Am Sonntag lehnte Chile eine neue progressive Verfassung mit deutlicher Mehrheit ab. In dieser Niederlage steckt aber auch ein Sieg, berichtet Nina Schlosser aus Santiago. Ohne soziale Bewegungen hätte es den damit verbundenen konstitutionellen Prozess gar nicht erst gegeben. Und abgeschlossen ist dieser Prozess noch lange nicht.
Als wäre nichts gewesen, geht am Montag nach der Wahl in Chiles Hauptstadt Santiago wieder alles seinen gewohnten Gang. Dabei fand am Vortag, und damit auf den Tag genau 52 Jahre nach dem Wahlsieg Salvador Allendes, eine nicht minder bedeutsame Wahl statt. Das Ergebnis dieser Abstimmung steht jedoch im harten Kontrast zum Wahlsieg des ersten demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten der Welt. 62 Prozent der 15 Millionen Wahlberechtigten stimmten gegen den Entwurf der Neuen Verfassung, die wahrscheinlich auch im Sinne Allendes gewesen wäre.
Dabei stammt die jetzige Verfassung noch aus der Zeit der Militärdiktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet. Sie sichert das neoliberale Wirtschaftsmodell Chiles bis heute ab. Dafür reduziert sie die Rolle des Staates auf ein Minimum und stellt ökonomische Interessen vor die Sicherung sozialer, politischer oder kultureller Rechte. So sind etwa Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge, ja sogar Wasser (fast) vollständig privatisiert. Soziale Ungleichheit und auch die Ausbeutung der Natur sind hingegen institutionell legitimiert. Vor knapp einem halben Jahrhundert setzte die Militärjunta nicht nur die Verfassung brutal durch. Sie schürte auch kollektive Angst, indem sie Andersdenkende verfolgte, folterte und ermordete. Heute fordern die jungen Menschen die Würde zurück, die ihren Eltern und Großeltern geraubt wurde. Und sie fordern ein gutes Leben für alle.
Bündnisbildung für den Systemwandel
Soziale Bewegungen kämpfen zwar nicht erst seit dem 18. Oktober 2019 für einen radikalen Systemwandel. Doch an diesem Tag begann der sogenannte estallido social (sozialer Ausbruch). Auslöser war die Erhöhung des Preises für ein U-Bahn-Ticket von umgerechnet vier Eurocents. Schüler:innen stürmten in die U-Bahn-Stationen der Hauptstadt, sprangen über Drehkreuze und boykottierten das ebenfalls privatisierte Transportsystem. Dabei riefen sie Parolen wie: „Evadir, no pagar, otra forma de luchar” („Schwarzfahren, nicht bezahlen, eine andere Form des Kampfes”). Dieser Kampf wurde zügig von Studierenden, Arbeiter:innen und Rentner:innen übernommen. Er breitete sich auch auf andere Bereiche sowie weitere Teile des Landes aus. Der estallido social, also der Ausbruch kollektiver Wut von Teilen einer repolitisierten Gesellschaft, mündete in der Solidarisierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Diese konnte auch massive Militärgewalt nicht unterbinden. Feministische Bewegungen verbündeten sich mit Umweltverbänden, Studierende mit Renter:innen, Lehrer:innen mit Lohnabhängigen und Gewerkschaften. Gemeinsam entfalteten sie Wirkmacht.
Neue Verfassung für ein neues Chile
Diesem breiten Bündnis ist es zu verdanken, dass dem Präsidenten am vierten Juli dieses Jahres der Entwurf für eine neue Verfassung überreicht werden konnte. Eine paritätisch besetzte verfassungsgebende Versammlung arbeitete die neue Verfassung innerhalb eines Jahres aus. Ohne die Proteste hätte es auch die Versammlung so nicht gegeben. Und die 388 Artikel des Textes, der es in Chile bis auf die Bestseller-Liste schaffte, könnten radikaler kaum sein. Nicht nur indigene Völker, die einen Anteil an der Bevölkerung von ungefähr elf Prozent ausmachen, sondern auch die Natur hätten zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte Rechte erhalten. Kinder, Jugendliche und Ältere wären besonders geschützt worden. Care-Arbeit, die vor allem kostenlos von Frauen im privaten Haushalt erledigt wird, wäre als Arbeit anerkannt und entlohnt worden. Chilen:innen hätten ein Mitbestimmungsrecht zugesichert bekommen, von einem in Artikel 1 festgeschriebenen sozialen Staat, der plurinational, interkulturell, regional und ökologisch gewesen wäre.
Ursprung der Ablehnung: Die Macht der Eliten
Doch wenig- bis falsch informierte Menschen entschieden sich in der Abstimmung gegen ein in Artikel 8 garantiertes gutes Leben. Grund dafür ist unter anderem, dass sich die ungleiche Machtverteilung in der Gesellschaft auch in den Medien widerspiegelt. Die Printmedien und TV-Sender, die nur wenigen milliardenschweren Familien Chiles gehören, die aber der Bevölkerungsmehrheit landesweit als Informationsquelle dienen, verbreiteten fake news und schürten Ängste. Das mühsam angesparte Eigentum würde ihnen weggenommen und über der gesamten Bevölkerung verteilt, hieß es. Chile würde sich ins nächste Venezuela verwandeln, es käme zu Lebensmittelknappheit und folglich Plünderungen, Ausschreitungen und Zerstörungen. Sicherheit gäbe es dann auch keine mehr, denn Chile wäre schließlich dem Kommunismus anheimgefallen.
Diese und weitere fake news einer gezielt eingesetzten Kampagne der Eliten, die bei dem geplanten radikalen Systemwandel einiges zu verlieren hätten, bedingte unter anderem die Wahlniederlage. Schwer wiegen auch die Befürchtungen der Mittelklasse, ihren materiellen Wohlstand zu verlieren. Einige Lohnabhängige und Teile der indigenen Bevölkerung sehen sich in der neuen Verfassung überhaupt nicht vertreten, verstehen Auszüge daraus nicht, finden sie zu schwammig oder lehnen sie schlicht ab.
Wie weiter?
Ersetzt soll die jetzige Verfassung trotzdem weiterhin werden. Am Tag nach der Wahl traf sich Präsident Boric mit den Parteien, um die nächsten Schritte zu besprechen, die die Konservativen allerdings (noch) nicht gehen wollen. Nun geht es um Dialog zwischen den Parteien, einen neuen konstitutionellen Kompromiss und die weitere Aufklärung des Volkes. Letzteres versuchen ein breites Bündnis aus sozialen Bewegungen und ihre zahlreichen Unterstützer:innen. Sie waren es, denen es bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung und der Präsidentschaftswahl noch gelang, die fake news-Welle zu durchbrechen. Ohne sie wäre Boric vermutlich nicht Präsident und ohne sie wäre Chile gar nicht erst so weit gekommen. Das weiß Boric auch, deswegen kooperiert er mit den Bewegungen. Aufgrund ihrer Informationskampagnen und breiten Mobilisierung hätten im Oktober 2020 fast 80 Prozent der Bevölkerung für Apruebo, also mit Ja zur neuen Verfassung gestimmt. Dahin gilt es zurückzukehren.
Denn es handelt sich hierbei um eine Wahlniederlage, nicht die Niederlage eines politischen Projekts, erklärt der Zusammenschluss sozialer Bewegungen, der den Verfassungsentwurf unterstützt (Moviemientos Sociales por el Apruebo). Zwar wird es nach dieser Wahl nicht unbedingt leichter, die Bevölkerungsmehrheit zurückzugewinnen. Linke Regierungsmehrheiten, getragen von sozialer Mobilisierung, besitzen immer noch das Potenzial, den Neoliberalismus endlich zu begraben, wie Boric bei seinem Amtsantritt Anfang März versprach. Denn die gesellschaftlichen Widersprüche die erst zum estallido social führten, bestehen ungelöst weiter.