Barbara Maldoner-Jäger und Ulla Häußle waren als Menschenrechtsbeobachter*innen in Chiapas, Mexiko. Ein Bericht über die Verteidigung von Autonomie und Gerechtigkeit, über die Geschichte der zivilen Beobachtungsbrigaden BriCOs und über ein Jubiläum.
„Lassen wir den Baum der Solidarität wachsen, um unsere Hoffnung zu schützen!“ Mit diesen Worten eröffnet Rosa vom Menschenrechtsrechtszentrum FrayBa Ende Februar die Feier zum 30-jährigen Bestehen der zivilen Beobachtungsbrigaden – kurz BriCOs. Wir befinden uns in San Cristóbal in Chiapas, dem südöstlichsten Bundesstaat Mexikos. Auf dem Podium des mit Zuhörer*innen gefüllten Innenhofs haben Kollektive aus Italien, dem Baskenland, Finnland und Österreich Platz genommen. Manche sind virtuell zugeschaltet. Sie alle besprechen aktuelle Herausforderungen in der internationalen Solidarität mit indigenen Widerstandsbewegungen , die für Autonomie, Würde und Gerechtigkeit kämpfen.
Die BriCOs (Brigadas Civiles de Observación) sind ein zentraler Baustein internationaler Solidaritätsarbeit. Francesca, die für Nodo Solidale aus Italien anwesend ist, beschreibt sie als eine Möglichkeit, um den Alltag organisierter Gemeinschaften (comunidades) zu teilen, von ihrer Autonomie zu lernen und dadurch die Kämpfe unterschiedlicher Länder, Kontexte und Zeiträume miteinander zu verbinden. Das ist auch einer der Gründe, warum wir aus Österreich nach Chiapas gereist sind. Für zwei Wochen hatten wir als Brigadistas die Möglichkeit, einen kleinen Einblick in diese autonomen und selbstbestimmten Lebensweisen zu erhalten. Sie zeigen, eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie existiert bereits: Demokratie von unten, auf Wiedergutmachung ausgerichtete Justizansätze, ein selbstorganisiertes Gesundheits- und Bildungswesen sind in den autonomen Gebieten Widerstandsstrategien und gelebte Realitäten.
Einsatzgebiet Acteal
Ein kleiner Sprung zurück: Knapp zwei Autostunden von San Cristóbal entfernt steigen wir aus dem Taxi aus. Wir befinden uns in Acteal. Hier werden wir die nächsten vierzehn Tagen als Menschenrechtsbeobachter*innen verbringen. Acteal ist keine Stadt und auch kein Dorf. Es ist das zeremonielle Zentrum und der Sitz des Regierungsrats – der Mesa Directiva – der pazifistischen Abejas (Bienen), die sich seit 1992 autonom organisieren. Aufgrund des Massakers, bei dem Paramilitärs am 22. Dezember 1997 45 Menschen getötet haben, sind die Menschen hier traumatisiert. Viele haben bei diesem Angriff Familienangehörige verloren. Trotz fortgesetzter Gewaltandrohungen halten die Abejas an ihrem Weg der Selbstverwaltung fest. Deshalb ist es wichtig und notwendig, dass Beobachter*innen hier sind.
Drei Mitglieder der Mesa Directiva, die für ein Jahr bestellt sind, begrüßen uns im Verwaltungsgebäude. Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der Abejas führt uns Juan, der Sekretär der Mesa Directiva und BriCOs-Verantwortliche durch Acteal. Hier hat jedes Gebäude eine Geschichte. Das Auditorium – eine große überdachte Freifläche für verschiedene Veranstaltungen – und die darunter liegende Krypta stehen am Beginn des Rundgangs. In der Krypta liegen die beim Massaker ermordeten Frauen, Kinder, Ungeborenen und Männer begraben. Mehrere Gebäude wurden in den letzten Jahren erneuert. Dazu zählen die Häuser mit den Räumen für die Mitglieder der Mesa Directiva und ihre Familien, für die BriCOs, für Gäste und Geflüchtete. Es gibt eine Bibliothek, eine Gemeinschaftsküche und die in Erweiterung befindliche Klinik. Unbedingt zu nennen ist die Ermita, die kleine Kirche. Sie war im Dezember 1997 Zufluchtsort und wurde beim Überfall der Paramilitärs für die Menschen zur tödlichen Falle.
FrayBa: Umfassende Menschenrechtsverteidigung
Zurück in San Cristóbal. Dort ist der Sitz der 1989 gegründeten NGO Fray Bartolomé de Las Casas – kurz FrayBa, die seit deren Gründung eng mit den Abejas zusammenarbeitet. Hier findet auch das zweitägige Vertiefungsseminar vor Beginn der Beobachtung für Brigadistas statt. Die baulichen Schutzvorkehrungen am Gebäude lassen erahnen, dass die Arbeit des Menschenrechtszentrums für viele äußerst unbequem ist und die Mitarbeiter*innen Risiken ausgesetzt sind.
Der BriCOs-Verantwortliche Rubén erklärt uns ausführlich das Tätigkeitsfeld des Zentrums: FrayBa interveniert bei Menschenrechtsverletzungen, sammelt und veröffentlicht Daten, gibt sie an die Presse weiter, konfrontiert den Staat mit seinen Verbrechen und Versäumnissen, reicht Klagen beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte ein, ist international bestens und breit vernetzt. FrayBa steht in engem Austausch mit indigenen Bewegungen und Dörfern im Widerstand. Der NGO ist es wichtig, nicht für diese zu sprechen, sondern Plattform und Knotenpunkt zu sein. Sie verstärkt deren Stimmen und macht die rasant ansteigende Gewalt öffentlich. Die Mitarbeiter*innen sind nicht nur Verteidiger*innen von Menschenrechten, sondern auch Teil des Kampfes der indigenen Gemeinschaften (pueblos indigenas).
Zapatistischer Aufstand und zivile Friedenscamps
Beim 30-jährigen BriCOs-Jubiläum, fasst Rosa die Geschichte der Menschenrechtsbeobachtung zusammen. Die Entstehung des Projekts der zivilen Friedenscamps, den Vorläuferinnen der BriCOs , ist eng mit dem zapatistischen Aufstand verbunden. Die indigene Rebellion richtet sich gegen neoliberale Ausbeutungsstrukturen, kolonialen Landraub und Vertreibungen. In der Silvesternacht 1994 erklärte die Nationale Zapatistische Befreiungsarmee (Ejército Zapatista de Liberación Nacional – EZLN) dem mexikanischen Staat den Krieg und lehnte sich gegen das in Kraft tretende nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA auf. Die mexikanische Regierung antwortete trotz vorgespielter Friedensverhandlungen mit der Militarisierung von Chiapas und dem Aufbau paramilitärischer Gruppen als Mittel der Aufstandsbekämpfung.
Der Widerstand der indigenen comunidades sollte durch einen Krieg niederer Intensität gebrochen und die Unterstützungsbasis zerstört werden. FrayBa hatte nicht die Möglichkeit alle Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Viele Dörfer waren schwer erreichbar. Gleichzeitig kamen viele Internationalist*innen nach Chiapas, um die zapatistische Rebellion zu unterstützen und davon zu lernen. Daraus entstand 1995 bei einem Treffen die Idee, Menschenrechtsbeobachter*innen in die besetzten und von Gewalt betroffenen Gebiete zu schicken, um dort als Augen und Ohren der Welt Zeug*innen zu sein.
Seitdem sind Beobacher*innen (Brigadistas) eine wichtige Strategie zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Internationale Präsenz soll einerseits Sicherheit vor Übergriffen von Seiten der Militärs und der Regierung geben. Andererseits soll verdeutlicht werden, dass weltweit beobachtet wird, was in Chiapas vor sich geht. Denn die Regierung Mexikos ist um ein demokratisches Bild nach Außen bemüht. Wir erfahren, dass auf Wunsch der comunidades seit damals in 140 Dörfern Camps errichtet wurden. In ihnen waren bislang 11.450 Brigadistas aus verschiedenen Ländern im Einsatz und trugen – in vielen Fällen – zu einer stabileren Sicherheitssituation bei.
Vorbereitung in Österreich: Rolle und Aufgabe der BriCOs
In vielen Ländern – auch in Österreich – gibt es Solidaritätskollektive, die mit FrayBa vernetzt sind. Sie bieten mehrtägige Vorbereitungsseminare an. Diese Vorbereitungsseminare sind eine Voraussetzung, um den Vertiefungsworkshop bei FrayBa und die Menschenrechtsbeobachtung in Chiapas zu machen. In diesen Seminaren setzen sich die Aktivist*innen und Interessierten detailliert mit den Aufgaben und der Rolle von Brigadistas auseinander.
BriCOs folgen dem Grundsatz der Nicht-Intervention. Sie greifen weder bei Konflikten innerhalb der Gemeinden, noch bei Angriffen von Außen ein. Sie sind keine lebenden Schutzschilder. Zu den Aufgaben gehören die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, die Beschreibung des Kontexts, in dem sie geschehen, und die Meldung von Übergriffen an FrayBa. Durch die physische Anwesenheit von Beobachter*innen konnte immer wieder eine Verminderung der Aggressionen erreicht werden. Die Inaktivität und der oft eingeschränkte Bewegungsspielraum ist für manche Brigadistas schwer auszuhalten. Aus Sicherheitsgründen, darf das Gelände meistens nicht verlassen werden. Es sei denn, die Beobachtungsaufgabe umfasst zum Beispiel die Begleitung zum Maisfeld.
Beim Vorbereitungsseminar ging es konkret um die Klärung, was unter Menschenrechtsbeobachtung verstanden wird und wie diese vor Ort abläuft. Die Geschichte, Gesellschaft, Politik Mexikos wurden beleuchtet und autonome Bewegungen vorgestellt. Erfahrungsberichte, gemeinsam erarbeitete Themen – wie die Reflexion von Privilegierungen, die Begegnung mit anderen Kulturen und Fremdheitserfahrungen –, Filme und Diskussionen waren ebenfalls Bestandteil der Vorbereitung. Alle Teilnehmer*innen erhalten am Ende eine Bestätigung (Aval), die bei FrayBa vorgelegt werden muss. Weitere Voraussetzungen für Brigadistas sind Spanisch-Kenntnisse und ein Mindestaufenthalt von drei Wochen in Chiapas.


Anhaltender Krieg gegen die indigene Bevölkerung
Beim Festakt thematisierten Compañer@s (Genoss*innen) am Podium auch die aktuelle Sicherheitssituation in Südmexiko. Sie hat sich seit 2021 durch konkurrierende Drogenkartelle weiter verschlechtert. Die Strukturen des organisierten Verbrechens breiten sich immer weiter in Chiapas aus. Durch die Zusammenarbeit des mexikanischen Militärs und die Komplizenschaft des Staates mit diesen kriminellen Strukturen, in denen sich auch ehemalige Paramilitärs reorganisieren, kommt es zu einer weiteren Zuspitzung. Sie alle sind verantwortlich für Vertreibung, Landraub und andere Formen von Gewalt. So entsteht erst die Grundlage , um wirtschaftliche Megaprojekte umzusetzen oder ehemals kommunal bewirtschafteten Boden zu kapitalisieren. Das ist wiederum ganz im Sinne transnationaler Unternehmen, die – so FrayBa – gemeinsam mit der Staatsgewalt und den Strukturen des organisierten Verbrechens das „Dreieck des Bösen“ bilden. Der Nationale Indigene Kongress (congreso nacional indígena – CNI), unter dessen Dach mexikoweit 45 der 68 indigenen comunidades organisiert sind, und FrayBa sprechen von einem Krieg gegen die indigene Bevölkerung.
Dass hier auch europäische Firmen mitmischen, wird am „tren maya“ deutlich: Dieses Prestigeprojekt in Südmexiko der amtierenden MORENA-Regierung missachtet die Rechte indigener Gemeinschaften, führt zu einem Anstieg militärischer Gewalt durch Vertreibungen und Verschwinden lassen und zerstört die Umwelt. Neben der österreichischen VOEST ist auch die Deutsche Bahn als Profiteur zu nennen, die dadurch eine Mitverantwortung an schweren Menschenrechtsverletzungen tragen.
Herausforderungen für die internationale Solidaritätsarbeit
Im Rahmen der 30-Jahrfeier ging es deshalb auch um die Frage, wo das Instrument der Menschenrechtsbeobachtung in der etablierten Form weiterhin funktioniert. Wo sind Adaptierungen notwendig und in welchen Gebieten ist der Einsatz der BriCOs wirkungslos oder zu gefährlich? Während Menschenrechtsbeobachtung eine wirksame Strategie gegen staatliche und ökonomische Gewaltformen ist, gibt es eine Grenze, wenn es um die Gewalt von Gruppen des organisierten Verbrechens geht. Deshalb erfolgt die Einschätzung sehr akribisch, in welche Dörfer Beobachter*innen entsendet werden. Derzeit sind es wenige. Gleichzeitig arbeitet FrayBa ständig am Ausbau tragfähiger Sicherheitsnetze. Während des Vertiefungsseminars bekamen wir beispielsweise detaillierte Informationen zur aktuellen Lage und zu roten Zonen. Auch Sicherheitsfragen haben wir ausführlich besprochen.
Von Österreich nach Chiapas: Kämpfe verbinden
Es ist eine prägende Lernerfahrung, für zwei Wochen an einem Ort zu leben, an dem sich die Menschen autonom organisieren, ihren Boden verteidigen, für ihre Rechte, für Frieden und Selbstbestimmung kämpfen. „Alles für alle, nichts für uns“, ist ein Grundsatz indigener Aufstandsbewegungen wie den Zapatistas, die sich schon seit Jahrzehnten – ähnlich wie in Kurdistan – jenseits staatlicher Strukturen organisieren. Menschenrechtsbeobachtung ist ein konkretes Instrument, um sich solidarisch zu zeigen. Sie bietet die Möglichkeit, sich mit anderen Formen politischer Organisierung auseinanderzusetzen, eigene Positionen zu reflektieren und nach der Rückkehr durch Berichte ein Stück Gegenöffentlichkeit mit aufzubauen. Damit werden jene Menschen ins Zentrum gestellt, gegen die der mexikanische Staat vorgeht, da sie sich gegen das kapitalistische System und andere Formen der Unterdrückung auflehnen, die die Lebensgrundlage von uns allen bedrohen.
„Wir schlafen besser, wenn Beobachter*innen anwesend sind“, so die Rückmeldung einer Frau in Acteal. Ein Compañero von FrayBa verabschiedete sich von uns mit den Worten: „Der Kampf findet hier und jetzt statt.“ Wir trennen uns als Verbündete mit dem Wissen, dass es wichtiger denn je ist, internationale Solidarität wieder aktiver zu leben, sowie Widerstände von unten und links zu verbinden – in Chiapas und in Österreich. Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben!
Titelbild: FrayBa
Ihr habt Interesse an den BriCOs Vorbereitungsseminaren in Österreich? Dann schreibt an diese E-Mail-Adresse: mex_soli_at@riseup.net. Vorbereitungsseminare in Deutschland findet ihr unter diesem Link. Weitere Informationen zum indigenen Widerstand und Möglichkeiten der Vernetzung bietet das Ya Basta Netz – Netzwerk für Solidarität und Rebellion.

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