Mit Ciao Chérie ist Nina Kusturica ein wunderbarer Spielfilm gelungen, der den Mikrokosmos eines kleinen Wiener Callshops einfängt. Der Film zeigt die vielen Beziehungen, die dort ermöglicht, erträumt, und verarbeitet werden, und erzählt sie mit schlauem Humor und Herz.
Der Ort, an dem sich alles abspielt, ist ein Callshop im 16. Wiener Gemeindebezirk. Es ist ein Ort der Vertrautheit und Anonymität zugleich. Reduziert auf diesen Schauplatz, liegt der Fokus des Films damit auf den Gesprächen, die dort stattfinden. Der Callshop scheint eine Konstante im Leben seiner Besucher*innen zu sein. Es ist ein Ort der Sehnsucht, den sie aufsuchen, um mit Leuten aus der Vergangenheit, Gegenwart, oder geplanter Zukunft Kontakt aufzunehmen. Er zeigt Telefongespräche, Gespräche unter Unbekannten, unter Freund*innen. Dabei fängt Ciao Chérie auch die Art von Gesprächen ein, die sich nicht nur in Worten erzählen lassen. Als Zuseher*innen verfolgen wir dadurch Alltagsleben, Träume, Geheimnisse, die gelüftet oder gut behütet werden und – nicht nur – eine unglückliche Liebe. Immer da ist die Ladenbesitzerin Larisa (Simonida Selimović), die oft mit einer Wahrsage-Hotline telefoniert. Sie hat dafür gute Gründe.
Raum für Auseinandersetzung
Der Schauplatz ist immer der Callshop. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – spannt sich ein ganz besonderer Raum auf. Dieser erstreckt sich aufgrund der vielen Beziehungen, in die wir eintauchen, rund um die Erde. Der Film erzählt uns vielfältige Geschichten, die er uns in in verschiedenen Sprachen näherbringt (keine Sorge, es gibt Untertitel). Wir wissen nicht immer, wohin die Gespräche gehen und können die Gesprächspartner*innen der geführten Telefonate nicht sehen, sondern nur hören. Das gibt Zuseher*innen den Raum, sich einen Teil der Geschichte selbst auszumalen. Ein Tonfall, eine Betonung oder ein Gesichtsausdruck können viel Bedeutung haben und verwickeln uns damit in eine intensive Auseinandersetzung mit den Protagonist*innen des Films.
Interessant ist die räumliche Inszenierung des Films auch deshalb, weil die Besucher*innen des Callshops zwar ständig ein- und ausgehen, aber das Publikum das Außenleben dieser Protagonist*innen nicht verfolgt, sondern im Callshop zurückgelassen wird. Deswegen baut sich der Rhythmus der einzelnen Schicksale allmählich auf und weckt bei Zuseher*innen eine Hoffnung auf Wiederkehr und die Fortsetzung der Geschichten. So entwickelt Ciao Chérie trotz der globalen Geschichten eine zärtliche Intimität.
Politische Intervention
In Zeiten, in denen das toxische politische Klima Österreichs dauerhaft Migration als aus der Kontrolle geratenes Problem inszeniert, leistet Ciao Chérie eine wichtige politische Intervention. Viele der Charaktere, die wir über die Gesprächsfragmente in der Telefonkabine oder beim alltäglichen Quatschen vor dem Kaffeeautomaten im Callshop kennenlernen, haben Migrationsbiografien. Die sind zwar im Film präsent, werden aber nicht zu einem allumfassenden Drama aufgebauscht.
Vielmehr zeigt der Film wie Menschen ihre Beziehungen zu Menschen und Orten – egal ob neu oder vertraut – über kurze oder lange Entfernung aushandeln und weiterspinnen. Die Darstellung kommt dabei ohne das übliche Figurenrepertoire aus, das Menschen mit dem Migrationslabel fixiert und Opferrollen oder Gefährlichkeit zuweist. Weil wir als Zuseher*innen aktiv in die Gespräche gezogen werden und diese die Handlung des Films bestimmen, werden andere Wahrnehmungsmuster möglich. Die Gespräche sind nicht zu hastig und geben Zeit, uns auf Komplexität einzulassen, mitzudenken, mitzufühlen, eine Art sympathisierende*r Zeug*in zu werden.
Das Leben ist komplex
Weil der Film die klassische Erzählung über das „Fremd“- und „Anders“-sein links liegen lässt, liefert er Stoff zum Nachdenken. Er fordert Offenheit ein und will uns nicht an einen bestimmten Punkt führen. Das erinnert in angenehmer Weise an die viel zu seltenen Filme, in denen es um queere Personen geht, ohne dass sich am Schluss irgendwer umbringen muss, Opfer einer Gewalthandlung mit dramatischem Ausgang wird oder die Entscheidung zwischen der heterosexuellen und der homosexuellen Beziehung das Hauptthema ist. Ähnlich dazu werden in Ciao Chérie nicht Abschiebungen, Übergriffe oder das Bangen um den Aufenthaltstitel gezeigt. Das heißt aber nicht, dass Gesellschaft und politische Realitäten außen vor gelassen oder romantisiert werden.
Ciao Chérie transportiert eine wichtige Message, die einfach klingt, aber im Mainstream noch immer nicht angekommen ist: Das Leben ist komplex und es braucht mehr Diversität in allen denkbaren Rollen. Er macht sichtbar, dass selbst in einem kleinen Mikrokosmos wie dem Callshop jede Menge Identitäten mit vielschichtigen und komplexen Biografien zusammenkommen, die im Kino dringend mehr Repräsentation brauchen. In diesem Sinn, unbedingt hingehen und weitersagen. Danke und: Ciao Chérie!
Alexandra König schreibt derzeit an ihrer Dissertation in Wien.
Veza Quinhones-Hall ist Buchgestalterin und lebt in Wien.