Lehrerinnen im Interview: Nicht Kopftücher, fehlende Ressourcen sind das Problem an Brennpunktschulen

Medien und Politik machen muslimische SchülerInnen als größtes Problem an Österreichs Schulen aus. Die Bundesregierung will ein Kopftuchverbot an Volksschulen einführen. Wie sieht es vor Ort wirklich aus? Wir haben mit Isabella Ahmed und Anna Draxler* gesprochen, Lehrerinnen an sogenannten Brennpunktschulen in Wien-Favoriten und Simmering.

Vor kurzem ging ein Video des Mediums „Addendum“ durch die Sozialen Medien. Darin erklärt eine Wiener Lehrerin namens Susanne Wiesinger, dass die Situation an Wiener Schulen „außer Kontrolle“ sei. Grund sei die islamische Religion der SchülerInnen, denn: Von 24 Kindern in ihrer Klasse müssten 21 „erst integriert werden“. mosaik-Redakteur Martin Konecny sprach mit zwei Lehrerinnen, die an „Brennpunktschulen“ in den Wiener Bezirken Favoriten und Simmering unterrichten.

mosaik: Die Favoritner Lehrerin Susanne Wiesinger zeichnet ein düsteres Bild von Wiens Schulen. Insbesondere „der Islam“ ist laut ihr ein großes Problem. Entspricht das euren Erfahrungen?

Isabella Ahmed: Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich Frau Wiesinger nicht zustimmen. Ich unterrichte seit sieben Jahren an einer Schule im 10. Bezirk, das Wort „Sharia‘‘ fiel bis jetzt noch nie. SchülerInnen beschäftigen sich mehr oder weniger mit ihrer Religion, das betrifft SchülerInnen aller Glaubensbekenntnisse.

Anna Draxler: Seitdem ich das Video gesehen habe, überlege ich: Warum läuft es an der Schule im Nachbarbezirk so anders als bei uns? In meiner jetzigen Klasse an der NMS gibt es zehn verschiedene Erstsprachen. Die meisten Kinder sind aus muslimischen Familien. Einige sind noch nicht lange in Österreich. Manche Kinder sprechen noch nicht so perfekt Deutsch, jedoch bringen sie viele Sprachressourcen mit.

Auch bei uns gibt es oft Konflikte zwischen den Kindern: Jemand hat einen Zirkel ausgeborgt ohne zu fragen, einen anderen blöd genannt, beim Fußball spielen gefoult und vieles mehr. Was bei uns jedoch kein Streitthema ist: Religion, Herkunft und Kultur. Wenn es zur Sprache kommt, so ist es die Folge eines Streites, nie aber der Auslöser selbst.

Könnt ihr erzählen, wie der Alltag in euren Klassen aussieht?

Isabella Ahmed: An meiner Schule ist der MigrantInnen-Anteil sehr hoch, etwa 70 Prozent der SchülerInnen haben Migrationshintergrund und leben in zweiter oder dritter Generation in Österreich. Knapp die Hälfte der SchülerInnen sind MuslimInnen. Die nehmen ganz normal am Schulleben teil. Wir feiern zusammen Feste oder fahren gemeinsam auf Projektwoche, ohne dass hier die Religion im Weg steht.

Im Schulalltag macht sich das Praktizieren der Religion selten bemerkbar, eigentlich nur dann, wenn SchülerInnen in den Religionsunterricht gehen. Und beim Essen. Da wir eine Ganztagsschule sind, essen unsere SchülerInnen hier zu Mittag. Die meisten Gerichte werden so vielfältig angeboten, dass jeder Schüler und jede Schülerin eine ordentliche Mahlzeit bekommt. Manche SchülerInnen sind jedoch verunsichert und fragen oft zweimal nach, ob das Essen auch wirklich kein Schweinefleisch beinhaltet. Aber das betrifft genauso Kinder die sich vegetarisch oder vegan ernähren und genau über den Inhalt der Speisen informiert werden möchten. Das ist ganz normal.

Das klingt jetzt sehr positiv. Gibt es gar nicht so viel Konflikte und Probleme, wie berichtet wird?

Anna Draxler: Ich bin Lehrerin an einer Wiener NMS im 11. Gemeindebezirk, an einer so genannten Brennpunktschule. Ich mag meinen Beruf, aber ich erzähle mittlerweile nicht mehr so gern von meiner Arbeit, denn es werden mir immer wieder die gleichen Fragen gestellt. Ist es sehr anstrengend? Gibt es viele Konflikte „wegen den ganzen Kulturen“? Sind in der Schule viele Flüchtlinge? Bin ich schon einmal von einem Kind beschimpft, bedroht oder geschlagen worden?

Ja, sage ich meist darauf, es ist sehr anstrengend. Aber die Kinder sind nicht das Problem. Das eigentliche Problem ist, dass wir viel weniger Ressourcen zur Verfügung haben als wir bräuchten.

Isabella Ahmed: Konflikte gibt es sicherlich in jeder Klasse in Österreich. Ich bezweifle, dass eine Lehrerin in Tirol oder Salzburg konfliktfreie Stunden hält. Die größte Herausforderung für uns LehrerInnen sind verhaltensauffällige SchülerInnen. In der Regel sind familiäre Probleme zu Hause der Anlass.

Manche Jugendliche kämpfen mit einem zerrütteten Elternhaus, einem gewalttätigen Vater oder sie verweigern das ganze Schulsystem aus einem bestimmten Grund. Für solche Fälle kommt zwar ein Schulpsychologe einmal pro Woche, aber der einzelne Schüler oder die Schülerin kommt dann nur einmal im Monat dran. Das ist zu wenig.

Also hat Frau Wiesinger unrecht, wenn sie davon spricht, dass sie von 24 Kindern in ihrer Klasse 21 erst integrieren muss?

Anna Draxler: Sie spricht von Kindern, die in Österreich geboren sind, StaatsbürgerInnen sind, die die hiesige Kultur mitprägen und die Zukunft unserer Gesellschaft sind. Wohin müssten die erst integriert werden? Ich habe keine genaue Vorstellung davon, wie ein integrierter Mensch zu sein hat. Ich hoffe, die Kriterien gehen über akzent- und fehlerfreies Deutsch, einen Namen zu haben, den meine Oma auch aussprechen kann, und eine helle Hautfarbe hinaus.

Selbstverständlich sollten wir als Gesellschaft den Rechtsstaat bewahren und an unseren Grundwerten festhalten, an Gleichberechtigung beispielsweise, oder Toleranz und eben auch Religionsfreiheit. Je mehr man das Trennende über das Gemeinsame stellt, desto eher drängt man MigrantInnen erster und zweiter Generation in eine Position, in der sie sich über eben dieses Trennende definieren müssen. Auf beeinflussbare Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität trifft das wohl noch mehr zu als auf andere Menschen.

In den Medien sind immer die SchülerInnen das Problem. Gibt es nicht auch ProblemlehrerInnen, etwa solche, die ihre Vorurteile in die Schule tragen?

Anna Draxler: Ja, das gibt es leider. Oft ist das eine Generationenfrage. Je jünger und gemischter die LehrerInnen an einer Schule sind, desto offener ist der Umgang mit SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Oft entwickeln LehrerInnen, die schon lange im Dienst sind, einen gewissen Tunnelblick. SchülerInnen beschweren sich oft bei mir, dass sie von bestimmten LehrerInnen diskriminiert werden. Aussagen wie: „Na, wenn dir heiß ist, ziehst halt das Kopftuch aus‘‘ kommen leider vor. Es gibt auch LehrerInnen, die muslimische SchülerInnen während der Fastenzeit Ramadan zu überzeugen versuchen, etwas zu essen oder zu trinken. Lassen sich diese nicht überzeugen, so werden im Turnunterricht extra anstrengende Übungen angeordnet, haben einige SchülerInnen berichtet.

SchülerInnen müssen in der Schule einen Raum erleben dürfen, in dem ihnen unvoreingenommen begegnet wird und ihnen alle Chancen offen stehen. Schule muss der Ort sein, an dem SchülerInnen den Umgang mit Vielfalt, Toleranz und Demokratie erlernen. Das muss von ganz oben, sprich von der Direktion immer wieder kommuniziert und muss sowohl von den Lehrern und Lehrerinnen gelebt werden, bis hin zum Schulwart und dem Reinigungspersonal. Er darf keinesfalls ein Ort sein, an dem Lehrer und Lehrerinnen die SchülerInnen zum Problem erklären und sie für die Bildungsmissstände verantwortlich machen, wie Frau Wiesinger dies durch ihre Aussagen gemacht hat.

Ihr sprecht das Problem mangelnder Ressourcen an. Was fehlt eurer Meinung nach?

Isabella Ahmed: Seit Jahren wird an der Bildung gespart, man schaue sich nur die neuen Pläne der derzeitigen Regierung an. Teamteaching-Stunden (zwei LehrerInnen unterrichten gemeinsam, Anm.) sollen wieder wegfallen, auch notwendige Deutschstunden werden gekürzt. Es läuft auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft hinaus. Seit Jahren weigert sich die Politik, eine Gesamtschule einzuführen.

Für mich hat es den Anschein, als sollte diese Zwei-Klassen-Gesellschaft mit allen Mitteln aufrechterhalten werden. Wir wissen aus Statistiken, dass sozial schwache Bildungsverhältnisse vererbt werden. Somit wird eine Ayşe oder ein Ali nicht träumen dürfen, vielleicht einmal die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident von Österreich zu werden.

 

Interview: Martin Konecny

Anna Draxler*, 35, wohnt in Niederösterreich, hat Lehramt am Zweiten Bildungsweg studiert und unterrrichtet derzeit an einer NMS im 11. Bezirk in Wien.

Isabella Ahmed*, 33, hat Lehramt Deutsch/Geschichte studiert und unterrichtet derzeit an einer NMS im 10. Bezirk in Wien.

*Die Namen der Lehrerinnen wurden auf ihren Wunsch geändert.

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