Wer hinter den Demos gegen Femizide am Karlsplatz steckt

Seit Sommer 2020 ruft das feministische Bündnis „Claim the Space“ nach jedem Femizid in Österreich eine Kundgebung am „ehemaligen“ Wiener Karlsplatz aus, um gemeinsam zu trauern und wütend zu sein. Im Austausch mit Mosaik-Redakteurin Sarah Yolanda Koss sprechen Ruby und Kaya, Aktivistinnen des Bündnisses, über die Gründung der Vernetzung, kollektive Praxen, den Umgang mit der Polizei, die Debatte um Femizide und die Zukunft einer globalen, feministischen Bewegung.

Anfangs waren es 50 Aktivist*innen, die sich regelmäßig am Karlsplatz trafen, sich über Erfahrungen austauschten und Medienaufmerksamkeit mobilisierten. Monat für Monat rückte die Vernetzung aus AG Feministischer Streik, Ni una Menos Austria, Kollektiv Lauter* und anderen die Spitze der Gewalt gegen FLINTA* (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen), den Femizid, in den Mittelpunkt ihrer Debatte. Beinahe ein Jahr später folgen ihren Aufrufen über 1000 Menschen und das Wort Femizid findet langsam Einzug in die mediale Berichterstattung. Ruby und Kaya (Namen geändert) sind Aktivist*innen der AG Feministischer Streik, einer Gruppe des Bündnisses. Sie erinnern sich an Störaktionen von Männern, denen die versammelte Kundgebung „Haut ab” entgegen schreit, an Repression, aber vor allem an Raum für Solidarität, Vernetzung und Austausch. Die Benennung von Femiziden ist für sie erst der Anfang des Kampfes, wie sie sagen.

Mosaik-Blog: Die Vernetzung „Claim the Space“ gibt es seit Juli 2020. Femizide und patriarchale Gewalt, also vergeschlechtlichte Gewalt, waren damals kein neues Thema. Was war für euch der Anlass zu sagen „Jetzt braucht es ein Bündnis“?

Kaya: Innerhalb der AG Feministischer Streik haben wir uns schon länger, von globalen Kämpfen wie Ni una Menos inspiriert, mit den Themen Femizid und patriarchale Gewalt auseinandergesetzt. Ein Auslöser für die Kundgebungen waren die faschistischen Angriffe auf eine türkisch-kurdische Femizid-Kundgebung im Juni letzten Jahres in Wien. Daraufhin haben wir auf einer Demo männliche Gewalt thematisiert. Im Anschluss daran haben wir beschlossen, dass wir einen Ort brauchen, wo wir das kontinuierlich machen können und eine feministische Vernetzung in Wien angestoßen, um nach kollektiven Praxen dafür zu suchen.

Ruby: Patriarchale Gewalt ist lange hauptsächlich für rassistische und rechte Argumentationen ausgeschlachtet worden. Sehr lange gab es in Österreich keine linke, feministische Bewegung, die dieses Thema aus einer antikapitalistischen und antifaschistischen Grundhaltung heraus aufgegriffen hat. Das wollten wir ändern und das Thema nicht den Rechten überlassen.

Nach jedem Femizid in Österreich organisiert ihr eine Kundgebung und eine Spontandemonstration am „ehemaligen Karlsplatz“, wie ihr euren Treffpunkt nennt. Was hat es mit dem Karlsplatz auf sich?

Ruby:  Zum einen war der Karlsplatz vielen schon wegen dem feministischen Kampftag am 8. März bekannt. Andererseits eignet sich der Ort gut für eine feministische Platznahme, um historische Kontinuitäten aufzuzeigen. Der Karlsplatz ist nämlich unter anderem nach einem Karl Borromäus benannt, der nicht nur erheblich an Hexenverfolgungen beteiligt, sondern auch Antisemit und Antiziganist war.

Kaya: Außerdem haben wir mit dem Karlsplatz einen Ort gewählt, der ein Symbol für die bürgerliche Gesellschaft ist. Damit wollen wir zeigen, dass auch hier Gewalt passiert und sie selbst Teil des Problems ist. 

Ruby: Das Zusammenkommen am Karlsplatz ist manchmal wirklich häufig, teilweise ein-, zweimal die Woche, weil so viele Femizide verübt werden. Der ehemalige Karlsplatz ist für uns ein Ort für unsere kollektive Praxis und unsere Rituale, mit denen wir auf die Kontinuität dieser Strukturen aufmerksam machen. Weil es immer wieder das gleiche ist, weil diese Dinge einfach tagtäglich passieren.

Und wieso „ehemaliger Karlsplatz“?

Kaya: Bei einem ersten Treffen im August haben wir uns die Frage gestellt, wie eine Praxis, die patriarchale Gewalt politisiert, überhaupt ausschauen kann. Dabei haben wir, aus dem sogenannten ‘globalen Süden’ inspiriert, die Idee einer öffentlichen Platznahme diskutiert. Wir wollten einen Ort für Austausch schaffen, an dem unterschiedliche Feminismen und Praxisformen zusammenkommen können. 

Ruby: Ende September lief die erste Veranstaltung unter dem Motto „Claim the Space“, also Raumnahme, auf dem Karlsplatz. Dazu gehörte auch ein kollektiver Namensfindungsprozess für den Platz. Leute haben mit Kreide Namensvorschläge auf den Boden geschrieben und mit Strichen daneben über die Vorschläge abgestimmt.

Wie läuft die Namenssuche? 

Kaya: Ein Name der heiß im Rennen ist, ist beispielsweise „Ni una Menos Platz“. Aber bei unserer Vernetzung haben wir bemerkt, dass ein Teil des feministischen Prozesses die Aushandlung an sich sein muss. Wir nehmen uns Zeit für die Umbenennung. Es geht uns darum, ins Gespräch zu kommen und gemeinsam herauszufinden, wie ein solcher Prozess überhaupt ausschauen kann. Deswegen gibt es auch immer noch keinen Namen für den Platz (lacht). 

Ruby: Das ist ja auch das Spannende, seit letztem September sind die Kundgebungen extrem gewachsen. Da sind jetzt neue Leute dabei und die nächste Abstimmung sieht bestimmt wieder ganz anders aus. Momentan nennen wir ihn „ehemaligen Karlsplatz“, das ist auch ziemlich cool.

(c) presse-service.net

Jetzt haben wir schon öfter diesen ominösen Begriff „Femizid“ erwähnt. Was ist, für euch als Kollektiv, die Definition von Femizid?

Kaya: Unter Femizid oder Feminizid  verstehen wir die Tötung von FLINTA*-Personen aufgrund ihres Geschlechts. Wir sehen ihn als äußerste Zuspitzung von patriarchaler Gewalt. Es geht bei dem Begriff darum, patriarchale Gewalt nicht als zufällige oder voneinander losgelöste  Einzelschicksale zu verhandeln, sondern die Struktur dahinter sichtbar zu machen. 

Wir verwenden die Begriffe Femizid und Feminizid fast synonym. Feminizid schließt an Feminicidio und den lateinamerikanischen Kontext an. Da wurden staatliche Strukturen explizit als Teilaspekte benannt. Femizid kommt dagegen aus dem angloamerikanischen Raum. Um nicht eine eurozentristische Perspektive zu haben aber auch nicht den lateinamerikanischen Begriff zu vereinnahmen, verwenden wir beide.

Femizid, patriarchale Gewalt, FLINTA*, das sind alles Begriffe, mit denen einige Menschen noch nie zu tun hatten. Wie bringt man ihnen diese Konzepte näher?

Ruby: Wir haben schon das Problem, dass wir oft recht abstrakt über diese Themen nachdenken und sprechen.

Kaya: Den Begriff des Femizids auf die Straße zu tragen, ist ein Angebot. Wir sprechen nach jedem Mord darüber, warum es sich da um einen Femizid handelt. Außerdem wurde Femizid in unzähligen Ländern in Lateinamerika bereits in der Rechtsprechung als eigener Tatbestand etabliert. Ich glaube deswegen, dass der Begriff auch dem österreichischen Kontext zumutbar ist. Komplexe Zusammenhänge brauchen ihre Zeit, um verstanden zu werden. Aber das heißt nicht, dass man sich diese Zeit nicht nehmen sollte. 

Die Einordnung eines Femizids ist nicht immer ganz klar, auch in Gewaltstatistiken unterscheiden sich die Zählungen. Im Jänner gab es beispielsweise die Diskussion über den Fall einer Pensionistin, die von der Polizei erschossen wurde. Debattiert ihr in der Vernetzung über solche Aspekte?

Kaya: Ja. Aus unserer linksradikalen Perspektive bedeutet Femizid, die staatlichen Institutionen zu benennen, die der Grundstein dieses patriarchalen Systems sind. Und dazu gehört auf jeden Fall die Institution der Polizei. Deswegen wollten wir diesen Mord thematisieren. Diser Femizid hat aufgezeigt, wie wichtig ein intersektionaler Zugang ist. Es verschränken sich unterschiedliche Mechanismen, wie Ableismus, Ageismus, Sexismus (Anm.: Diskriminierung von Menschen aufgrund einer Behinderung, Diskriminierung von Menschen aufgrund des Alters, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts). 

Ruby: Über diese Einordnungen haben wir sehr viele Debatten. Grundsätzlich ist das Problem, dass wir von Femiziden nur über mediale Berichterstattung erfahren weil es kein Monitoring gibt. Eine Ermordung einer FLINTA*-Person durch eine nahestehende Person, das können wir recht klar benennen. Aber andere Aspekte von patriarchaler Gewalt, die für uns auch eine Zuspitzung von Gewaltverhältnissen sind, sind häufig noch komplexer. Die Debatten darüber bringen uns immer wieder dazu, die eigenen Erfahrungen zu hinterfragen. Gerade diese Fragen bringen uns weiter.

(c) presse-service.net

Apropos Polizei. Bei einer Versammlung im Mai war die Exekutive erstmals erst nach der Kundgebung, zu Beginn der Spontandemo, vor Ort. Hat die Polizei einen anderen Umgang mit euch als mit anderen linksradikalen Bündnissen, weil ihr ein feministisches Kollektiv seid?

Ruby: Zum einen werden wir nicht ernst genommen, zum anderen aber auch bedrängt. Es stand schon im Raum, dass die Kundgebung unterbunden wird, obwohl sie rechtlich als spontane Versammlung zulässig ist. Es kam auch schon zu sexistischen Anfeindungen gegenüber Aktivist*innen. 

Tendenziell fährt die Polizei aber eine vergleichsweise wohlwollende Schiene mit uns. Gleichzeitig habe ich manchmal das Gefühl, dass sich die Polizei auf die Fahne schreibt, sie sei gegen Männergewalt und damit auf unserer Seite. Dabei übersieht sie unseren Blick auf die Problematik. Der ist eine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Die Polizei ist Teil des Problems und das benennen wir sehr explizit auf den Kundgebungen. 

Euch geht es nicht nur darum, Femizide zu benennen, ihr wollt ein Ende der Verhältnisse, die zu Femiziden führen. Stellt ihr euch konkrete Schritte vor?

Kaya: Es geht uns darum, eine breite Bewegung aufzubauen und sich dabei nicht auf die staatlichen Institutionen zu verlassen.

Ruby: Konkrete Maßnahme sind schon auch wichtig. Zum Beispiel, Femizid als Rechtsgegenstand aufzunehmen oder Förderung von Männlichkeitsarbeit. Dann geht es um die Struktur, in der wir leben. Um die Frage von binären Geschlechterrollen und Lebensweisen wie die Ehe, die bürgerliche Kleinfamilie, die gewaltvolle Verhältnisse reproduzieren.

Kaya: Aus der Perspektive des Feministischen Streiks schauen wir uns an, wie Arbeit gesellschaftlich aufgeteilt wird. Das ist gerade während der Pandemie deutlich geworden. Wer verrichtet Sorgearbeit, wie zentral aber abgewertet ist sie, um dieses System aufrecht zu erhalten. Die Frage, wie Femizide abgeschafft werden können, muss für uns mit dieser Kritik beginnen.

Ruby: Unser Kampf ist also der Feministische Streik, das ist eine revolutionäre Perspektive, die die gesellschaftlichen Verhältnisse an sich in Frage stellt. Für uns geht mit der Benennung des Problems Femizid der Kampf erst richtig los. 

Soundcollage einer Platznahme am ehemaligen Karlsplatz, 27.9.2020. Zusammengestellt von Kerosin95.

Eine ganz kleine Frage zum Abschluss: Wie geht es mit der feministischen globalen Bewegung weiter?

Kaya: Die feministischen Kämpfe und der Austausch sind so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das blüht gerade auf. Auch in „Claim the Space“ kommen verschiedene Kämpfe zusammen, lateinamerikanische, kurdische oder türkische Gruppen sind Teil davon. Da gibt es viele Anbindungen innerhalb des Bündnisses. In diesem kleinen Kosmos zeigt sich, wie global die Kämpfe gerade geführt werden. Die Verhältnisse werden unerträglicher und feministische Kämpfe stehen dem in vorderster Reihe entgegen. Die Kombination ist sehr kämpferisch. 

Ruby: Die Bewegung kommt stark aus einem antikolonialen, antirassistischen und antikapitalistischen Kontext. Trotzdem müssen bei einer globalen Perspektive viele Aushandlungen über Widersprüche und Konflikte passieren. Der Feministische Streik bringt aber eine feministische Debattenkultur mit sich, die sehr viel Austausch zulässt. So können Räume entstehen, in denen zum Beispiel Kämpfe in Kolumbien und Kämpfe in Kurdistan miteinander ins Gespräch kommen. 

Kaya: Die globale Vernetzung zu intensivieren ist auch eines unserer Ziele für die Zukunft, um nicht beim Nationalstaat stehen zu bleiben. Ich sehe da ein großes Potential, Verhältnisse wirklich zu verändern.

Ihr wollt euch vernetzen? Jeden achten des Monats veranstaltet „Claim the Space“ ein offenes feministisches Treffen. Infos dazu findet ihr hier.

Interview: Sarah Yolanda Koss

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