Politischer Aktivismus darf nicht lebensgefährlich sein

Pandemie und Politik verstärken gesellschaftliche Spaltungstendenzen und befeuern so auch die Gewalt gegen Aktivist*innen im Lobaucamp, schreiben Johanna Muckenhuber und Reza Nourbakhch-Sabet.

Mitternacht am Protestcamp in der Lobau: Acht Aktivistist*innen sitzen in einem selbst errichteten Holzturm. Zumindest eine Person nähert sich dem Turm, gießt Brandbeschleuniger auf die Holzvorräte und den Turm. Bei der Entzündung hören die Aktivist*innen einen dumpfen Knall. Es wird hell. Anfangs gehen sie noch von einer Silvesterrakete aus, doch schnell wird ihnen klar, dass es um Leben und Tod geht. Der Turm brennt lichterloh. Die Aktivist*innen flüchten barfuß ins kalte Freie.

Was sich wie aus dem Drehbuch zu einem schlechten Actionfilm liest, hat sich in Wien in der Nacht auf den 31. Dezember 2021 zugetragen. Doch zunehmende Gewalt macht sich nicht nur auf den besetzten Baustellen in Hirschstetten bemerkbar. Anti-Maßnahmendemos werden teilweise von verurteilten Neonazis angeführt, Mordaufrufe sowie die Gewalt gegen Journalist*innen und Ärzt*innen gehören fast schon zur Normalität. In diesem sich zuspitzenden gesellschaftlichen Klima stellt sich die Frage: Wie erklärt sich dieser gewaltbereite Extremismus?

Spaltungstendenzen: Erklärungen für Gewalttaten

Antworten darauf finden sich unter anderem in einer psychologisch-psychodynamischen Perspektive auf die Pandemie: Die Pandemie verstärkt gesellschaftliche Spaltungstendenzen und Radikalisierung. Sie verstärkt das Phänomen einer Abgrenzung unterschiedlicher Gruppen voneinander. Eine „Ingroup“ distanziert sich von einer „Outgroup“: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Dies geht einher mit einer zunehmend gewaltbereiten Sprache gegenüber Andersdenkenden. Die Maßnahmen zur Kontaktreduktion intensivieren das – es fehlt der Austausch mit Andersdenkenden jenseits von virtuellen Echoräumen und Filterblasen. Auch innerpsychisch zeigt sich eine entsprechende Psychodynamik. Das heißt eine Dynamik widersprüchlicher Wünsche und Bedürfnisse im Inneren einer Person, die teilweise schwer zu ertragen ist. Diese Widersprüchlichkeit wird als Abwehrreaktion auf andere Menschen projiziert, um sie nicht als Teil der eigenen Person anzuerkennen und aushalten zu müssen. Anstatt sich selbst und die Anderen als komplexe Personen mit unterschiedlichen Seiten, guten wie bösen Anteilen zu erleben, werden andere Personen entweder als „nur gut“ oder aber als „ausschließlich böse“ wahrgenommen.

Zuspitzung durch Coronamaßnahmen

Zusätzlich erschweren die Coronamaßnahmen innerpsychischen Ausgleich, indem sie erprobte Bewältigungsstrategien des Aggressionsabbaus verhindern. Derart angestaute und unbearbeitete Aggressionen sind schwer auszuhalten und werden auf andere, unliebsame Personen projiziert. Ein Zusammenspiel aus den beiden Mechanismen der Spaltung und der Projektion kann reale Gewaltakte befördern. Ein gesellschaftliches Klima der Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung verstärkt diese Tendenz. Im Fall der Lobau-Proteste hat die Wiener Stadtregierung mit den Klagsdrohungen gegen Aktivist*innen dazu beigetragen. In diesem zugespitzten gesellschaftlichen Klima radikalisierte sich vermutlich auch der*die Lobauattentäter*in.

Das Schweigen der Politik

Die Politik ist gefordert, den oben dargestellten Spaltungstendenzen entgegenzutreten. Dafür muss sie kommunikativ einen Raum eröffnen, in dem es zwar Interessensgegensätze wie zwischen dem Bürgermeister und den Aktivist*innen geben kann, in dem aber gleichzeitig alle Beteiligten mit ihren legitimen Interessen bestehen können. Es sollte also die Spaltung in gute und böse Menschen aufgelöst und ersetzt werden durch eine differenzierte Betrachtung aller Beteiligten – gerade weil Gewaltbetroffene Sicherheit und Unterstützung für die Bewältigung des Erlebten benötigen. Politische Entscheidungsträger*innen können mit einer eindeutigen Verurteilung einen diskursiv sicheren Raum schaffen – so fördert man ein solidarisches Klima.

Ein sicherer Raum

Für die Aktivist*innen, die sich mit ihrem legitimen politischen Protest in Lebensgefahr begeben, muss so schnell wie möglich ein sicherer Ort geschaffen werden. In einem demokratischen Land muss die Politik gewährleisten, dass Aktivist*innen auch im öffentlichen Raum sicher sind. Unabhängig davon, ob den Regierenden die konkreten Inhalte des politischen Aktivismus zusagen oder nicht. Zur Prävention posttraumatischer Belastungsreaktionen bei den betroffenen Aktivist*innen ist eine psychotherapeutische Betreuung essentiell. Dieses Angebot hätte es , anstelle der Spaltungstendenzen, von offizieller Seite geben müssen. In den meisten Krisen werden routinemäßig auf Anforderung von Polizei, Feuerwehr, Rettung oder Ämtern wie auch Ministerien Kriseninterventionsteams alarmiert. Warum dies im konkreten Falle unterlassen wurde und sich die Aktivist*innen ehrenamtlich arbeitende Therapeut*innen organisieren mussten, ist uns unverständlich.

„Einen Orden für den Täter“

Schlagzeilen machte die Aussage des ehemaligen Sektionschefs der SPÖ-Donaustadt, der in einer Facebookgruppe „einen Orden für den Täter“ des Brandanschlags forderte. Auch bei Bürgermeister Ludwig und anderen politischen Entscheidungsträger*innen fehlte eine klare Benennung und Verurteilung des Brandanschlags. Aus dem Rathaus warf man den Aktivist*innen schlicht vor, einen „rechtsfreien Raum“ geschaffen zu haben. Wir empfehlen daher, sich in dieser Situation auf die Worte von Rosa Luxemburg zu berufen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

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