Die Euphorie scheint kein Ende zu nehmen: Christian Kerns neuer Stil als Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender begeistert Medien wie ParteifunktionärInnen. Sie lassen Kern im Jubel vieles durchgehen, was sie Faymann zurecht vorgeworfen hatten.
Der frenetische Jubel um den neuen SPÖ-Vorsitzenden nimmt in Teilen der Partei schon leicht bizarre Züge an. Fans nennen sich „Kernboy“ oder „Kerngirl“ und diskutieren angeregt die optischen Ähnlichkeiten ihres neuen Vorsitzenden mit Humphrey Bogart. Das lässt sich nur vor dem Hintergrund der jahrelangen schwarz-roten Lähmungs-Politik unter Werner Faymann verstehen. Einen wortgewandten Vorsitzenden mit Charisma, der der FPÖ Contra gibt und sich bei öffentlichen Auftritten nicht blamiert – so einen Vorsitzenden hat die SPÖ schon lange nicht mehr gehabt. Auch als Bundeskanzler macht sich Christian Kern bisher gut, seine Beliebtheits- und Glaubwürdigkeitswerte in der Bevölkerung sind hoch. Die neue „Coolness in der Politik“ eines twitternden Kanzlers scheint den Kerngirls und -boys zu reichen. Doch im Getöse des Jubelchors gehen kritische Töne unter.
Wo sind Faymanns KritikerInnen heute?
Dass Werner Faymann nicht mehr Parteivorsitzender ist, hat viele und gute Gründe. Für den Flügel liberaler SozialdemokratInnen in der SPÖ war wohl zuletzt die unmenschliche Asylpolitik samt „Notstandsverordnung“ treibende Motivation, Faymann loswerden zu wollen. Jene, die von Faymann „Haltung“ forderten, haben Kerns Antrittsrede ganz begeistert in den sozialen Medien geteilt. Darin ermahnte er die FPÖ, die Gewalt der Worte könne schnell zur Gewalt der Taten werden. Dass er gleich danach die Obergrenzen für neue Asylanträge verteidigte, die für Schutzsuchende an den Außengrenzen Europas auch zur Gewalt der Taten zählen, scheint das #TeamHaltung überhört zu haben.
Der abscheuliche EU-Türkei-Deal bleibt für Kern Arbeitsgrundlage. Dass an der türkischen Grenze Flüchtlinge erschossen werden, dass die Türkei Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung führt und dass Geflüchtete wieder in Länder zurückgeschickt werden, aus denen sie vor Tod, Bomben und Elend geflohen sind, scheint ehemalige KritikerInnen Faymanns nicht mehr zur innerparteilichen Revolte anzustoßen. Während Organisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ Kern öffentlich aufrufen, nicht dazu beizutragen, das Recht auf Asyl de facto abzuschaffen, verstummen viele kritische Stimmen in der Partei.
Genosse der Jung-Bosse?
Im sozial- und wirtschaftspolitischen Bereich ließ Kern zu Beginn mit klassenkämpferisch anmutenden Forderungen aufhorchen: Maschinensteuer, Arbeitszeitverkürzung, Vermögenssteuer – sozialdemokratische Urforderungen, denen der Koalitionspartner ÖVP schnell eine Abfuhr erteilte. Kerns aktuelle Forderungen haben die ÖVP wieder besänftigt und positive Reaktionen von Banken und Unternehmen hervorgerufen. Kerns Paket für Start-Up-Unternehmen wird 185 Millionen Euro kosten. Der Kurier-Journalist Michael Bachner bezeichnete den neuen SPÖ-Chef darauf hin als den „Genosse der Jung-Bosse“ und resümiert: „Der angesagte Klassenkampf im Nadelstreif findet nicht statt“. Dank degressiver Abschreibung von Maschinen soll künftig die „Steuerlast“ der Unternehmen minimiert werden. Finanziert werden soll das durch die „zu erwartenden Einsparungen im Pensionsbereich“.
Spätestens bei der gestern beschlossenen Reduktion der Bankenabgabe sollten wirklich alle kritischen SPÖlerInnen hellhörig werden. Diese sei notwendig, um angeblich drohende Banken-Abwanderungen zu verhindern. Im Jahr 2016 werden österreichische Banken 640 Millionen Euro in Österreich und 380 Millionen an einen EU-Fonds zahlen. 2015 blieben der österreichischen Banken-Branche nach Steuerleistung immer noch 3,7 Milliarden Euro Gewinn übrig. Zukünftig sollen die VerursacherInnen der aktuellen Krise in Österreich im Jahr weniger als 100 Millionen Euro an Abgabe zahlen, dafür eine Einmalzahlung in der Höhe von 1 Milliarde Euro leisten, die wiederum für Investitionen in Bildung und Forschung zweckgewidmet werden soll. Eine nachhaltige Finanzierung des Bildungssystems sieht anders aus.
Innerhalb der Partei
Parteiintern hat sich Christian Kern zu zentralen Fragen nicht geäußert. Kern duldet das rotblaue Projekt im Burgenland und Hans Niessls Ruf nach Kürzung der Mindestsicherung für Asylberechtigte. Kern nimmt den Landeshauptmann sogar zu einem Treffen mit FPÖ-Obmann Strache mit. Auch wenn Inhalte des Treffens nicht bekannt sind: Die Symbolkraft des FPÖ-Verbinders Niessl ist Kern definitiv bewusst. Währenddessen beschließt der steirische Landtag mit den Stimmen der SPÖ Kürzungen der Wohnbeihilfe und der Mindestsicherung – auch das wird kommentarlos geduldet, obwohl sich Kern stets gegen Sozialkürzungen aussprach. Und als der Linzer SPÖ-Bürgermeister Klaus Luger ankündigte, die Versammlungsfreiheit kurdischer AktivistInnen einschränken zu wollen und FunktionärInnen der SPÖ Linz die PKK als Terrororganisation bezeichneten wurden Bundesparteitagsbeschlüsse offen gebrochen – abermals gab es keine Reaktion der Bundespartei.
Die Glaubwürdigkeit der SPÖ als ArbeiterInnenpartei wird durch nette Zeitungsartikel und gute Umfragewerte alleine nicht zurückkehren. Solange es keine Distanzierung von jenen FunktionärInnen innerhalb der SPÖ gibt, die das Geschäft der GegnerInnen erledigen und kein grundlegender Politikwechsel in ökonomischen Fragen passiert, wird das Vertrauen nicht mehr zurückkehren.
#feeltheKern?
Obwohl Kern sich nicht dazu durchringen kann, die FPÖ als Koalitionspartnerin auf allen Ebenen auszuschließen, gelingt es ihm auch linke und progressive Kräfte zu begeistern. Nicht nur in der Personalpolitik, auch auf symbolischer Ebene. Und so ließen Vergleiche mit Bernie Sanders und Jeremy Corbyn nicht lange auf sich warten – trotz gravierender Unterschiede. Sowohl Sanders auch als Corbyn wurden durch Basiskampagnen und Bewegungen von unten dorthin gebracht, wo sie heute sind. Während Sanders trotz einer beispiellosen Bewegung wohl nicht demokratischer Präsidentschaftskandidat werden wird, ist es Corbyn mit Hilfe zehntausender HelferInnen gelungen, zum Vorsitzenden der Labour-Party gewählt zu werden.
Kern ist das Gegenteil davon. Er wurde nicht von SPÖ-Mitgliedern gewählt, sondern erst in den Medien präsentiert und dann ohne inhaltliche Diskussion im Parteivorstand abgesegnet. Inhaltliche Fragen und gesellschaftspolitische Positionierungen dürften bei der Entscheidung wenig Rolle gespielt haben. Corbyn stellte sich der Wahl der mehr als 500.000 Parteimitglieder, Labour-SympathisantInnen und Gewerkschaftsmitglieder und gewann mit breiter Unterstützung. Dieses Vertrauen der Basis schützt und stärkt Corbyn nun auch vor dem Putsch des rechten Parteiflügels. Einen vergleichbaren Rückhalt und Legitimität hat Kern nicht.
Bernie Sanders und Jeremy Corbyn waren lange in ihren Parteien bzw. als Abgeordnete aktiv, stellten dort immer den offen kritischen Flügel dar und stimmten auch gegen die Parteilinie. Beide waren über Jahrzehnte hinweg Verbündete sozialer Bewegungen. Der Labour-Chef war seit 2001 im Antikriegsbündnis Stop the War-Coalition aktiv, engagierte sich gegen Atomkraft und unterstütze die Anti-Apartheidsbewegung in Südafrika. Nicht zuletzt seine zentrale Rolle in der Bewegung gegen die Austeritätspolitik sicherte ihm Unterstützung in der Wahl zum Labour-Vorsitzenden. Auch Bernie Sanders war nicht nur Politiker, sondern auch Aktivist. Zahlreiche Fotos und Videos zeigen sein Engagement in sozialen Bewegungen und auf Streikposten seit den 1960ern. Dass man Kern als Verbündeten der PflegerInnen und KleinkindpädagogInnen im Kampf gegen steigende Arbeitsbelastung und schlechte Entlohnung sehen wird ist dagegen eher unwahrscheinlich.
Woran wird Kern zu messen sein?
Letztendlich wird Kern nicht an seiner Coolness zu messen sein, sondern daran, ob er es schafft, dem desaströsen Zustand der ArbeiterInnenbewegung und dem Rechtsruck in Österreich etwas entgegenhalten. Drei Aspekte wollen wir hervor greifen, die Gradmesser der positiven Trendwende in der Sozialdemokratie sein müssen:
- Mit seinem Auftritt bei der Regenbogenparade wollte Kern Offenheit und Liberalismus in gesellschaftspolitischen Fragen demonstrieren. Inwiefern er etwa die rechtliche Gleichstellung homosexueller Menschen im Eherecht und in Familienpolitik umsetzt, wird sich zeigen. Es wird darauf ankommen, auf die Umsetzung solcher Versprechen zu pochen.
- Die Anbiederung an die FPÖ muss ein Ende haben. Kerns Forderung eines „Kriterienkataloges“ für die Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen ist nichts anderes als eine Aufweichung der grundlegenden Position, dass eine sozialdemokratische Partei mit einer rechtsextremen Partei auf keiner Ebene zusammen regieren kann. Kern wird daran zu messen sein, wie er mit der menschrechtswidrigen „Obergrenze“ für Asylsuchende umgeht – denn für das Fortführen dieser Politik braucht es keine SPÖ in der Regierung. Auch wird es darum gehen müssen, Maßnahmen gegen Rassismus zu setzen und Schutzsuchenden gesellschaftliche Teilhabe (etwa durch Wahlrecht und Zugang zum Arbeitsmarkt) zu ermöglichen.
- Um den gesellschaftlichen Rechtsruck aufzuhalten muss Kern seine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik über- und ein weitreichendes Umverteilungsprojekt andenken. Dazu gehört auch die Rücknahme des Europäischen Fiskalpaktes, der einen grundlegenden Kurswechsel unmöglich macht.
New Deal mit der ÖVP?
Für den Herbst kündigt Kern einen „New Deal“ an – in Anlehnung an den „New Deal“ des US-Präsidenten Roosevelt in den 1930er Jahren. Ob die Regierung unter Kern die Arbeitszeit reduzieren wird, Erb- und Schenkungssteuern einführt, den Finanzmarkt reguliert und Arbeitsplätze über Investitionen in die soziale Infrastruktur schafft, werden wir sehen. Dafür braucht es ein entschlossenes Auftreten gegen fiskalpolitische Vorgaben der EU. Vereinfacht gesagt: Ohne Aufkündigung des Fiskalpakts wird es keinen New Deal geben können. Doch dass Kern die dafür notwendige klassenkämpferische Kritik an der EU übt, legen seine Kommentare zum Brexit leider nicht nahe.
Auch der Koalitionspartner wird Umverteilungsprojekte zu Ungunsten der Vermögenden nicht ohne Widerstand mit umsetzen. Kern wird sich entscheiden müssen, ob er seinen großen Worten, dass „am Ende des Tages Grundsätze vor reinem Machterhalt stehen“ auch Taten folgen lässt. Denn weder mit der ÖVP in einer Koalition noch mit den Rechtsauslegern in der eigenen Partei, wird die SPÖ jene Glaubwürdigkeit und Kraft erringen können, die sie zur erfolgreichen Thematisierung der sozialen Frage – gegen die FPÖ – benötigen würde.