Liberaler Antirassismus fühlt sich gut an, ändert aber wenig an den Grundlagen von Rassismus. In „Die Diversität der Ausbeutung – Zur Kritik des herrschenden Antirassismus“ rechnen die Herausgeberinnen Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo mit dem liberalen Antirassismus ab und stellen ihm eine historisch-materialistische Rassismus-Analyse entgegen. Anlässlich ihrer Österreich-Buchtour, organisiert von KPÖ, Junge Linke und KSV-KJÖ, sprachen sie mit mosaik-Redakteur Martin Konecny darüber, wie Antirassismus besser geht.
Beginnen wir am Anfang, mit dem Titel: Was ist dieser herrschende Antirassismus, gegen den ihr mit eurem Buch interveniert?
Eleonora Roldán Mendívil: Das ist natürlich erst einmal verwirrend. Im Normalfall intervenieren wir als Linke gegen Rassismus und nicht gegen Antirassismus. Der Titel ist daher auch mit einem Augenzwinkern zu lesen. Nicht nur der Rassismus ist ein Problem, sondern auch, wie Antirassismus in Deutschland vermittelt wird und was alles für antirassistisch gehalten wird. Der Fokus von Antirassismus liegt oft auf Vorurteilen und dem Individuum. Es geht darum, zu reflektieren und die eigene Sprache zu ändern. Indem wir selbst bessere Menschen werden, soll der Rassismus enden.
Das ist problematisch, denn dahinter steht eine Struktur der kapitalistischen Produktionsweise. Rassismus wird über die kapitalistische Produktionsweise vermittelt und verbirgt als soziales Verhältnis Formen der Überausbeutung.
Was wir auch kritisieren, sind die Konzepte rund um Diversität. In diesen Konzepten ist es das höchste der Gefühle, dass es eine diverse Repräsentation gibt – in allen möglichen Funktionen, von gewählten Abgeordneten über Richter*innen, bis hin zur Polizei. Selbst innerhalb der Kapitalfraktionen. Wir brauchen mehr schwarze CEOs, weil diese Menschen spezielle Kompetenzen und Sensibilität mitbringen und dann netter ausbeuten, I guess.
Ihr stellt diesem herrschenden liberalen Antirassismus einen historisch-materialistischen Begriff von Rassismus entgegen. Zentral ist dabei für euch „Überausbeutung”. Was ist das und was hat sie mit Rassismus zu tun?
Bafta Sarbo: Allgemein bedeutet ein marxistisches Verständnis von Rassismus, sich anzusehen, wie Rassismus mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben, zusammenhängt. Überausbeutung ist die Kategorie mit der wir versuchen zu erklären, dass Rassismus nicht einfach nur eine Ideologie ist, sondern schon in der Ökonomie fundiert ist. Das bedeutet nicht, dass wir Rassismus simpel ableiten. Wir zeigen seine materielle Basis auf.
Überausbeutung bezeichnet in diesem Zusammenhang als ein Verhältnis sowohl innerhalb der Arbeiterklasse, als auch zwischen Arbeit und Kapital. Abstrakt bedeutet Ausbeutung, dass wir viel weniger Lohn erhalten, als wir Wert schaffen. Die Differenz wird als Mehrwert zu Kapital. In der Realität funktioniert Ausbeutung nicht überall gleich. Die Lohnniveaus sind zunächst geographisch verschieden und unterscheiden sich zum Beispiel zwischen Ländern des globalen Südens und etwa Deutschland und Österreich erheblich. Auch innerhalb der imperialistischen Zentren gibt es große Unterschiede, etwa zwischen Staatsbürger*innen und Menschen, die davon ausgeschlossen sind. Das ist Überausbeutung. Das betrifft illegalisierte Menschen, aber auch Menschen aus EU-Ländern, die über Entsenderichtlinien hierher kommen und nicht den gleichen Lohn erhalten oder dieselben Rechte haben. Diese Überausbeutung wird naturalisiert und durch rassistische Ideologien legitimiert. Deshalb reicht es nicht einfach, Stereotype abzubauen. Wir müssen verstehen, unter welchen Bedingungen rassistische Ideologien produziert werden.
Ist Rassismus dann ein Nebenwiderspruch, also weniger bedeutend als Klasse?
Eleonora Roldán Mendívil: Natürlich nicht, sonst hätten wir es kaum notwendig gefunden, dazu ein ganzes Buch zu schreiben. Aber es gibt strukturelle Unterschiede zwischen Kategorien, wie etwa Geschlecht und ‚Rasse‘ auf der einen Seite und Klasse auf der anderen Seite. Klasse ist die zentrale Kategorie um Klassengesellschaften zu verstehen, also alle Gesellschaften in denen die Produzent*innen von ihren Produkten getrennt werden und von anderen als Mehrprodukt angeeignet werden. Klasse beschreibt die Rolle eines Menschen im Produktionsprozess.
Daher ist Klasse nicht vorrangig ein Diskriminierungsmerkmal, etwa wenn ein Schüler ausgelacht wird, weil er keine teure Markenkleidung trägt. Das ist das, was oft unter dem Begriff des Klassismus diskutiert wird – ein Konzept dem wir sehr kritisch gegenüber stehen. Klasse beschreibt – gerade heute – eine sehr heterogene Erfahrungswelt. Bei Klasse geht es um Ausbeutung, das ist etwas anderes als Unterdrückung.
Wenn wir von Kategorien wie ‚Rasse‘ oder Geschlecht reden, dann sind das Kategorien, die auf Klassengesellschaften basieren und Ausbeutung vermitteln. Also wie z.B. legitimiert wird, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders harte körperliche Arbeit machen, oder warum Frauen z.B. besonders häufig im Pflegebereich arbeiten. Ausbeutung und Unterdrückung sind nicht das gleiche. Aber wir können die Gesellschaft nicht verstehen, ohne zu sehen, wie diese Dinge zusammenhängen.
Eine zentrale Rolle spielen aktuell Sprachpolitiken, das heißt, wie wir Dinge und Menschen benennen. Ist das aus einer marxistischen Perspektive nebensächlich?
Bafta Sarbo: Niemand von uns würde sagen, dass Sprache egal ist. Allein schon, weil sie das zentrale Medium ist, durch das wir kommunizieren. Natürlich ist es wichtig, dass wir Menschen nicht mit rassistischen Kategorien bezeichnen.
Das Problem in vielen linken Zusammenhängen ist eher die Kontextualisierung von Begriffen. Wenn etwa in einem historischen Text das N-Wort vorkommt und der dann als rassistisch abgestempelt wird, dann blendet es den historischen Zusammenhang aus. Das ist ein Problem. Erstens wird nicht auf die Argumentation eines Textes eingegangen, stattdessen werden einzelne Wörter herausgegriffen. Zweitens gibt es Gründe, warum wir heute bestimmte rassistische Bezeichnungen nicht mehr verwenden. Es hat eine Reihe von Kämpfen gebraucht, damit das heute so ist. Diese Selbstverständlichkeiten auf die Vergangenheit zu projizieren, ist ahistorisch. Ich denke auch deswegen ist Marxismus so zentral, weil uns der Historische Materialismus erlaubt, zu begreifen, wie und warum sich Gesellschaften geschichtlich entwickelt haben.
Bafta, du hast bei der Buchvorstellung in Wien gemeint, man könne es auch lassen, eine Person aus der antirassistischen Bewegung, eine Klima-Aktivistin und eine Person aus dem Pflegebereich gemeinsam auf ein Podium zu setzen und dann zu behaupten, man hätte die Kämpfe verbunden. Was für bessere Wege gibt es, um diese Kämpfe zusammenzubringen?
Bafta Sarbo: Dafür brauchen wir andere politische Vermittlungsinstanzen. Das ist einer der Gründe, warum wir darauf pochen, sich politisch zu organisieren. In Organisationen kann diese Vermittlung stattfinden. Dort können wir auch die Frage stellen, was der inhaltliche Zusammenhang verschiedener Kämpfe ist. Ich denke etwa, es gibt einen Zusammenhang zwischen Klimakrise und Antirassismus. Aber nur festzustellen, dass beides etwas mit Kapitalismus zu tun hat, reicht nicht aus. Wir müssen die Zusammenhänge politisch herstellen. Das passiert in realen Kämpfen, indem Bewegungen sich aufeinander beziehen, indem Menschen gemeinsam organisiert sind, Forderungen aufstellen und für sie zusammen kämpfen.
Eleonora Roldán Mendívil: Der wichtige Schritt der Vermittlung ist die Aufgabe einer sozialistischen Organisation. Es geht nicht nur darum zu sagen, die Klimakrise hat etwas mit Kapitalismus zu tun, die Klimakrise gibt es wegen dem Kapitalismus. Oder die Art und Weise, wie die Industrialisierung durchgesetzt wurde, hat mit einer kolonialen Kontinuität zu tun.
Unsere Aufgabe als Sozialist*innen ist es, aufzuzeigen in welche Richtung wir die Kämpfe führen wollen. Und, dass letztendlich nur der Sozialismus eine Antwort auf die Klimakrise ist und nur der Sozialismus weitere Genozide verhindern kann. Ja, wir sind die letzte Generation die das kann, aber nur wenn wir sagen: Sozialismus oder Barbarei. Denn wir leben in einer sehr barbarischen Welt. Die Methoden der Arbeiter*innenklasse sind die stärksten Mittel, um etwas zu verändern und nicht nur durch Aktivismus darauf aufmerksam zu machen. Dabei dürfen wir uns natürlich kein veraltetes Bild der Klasse machen. Sie ist heute geprägt von Arbeiter*innen aus dem globalen Süden und sie ist so weiblich, wie noch nie. Das ist die Aufgabe unserer Generation. Wenn wir es nicht schaffen, sieht es ziemlich düster für uns und unseren Planeten aus.
Interview: Martin Konecny
Fotos: (c) Junge Linke