Anfang August gab Rechtsanwalt Ronald Frühwirth bekannt, seine Kanzlei zu schließen. Auf Asylrecht spezialisiert, verlor er den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit. Im Interview mit Angelika Adensamer und Levin Wotke spricht er über Wendepunkte in der Rechtsprechung und warum er heute eher Schwimmkurse belegen, als Jus studieren würde.
Mosaik: Du hast vor kurzem bekannt gegeben, deine auf Asylrecht spezialisierte Kanzlei nach vierzehn Jahren anwaltlicher Tätigkeit zu schließen. Du schreibst dabei, dass du nicht mehr Teil dieses Rechtssystems sein willst. Was meinst du damit?
Ronald Frühwirth: Ich habe das eingeschränkt auf den Asylrechtsbereich bezogen. Als Rechtsanwalt bin ich Teil des Justizapparats. Die Menschenrechtsarbeit, die ich mache, mache ich in einem System, das – was das Asylrecht betrifft – mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun hat. Dazu bräuchte es nämlich als Mindestmaß Entscheidungen, die juristisch begründet sind. Und das, was sie am Verwaltungsgerichtshof (VwGH) inzwischen betreiben, ist nur noch Rechtspolitik. Das ist eine Form des Asylsystems, die ich nicht repräsentieren will.
Wie hast du diese Veränderungen wahrgenommen? Ging das schleichend?
Ich glaube, es ist Schritt für Schritt schlimmer geworden, aber es gab auch Einschnitte, wie die Judikaturänderung 2017 zu Afghanistan. Da wurden Abschiebungen nach Afghanistan plötzlich wieder möglich, weil das Abkommen zwischen der EU und Afghanistan geschlossen wurde. Das hat nichts mit der Situation in Afghanistan selbst zu tun, aber angesichts der Möglichkeit, dass man Menschen nach Afghanistan abschieben kann, hat sich die Praxis bis zu den Höchstgerichten geändert. Und das, ohne es irgendwie zu erklären. Es wurde das Konstrukt gebaut, von einem jungen, gesunden, alleinstehenden, arbeitsfähigen Mann, der, auch wenn er niemals zuvor in Afghanistan aufhältig war, jetzt in Afghanistan Fuß fassen kann, ohne in eine existenzbedrohende Lage zu geraten.
Wie erklärst du dir diese Veränderungen in der Rechtsprechung?
Nachdem der Menschenrechtssommer 2015 – wie man gesagt hat – vorbei war, ist es auch mit dem VwGH runter gegangen. Die gesellschaftliche Stimmung kommt beim VwGH an. Ich denke, dass es einen Zusammenhang gibt, damit, dass gleich nach Amtsantritt der letzten Regierung 2017 Strache öffentlich hinausposaunt hat, man wolle die Befassung des VwGH mit Asylsachen überdenken und die außerordentliche Revision [Anm.: Ein Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts] im Gesetz streichen. Der VwGH hat sich damals auch sofort dazu geäußert. Er hat betont, wie wichtig seine Funktion im Rechtsstaat ist und wie wichtig es ist, dass er Kontrolle über all diese Verfahren ausüben kann. Tatsächlich hat es dafür nie einen Gesetzesentwurf gegeben. Aber dieses Damoklesschwert „Wir nehmen euch die Asylkompetenz weg“ war für den VwGH wohl ein Bedrohungsszenario. Ich habe den Eindruck, dass er seither noch stärker bestrebt war, zu zeigen, dass er auf Linie des Innenministeriums ist.
Könnte sich das unter einer anderen Regierung dann nicht auch wieder ändern?
Das ist schwer zu sagen. Natürlich agiert ein Gericht unabhängiger, wenn es nicht die Befürchtung hat, teilweise ausgeschaltet zu werden. Es hat aber auch mit dem Selbstverständnis eines Gerichtes zu tun, ob man sich derart unter Druck setzen lässt oder seine Aufgabe vielmehr darin wahrnimmt, dagegen zu steuern.
Du hast erwähnt, dass es schwer war, den Klient*innen das Recht zu erklären, ohne sich damit zu identifizieren. Wie macht man das?
Es ist mir zunehmend schwergefallen. Ich bin dagesessen, habe den Klient*innen erklärt, was der VwGH entschieden hat und habe mich dafür geschämt. Die Verzweiflung und Fassungslosigkeit in den Gesichtern, dass es jetzt vorbei ist, weil das jetzt der letzte Schritt beim Höchstgericht war, der Handschlag beim Verlassen der Kanzlei und das Wissen: Diese Person irrt jetzt herum in anderen Staaten, wird abgeschoben und wenn sie Pech hat landet sie in Afghanistan, aber jedenfalls werde ich nicht mehr von ihr hören. Das wollte ich nicht mehr. Wenn ich diese Begründungen des Gerichts gelesen habe, hat meine Halsschlagader vor Wut gepocht und dann musste ich mich auch noch hinsetzen und das erklären.
Gab es Fälle, die dich besonders berührt haben?
Ja, ein paar. Vor allem in letzter Zeit. Ich habe immer öfter in der Revision keine aufschiebende Wirkung [Anm.: bei Rechtsmitteln gegen Entscheidungen verhindert diese die Umsetzung des angefochtenen Urteils bis zur endgültigen Entscheidung, was etwa bei Abschiebungen essentiell ist] bekommen. Die Gerichte lassen inzwischen selbst die Entscheidung über die aufschiebende Wirkung oft wochenlang liegen. Dann ist der Mandant festgenommen worden.
Alle Praktiker*innen im Asylbereich können bestätigen: Wenn ein Fall beim VwGH liegt und man ruft an, dann erhält man in der Regel diese aufschiebende Wirkung, weil man auch dort nicht will, dass jemand abgeschoben wird, bevor die Sache inhaltlich entschieden ist. Das war das erste Mal in meiner Karriere, dass ich angerufen habe, gesagt habe, dass der Mandant abgeschoben wird und ich vom Gericht trotzdem die Nachricht bekommen habe: Ich kriege heute nichts mehr. Das war das erste Mal, dass ein Klient abgeschoben worden ist, und der VwGH es nicht für notwendig erachtet hat, sich mit dem Antrag auf aufschiebende Wirkung zu befassen. Da habe ich mir gedacht: Bist du deppert, da weht ein harter Wind. Es ist auch rechtsstaatlich ein Wahnsinn.
Welche politischen Möglichkeiten bleiben uns, wenn das Recht nicht mehr als Recht angewandt wird?
Diese Frage beschäftigt mich massiv. In den vergangenen Jahren habe ich gedacht, dass ich auf diesem Weg meinen Beitrag leisten kann, ich habe ihn auch als sehr effektiven Weg gesehen. Diesen Glauben habe ich verloren. Das politische Klima und die Strukturen in Österreich haben mich daran zweifeln lassen, dass man Rechtsstaatlichkeit nur in Form von Gesetzen schaffen kann. Ich war immer der Meinung, dass es eine unabhängige Justiz braucht, um rechtsstaatliche Strukturen zu verankern, auch wenn es Gesetze braucht, die der Justiz den nötigen Freiraum schaffen.
Diesen Freiraum haben die Gerichte und auch der VwGH kann nicht behaupten, dass er ihn nicht hätte. Man hätte das Bedrohungsszenario der FPÖ einfach weniger ernst nehmen können. Aber wenn die Gerichte diesen Freiraum nicht nutzen, dann weiß ich nicht mehr weiter. Ich sehe auch keine persönliche Alternative. Ich würde im Moment niemandem raten, in Österreich einen Asylantrag zu stellen. Es kann niemand garantieren, dass man seinen Anspruch auf Asyl durchsetzen kann.
Würdest du es rückblickend anders machen?
Über die Jahre meiner Ausbildung habe ich eine gewisse Idealvorstellung des Anwält*innenberufs entwickelt und während meiner Selbstständigkeit habe ich versucht, diese Vorstellung durchzusetzen. Persönlich bin ich mit meiner Arbeit zufrieden. Ich habe meine Wertvorstellungen ein- und umsetzen können. Aber ich bin ständig gegen die Wand gefahren. Mir fällt nichts ein, was ich hätte tun können, damit es nicht so gewesen wäre. Ich habe im Jahr 150 Asylrevisionen eingebracht, so viele wie wahrscheinlich sonst niemand. Meine Erwartungshaltung war, dass bei einem Höchstgericht ausschließlich rechtliche Argumente zählen. Ich habe viele strategische Prozesse geführt, wo wir z. B. Musterbeschwerdeverfahren geführt haben, oder mehrere Fälle zu einer Rechtsfrage gebündelt haben, um dem Gericht zu zeigen: Wir wollen das nicht nur für einen Fall wissen, sondern für alle. Aber all diese Projekte sind gescheitert. Wir konnten auf diesem Weg keine Judikatur- oder Gesetzesänderung erzeugen.
Für den Einsatz der letzten Jahre waren die Erfolge zu gering. Wenn ich jetzt 20 wäre und etwas zur Verbesserung der Welt beitragen und Menschenrechte durchsetzen wollte, dann würde ich Schwimmkurse belegen und Seenotrettung machen und nicht Jus studieren.
Bei dir ist noch viel Leidenschaft da, hast du vor, auch in Zukunft weiter zu kämpfen?
Ja, aber nicht mit den Mitteln des Rechts. Vielleicht bin ich ja in sechs oder sieben Jahren einen Sommer lang auf der SeaWatch, vielleicht schreibe ich ein Buch, vielleicht gehe ich als Menschenrechtsbeobachter für eine NGO in Kriegsgebiete, was auch immer. Es wird jedenfalls etwas Praktischeres sein.