Wie sich Brasiliens Eliten mit Gewalt an die Macht klammern

Der erste Generalstreik in Brasilien seit 21 Jahren wurde von den Eliten brutal unterdrückt. Zu den Hintergründen gehören die Kürzungspolitik einer desaströs unbeliebten Regierung, brutale Gewalt gegen Indigene und ein gigantischer Korruptionsskandal, erklärt Barbara Stefan.

Am 26. April 2017 riefen in Brasilien zahlreiche Gewerkschaften zum ersten Generalstreik seit 21 Jahren auf. Der Streik richtet sich gegen die Regierung von Präsident Michel Temer. Er ist ungewählt seit mehr als neun Monaten im Amt, nachdem das Parlament die mitte-links Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt hatte. Auch die feministische 8M-Bewegung und 34 Organisationen des anti-rassistischen “movimento negro” unterstützten den Streik. Sie leiden neben den Indigenen am meisten unter der – in ihren Worten –  “Regierung der Rassisten und des Genozids”.

Eine neue Qualität der Gewalt

Der breiten gesellschaftlichen Mobilisierung begegnete die Polizei mit brutaler Repression. Angemeldete, friedliche Kundgebungen wurden vom ersten Moment an mit Tränengas, Pfefferspray, Schreckbomben, Gummigeschoßen und dem Einsatz von Schlagstöcken unterdrückt. Zahlreiche Videos belegen eine Eskalation, die eindeutig von der Polizei ausging. In Sao Paulo und Rio wurden Demonstrationen strategisch von der Polizei eingekreist, um sie zu attackieren. Die Stadtzentren glichen einem Kriegsgebiet. DemonstrantInnen reagierten, indem sie auf der Flucht brennende Straßensperren errichteten. Schon am Vortag stellten konservative Politiker die Streikenden als VagabundInnen und FaulenzerInnen dar. Wer am Generalstreik teilnehme, solle seine Beschäftigung verlieren, meinte etwa der Bürgermeister von Sao Paulo.

Regierung der Kürzungspolitik

Der Generalstreik richtete sich gegen das harte Kürzungsprogramm, das die Regierung seit neun Monaten durchpeitscht. Die Sozialhilfe für Familien wird stark eingeschränkt. Die “Bolsa Familia” wurde an Frauen ausgezahlt und stärkte sie so sozial. Sie sind von der Kürzung besonders betroffen. Öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Erziehung und Soziales wurden für die nächsten 20 Jahre eingefroren. Die sogenannte „Tertiärisierung“ – auf Deutsch Scheinselbständigkeit – wurde ausgeweitet. Unternehmen können nun ohne Einschränkungen alle Arbeitskräfte als LeiharbeiterInnen anstellen und ihre Anstellungen sogar an andere Unternehmen auslagern. ArbeiterInnen werden so zur Verschubmasse für UnternehmerInnen.

Konkreter Anlass für den Generalstreik war die nun geplante „Arbeitsreform“ sowie die Reform des Pensionssystems. Das bereits sklavenähnliche Arbeitsrecht soll damit weiter verschärft werden, indem unter anderem die wöchentliche Arbeitszeit von 44 auf 48 Stunden und die maximale Arbeitszeit pro Tag auf 12 Stunden angehoben werden sollen. Zudem ist geplant, das Pensionsantrittsalter sowie die notwendigen Beitragsjahre zu erhöhen.

Historisch ist die Kombination von liberaler Wirtschaftspolitik mit politischer Repression, und der Versuch gleichzeitig nach außen ein „demokratisches Gesicht“ zu wahren, kein Novum. Was passiert jedoch, wenn das nicht mehr möglich ist?

Korruptionsnetz zieht sich durch die gesamte Elite

Würden nächste Woche demokratische Wahlen nach liberalem Vorbild stattfinden und das Justizsystem gemäß bürgerlichen Idealvorstellungen funktionieren, müsste kurze Zeit später die gesamte ökonomische und politische Elite Brasiliens im Gefängnis landen. Sie ist in einen Korruptionsskandal nie dagewesenen Ausmaßes verwickelt, der die gewissenlose Selbstbereicherung der Machthabenden sichtbar macht. Seit Beginn des Verfahrens wurde gegen mehr als tausend Personen ermittelt, darunter über 400 mit politischen Ämtern.

Im Mittelpunkt steht seit geraumer Zeit der Baukonzern Odebrecht. Dutzende ManagerInnen sagten in der Hoffnung auf Straferleichterungen aus. Der Konzern erkaufte sich mit viel Geld öffentliche Aufträge, Gesetzesänderungen, ein wegsehendes Finanzamt, öffentliche Fördergelder und generell alles, was man von der öffentlichen Hand eben so braucht. Das Korruptionsnetz war so umfassend, dass eine eigene Abteilung mit Angestellten und spezieller Software die Geldströme administrierte. Erst am 11. April wurden basierend auf dem 900-stündigen „Tutorial für Korruption“ – so nannten die Medien die Aussagen – neue Ermittlungsverfahren eingeleitet: auf der Liste stehen acht Minister, 24 Senatoren, 39 Abgeordnete, drei Gouverneure und weitere 200 Verdächtige aus konservativen Parteien und auch der traditionellen ArbeiterInnenpartei, darunter vier ehemalige PräsidentInnen.

Vertreibung und Widerstand der Indigenen

Der Kampf gegen die Kürzungspolitik der Regierung Temer verbindet sich mit dem Kampf um die Rechte der Indigenen. Vergangene Woche versammelten sich tausende Indigene zu einem beeindruckenden mehrtägigen Protest vor dem Kongress. Auch hier antwortete die Regierung mit Gewalt. Die Bilder der Polizeigewalt gingen um die Welt. Die Polizei beschoss die Menschen mit Tränengas und Gummigeschoßen. Hintergrund ist ein Angriff auf die Gebiete der 305 verbleibenden indigenen Völker Brasiliens. Diese sollen für die Profitinteressen von Agrar- und Bergbaukonzernen geöffnet werden.

Schockierendes Beispiel dafür ist die geplante Umwidmung eines Reservats im Amazonas -Regenwald zum Abbau von Gold, Titan und Phosphat. Das Gebiet ist mit 46.000 Quadratkilometern Fläche mehr als halb so groß wie Österreich. Für den Profit einer Handvoll großer Unternehmen sollen Indigene ihre Heimat verlieren, Regenwald gerodet und der seit 30 Jahren verbotene, umweltbelastende Abbau von Gold in der Region wieder erlaubt werden. Zum Vergleich: Das bekannt gewordene und vielumkämpfte Staudammprojekt von Belmonte betraf “nur” 516 Quadratkilometer.

Um Indigene von ihrem Land zu vertreiben, heuern landwirtschaftliche Gewerkschaften, Agro-Konzerne und Lokalpolitiker private Sicherheitsfirmen und Privatmilizen an. Diese bedrohen, verstümmeln und ermorden Menschen und versuchen so, sie zu vertreiben. Ládio Veron, ein Vertreter des Guarani-Kaiowa Volks aus dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul, reist aus Verzweiflung und auf der Suche nach Solidarität für sein Volk sogar nach Europa, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Auch in Wien und Graz wird er Halt machen. Auf den umkämpften Gebieten will die Agroindustrie vor allem Soja anbauen, das auch in der österreichischen Viehzucht zum Einsatz kommt.

Fehlende Strategie und Angst der Herrschenden

Die Repression der Herrschenden hat in Brasilien mit der Antwort auf den Generalstreik und auf den indigenen Protest ein neues Level erreicht. Angesichts der sich nähernden Wahlen 2018 und des aufgedeckten Korruptionsnetzes steht die Gewalt für zweierlei: Erstens für das Fehlen einer klaren politischen Strategie einer Elite, die ihre Legitimität verloren hat. Aktuell unterstützen nur 10 Prozent der WählerInnen die Regierung. Zweitens für die Angst vor den Folgen des drohenden Machtverlusts.

In Anbetracht der Unfähigkeit der gierigen Elite bilden sich vielversprechende linke Projekte heraus und neue Kollektive werden gegründet. In Städten wie Sao Paulo ruft die „Bewegung der ArbeiterInnen ohne Dach“ zu Versammlungen auf. LehrerInnen und ProfessorInnen – die eine zentrale Rolle im Generalstreik spielten – schließen sich zum Widerstand zusammen. Gemeinsam mit feministischen, anti-rassistischen und indigenen Bewegungen mobilisieren sie zum Widerstand.

Barbara Stefan, Dissertantin am Institut für Politikwissenschaft, forscht zur Rolle von sozialen Bewegungen in Österreich.

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