitionsabkommen, in denen die ISDS-Paralleljustiz verankert ist. Und obwohl die allermeisten EU-Staaten Anfang März alle bilateralen Abkommen (BITs) innerhalb der EU gekündigt haben, fährt Österreich eine Verzögerungstaktik. Der Grund: Vier österreichische Banken verklagen derzeit Kroatien.

… und könnte selbst bald betroffen sein

Während der Corona-Epidemie hat sich Kanzler Sebastian Kurz gerühmt, besonders streng reagiert und reguliert zu haben. Gerade das könnte Klagen nach sich ziehen. Besonders exponiert ist die Tourismusbranche, auf die 15 Prozent der Wirtschaftsleistung entfallen.

Ausländische Konzerne, etwa Hilton, Steigenberger oder Motel One betreiben Luxushotels und Resorts in Österreich. Und obwohl ihre Betriebe seit Ende Mai wieder öffnen können, haben die verordneten Schließungen in knapp zwei Monate zu heftigen Ausfällen geführt. Zudem bleiben Reisebeschränkungen weiterhin aufrecht. Bislang sind weltweit 13 Paralleljustiz-Fälle im Bereich Unterbringung und Gastronomie bekannt – der nächste könnte Österreich treffen.

Staaten haben kaum eine Chance

Solange die Handels- und Investitionsabkommen wirksam bleiben, gibt es kaum Hoffnung. Denn sie beinhalten kaum Ausnahmen für Maßnahmen im öffentlichen Interesse. Die Staaten müssten nachweisen, dass die von ihnen ergriffenen Maßnahmen die einzige Möglichkeit waren, mit der Pandemie umzugehen – das ist kaum möglich.

Insgesamt steigt die Zahl der Klagen seit den 90er Jahren, als die internationale Handelspolitik stark liberalisiert wurde, extrem an. Aktuell sind über 1.000 Fälle öffentlich bekannt. Die Dunkelziffer dürfte größer sein.

Weitere Abkommen bald im Nationalrat

Bislang waren Österreich und die anderen EU-Regierungen trotz massiver Kritik aus der Zivilgesellschaft und der katastrophalen Auswirkungen mancher Klagen weiterhin fleißig dabei, das System der Paralleljustiz auszudehnen. Abkommen mit Singapur und Vietnam wurden auf EU-Ebene bereits beschlossen und landen demnächst im österreichischen Nationalrat. Auch der Energiecharta-Vertrag, auf dessen Grundlage die Niederlande für den Kohleausstieg und Deutschland für den Atomausstieg verklagt werden, befindet sich nur in einem Pseudo-Modernisierungsverfahren. Österreich hat ihn, wie 52 andere Staaten weltweit, unterzeichnet.

Die Lösung: Sofort aussteigen

Auch wenn es einzelne Versuche gibt, die Klagemöglichkeiten zumindest während der Pandemie auszusetzen, zeigt die aktuelle Situation mehr denn je: Ausländische Investoren brauchen keine besonderen Klagemöglichkeiten. Sie können wie alle anderen auch die vorhandenen Rechtswege nutzen.

Gerade angesichts der neuen Klagsgefahren müssten Staaten sofort aus allen Verträgen mit ISDS-Paralleljustiz für Konzerne aussteigen. So sehen das auch die über 700 Organisationen, die bislang einen offenen Brief unterschrieben haben, den sie in den kommenden Tagen an ihre Regierungen übergeben werden. Sie fordern die Regierungen auf, ISDS während der Krise auszusetzen und dauerhaft zu beschränken. „In einer Zeit, in der Regierungen alle Mittel ausschöpfen, um die Krise zu bekämpfen“, schreiben die Unterzeichner*innen, „darf kein öffentliches Geld davon abgezogen werden, Menschenleben, Arbeitsplätze und Existenzen zu retten, um ISDS-Entschädigungen oder Anwaltskosten zu bezahlen.“

Iris Frey ist Campaignerin im Büro von Attac Österreich. Theresa Kofler ist Koordinatorin der Plattform Anders Handeln, die sich für eine alternative Handelspolitik einsetzt.

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