Armutskonferenz: Österreich, wie es wirklich ist.

Christoph Altenburger und Lucia Grabetz berichten für mosaik von der 10. Österreichischen Armutskonferenz. 

Österreich – Land der Seligen. Wirft man einen Blick nach Griechenland, Spanien oder auf andere Kontinente, erscheint die Situation hierzulande geradezu rosig. Die hohen sozialen Standards oder die Lebensqualität in diesem Land suchen ihresgleichen. Ein ausgiebiger Spaziergang in der Wiener Josefstadt, durch enge Gassen, flankiert von bürgerlichen Fassaden, oder ein Wanderausflug auf den Hochschwab, um einen Blick über grüne Täler und weitläufige Wälder zu werfen: Das sind die Bilder, die viele im Kopf haben, wenn sie an Österreich denken.

Und es sind jene Bilder, die von der hohen Politik hochgehalten werden, wenn jemand auf Missstände hinweist. Dann heißt es schnell, dass man „unser schönes Österreich“ schlecht mache. Der Ist-Zustand verlangt nach Verteidigung. Denn hinter den Fassaden, inmitten der Dörfer und Städte erfahren die Menschen ein ganz anderes Leben, und das nicht erst seit Gestern. Die Zahl der Arbeitslosen in Österreich hat einen Rekord erreicht: Im ersten Halbjahr 2014 waren mehr als 320.000 Personen in Österreich arbeitslos. Über 1.2 Millionen Menschen sind armutsgefährdet, das heißt von Einkommensarmut betroffen. 2013 waren mehr als 9000 Privatpersonen so hoch verschuldet, dass nur noch das Insolvenzverfahren als Ausweg diente; 1200 Menschen wurde dies verwehrt, weil die Schulden sogar dafür zu hoch waren. Lohnkürzungen, Teilzeitbeschäftigungen, Gebührenerhöhungen, Mietpreissteigerung: Das ist die Realität, in der die meisten Menschen in Österreich leben. Vor diesem Hintergrund tagte von 23. bis 25. Februar die 10. Österreichische Armutskonferenz in Salzburg. Mit zahlreichen Vorträgen und Workshops wird jenen Menschen in Österreich eine Stimme gegeben, die in den Medien und der Politik kein Gehör finden – damit das andere Österreich gezeigt wird.

1.Tag – Bildung als Instrument der Herrschenden

Das Programm war vielfältig. Der erste Tag wurde mit einem Vortrag von Brigitte Unger zum Thema „Für ein soziales Europa – Vom Schlagwort zur Strategie“ eröffnet. Wir hörten viel über den Abbau sozialer Rechte in Europa und mögliche Gegenstrategien der Europäischen Union. Etwas verwundert waren wir jedoch über die Vorschläge. Beweist die derzeitige Politik der Europäischen Union in der Griechenland-Politik nicht gerade, dass ihre Interessen weniger sozialen Standards, sondern den Interessen der Reichen und Herrschenden gilt? Ebenso waren wir etwas verärgert über die Tatsache, dass das Sozialsystem als Erfolg der Zusammenarbeit großer Parteien gefeiert wurde. Schließlich waren es die Arbeiter_innen, die Armen und der kleine Mittelstand, die unsere sozialen Rechte erkämpft haben, nicht die Einsicht bei denen da oben.

Nach dem Essen ging es weiter zu den Foren: Kleinere Workshops, in denen.zu thematischen Schwerpunkten intensiv gearbeitet und diskutiert werden konnte. Durch die Vielfalt des Angebots war es nicht einfach, sich zu entscheiden: Gesundheitssystem, soziale Arbeit, Mindestsicherung, Wohlfahrststaat und viele andere Themen standen zur Auswahl. Da wir beide im Sozialreferat der österreichischen HochschülerInnenschaft aktiv sind, haben wir täglich mit der katastrophalen sozialen Situation zahlreicher Studierenden zu tun. Und so beschlossen wir, das Forum „Was wurde aus dem sozialen Aufstieg durch Bildung?“ zu besuchen. Es war kein Fehler. 

Manfred Krenn, Soziologe bei Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt, wies auf den doppelten Charakter von Bildung hin. Frei nach dem Motto der Arbeiter_innenbewegung „Wissen ist Macht“ galt und gilt Bildung immer noch als Hoffnungsträgerin für den sozialen Aufstieg. Doch die Medaille hat eine Kehrseite: Bildung an Institutionen ist immer Ausdruck der machtstärksten Gruppen, Bildung repräsentiert deren Lebensstil. In diesem Sinn hatte Bildung immer auch die Funktion, soziale Ungleichheit zu legitimieren und zu individualisieren, denn: „Wer es nicht schafft, ist selber Schuld“. Der Gradmesser an Bildung ist die Anzahl der Zertifikate die man hat.

Wer also im fortschrittlichen Sinn für Bildung kämpft, der/die muss Bildung stets im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt betrachten. Bildung kann alleine keine sozialen Probleme lösen, noch weniger kann es der bildungsbürgerliche Diskurs. Während Spanien eine der höchsten Akademiker_innenquoten in Europa hat, ist die soziale und wirtschaftliche Situation des Landes eine Katastrophe. Ebenso wies Krenn darauf hin, dass „bildungsferne Schichten“ den Bildungsbegriff von oben oftmals als „symbolische Gewalt“ empfinden. Anschließend zeigte Barbara Herzog-Punzenberger, Kultur- und Sozialanthropologin aus Linz, durch zahlreiche Fakten und Studien den ausschließenden Charakter des österreichischen Bildungssystems auf. Wer am österreichischen Bildungssystem scheitert, dem/der wird meistens individuales Versagen vorgeworfen. Der wahre Grund des Scheiterns ist jedoch nicht bei den Menschen, sondern im System zu suchen. Abgerundet wird das Forum von Martin Hagen, Geschäftsführer des Vereines Offene Jugendarbeit Dornbirn, der zeigt, wie produktive Jugendarbeit aussehen kann. Dort wird offene Jugendarbeit als Mittel zur Reintegration in den Arbeitsmarkt, abseits von Schikanen und sinnlosen Kursen am AMS, angeboten.

2.Tag – Der eiskalte Jargon der Verachtung.

Der zweite Tag war nicht weniger spannend. Klaus Dörre, Soziologe an der Universität Jena, startete mit einem Vortrag zum Phänomen der „prekären Vollerwerbsgesellschaft“. Er beleuchtete dabei die Auswirkungen der Hartz IV Reformen aus Sicht der Betroffenen, und enttarnte das „Deutsche Beschäftigungswunder“. Die relativ niedrige Arbeitslosenquote in Deutschland ist demzufolge vor allem auf einen Anstieg von unsicheren, schlecht bezahlten und kaum anerkannten Jobs zurück zu führen. Dörres These: das „Deutsche Beschäftigungswunder“ basiert auf Mitteln und Wegen, die Menschen zu unwürdiger, entwürdigender Arbeit zu zwingen. Mit Blick auf Deutschland warnte er vor einem rasanten Fahrstuhl nach unten in eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft, das heißt eine Gesellschaft, in der zwar es zwar fast Vollbeschäftigung Gibt, in der es aber gleichzeitig den am raschesten wachsenden Niedriglohnsektor in ganz Europa gibt. Hartz IV habe keine neue Arbeit geschaffen, betonte Dörre, denn das Arbeitsvolumen bezahlter Arbeit ist in Deutschland massiv gesunken. Dabei verweist er auf wichtige Zahlen, die den Mythos, prekäre Beschäftigung sei ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt, entkräften: Nur 12% der Hartz IV Empfänger_innen steigen in bessere Arbeitsverhältnisse auf. Obwohl es also kaum Förderung nach „Oben“ gibt, bekommt man die Fürsorgeleistung nur gegen Gegenleistungen wie den Nachweis über die Größe der Wohnung und viele andere Details aus dem eigenen Privatleben. Dörre spricht hier von „leistungsbezogenen Repressalien“. Das Leitbild von Hartz IV fordert also etwas von den Menschen ein, was es in der Praxis selbst zertrümmert: Eigenverantwortung.

Nach dem Vortrag ging es wieder in einen Workshop. Zur Auswahl stand ein Einblick in die Entwicklung von Sozialmärkten und Tafeln, Diskussionen zum Thema Umwelt, Grundeinkommen, zur Krise, zu prekärer Selbstständigkeit, zu sozialen Innovationen und vielem mehr. Nach langer Überlegung entschlossen wir uns, das Forum zu „Was machen wir mit dem starken Mann? Autoritarismus, Menschenfeindlichkeit und Sündenbock“ zu besuchen. Darin ging es um den Zusammenhang von zunehmender sozialer Ungleichheit, Prekarisierung und Abstiegserfahrungen mit der Nachfrage nach Sündenböcken. Eva-Maria Gross (Institut für Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld), Reinhard Kreissl (Soziologe, Wien) und der uns nun schon bekannte Manfred Krenn zeigten auf, dass autoritäre Tendenzen nicht nur in Ungarn vorzufinden sind, sondern in ganz Europa existieren. Dabei wurde mit einem weit verbreiteten Irrtum anhand von empirischen Studien aufgeräumt: Oftmals wird behauptet, dass besonders Arbeitslose oder Personen aus den unteren Klassen zu Abwertungen tendieren würden. Doch unterschiedliche Studien belegen das genaue Gegenteil: Gerade bei oberen Schichten ist die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, die pauschale Abwertung von Muslim_innen und die massive Fremdenfeindlichkeit besonders hoch. Eva Maria Gross spricht in diesem Zusammenhang von einem „eiskalten Jargon der Verachtung“: Die Sprache des Klassenkampfes von oben.

Ein Satz aus dem Forum ist uns in besonderer Erinnerung geblieben. Der öffentlichen Darstellung der sogenannten Politikverdrossenheit von Arbeiter_innen hielt Manfred Krenn völlig richtig entgegen: „Vor der Politikverdrossenheit der Arbeiter_innen, war die Arbeiter_innenverdrossenheit der Politik!“

Abschließend

Schon lange verspürten wir nicht mehr so viel Motivation für politische Arbeit wie auf der Armutskonferenz. Einmal mehr wurde uns bewusst, warum wir Politik machen. Nicht als Selbstzweck oder als persönliche Bereicherung, sondern weil wir jenen Menschen helfen möchten, die unsere Hilfe dringend benötigen. Damit wir unsere privilegierte Position dafür nutzen, jene Menschen zu unterstützen, denen Privilegien verwehrt werden.

Das zweifellos Positivste an der Armutskonferenz ist die Einbindung von Betroffenen. Hier gibt es keine Bevormundung. Betroffene werden nicht zur Schau gestellt, um Mitleid zu erregen, sondern sie diskutieren und gestalten aktiv mit – auf gleicher Augenhöhe. Dabei wurde stets ein solidarisches Verhältnis gepflegt. Davon können viele linke Kreise leider nur träumen. Denn wie oft diskutieren wir über Menschen, anstatt mit ihnen. Wie oft verzweifeln wir an der Tatsache, dass Menschen nichts mit linken Ideen anfangen können. Die Konferenz hat uns dabei wieder eines vor Augen geführt: Es sind oftmals nicht die Menschen, an denen wir scheitern. Es ist keine Nimmschuld, sondern es ist unsere Bringschuld. Wir brauchen nicht stundenlang an der Universität sitzen und uns unseren Kopf zerbrechen, wie wir Leute nicht, oder schon erreichen. Wir können auch einfach mit den Leuten direkt reden. Dann werden wir schon erfahren, was die Sorgen sind. Dann erklären wir nicht, was sie zu tun haben, sondern fragen, wo wir helfen können.

Christoph Altenburger ist aktiv im Verband Sozialistischer Student_innen und arbeitet für diesen im Sozialreferat der Österreichischen Hochschüler_innenschaft.

Lucia Grabetz ist Sozialsprecherin des Verbands Sozialistischer Student_innen und Sozialreferentin an der Bundesvertretung der Österreichischen Hochschüler_innenschaft.

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