Der Mensch beeinflusst das Erdsystem in einer Weise, dass Wissenschafter_innen von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, sprechen. Andere bevorzugen den Begriff Kapitalozän. David Heuser über einen schillernden Begriff und warum wir das Anthropozän als Notwendigkeit für ein gutes Leben für alle wahrnehmen sollten.
Der Begriff Anthropozän (anthropos = altgriechisch für Mensch) kam erstmals um die Jahrtausendwende auf. Die beiden Naturwissenschafter Paul Crutzen und Eugene Stoermer wiesen darauf hin, dass die Menschheit durch die Verwendung fossiler Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle, dem Ausstoß von Schwefel- und Stickoxiden sowie der Treibhausgase Kohlendioxid (CO2) und Methan zu einem geologischen Faktor geworden ist. Die Menschheit beeinflusst die Erde derart stark, dass die zerstörerischen Aktivitäten in der Erdkruste und den Gesteinsschichten messbar sind. Das Anthropozän löst das Holozän, das bisherige – relativ stabile – geologische Zeitalter ab.
Industrielle Revolution und die „große Beschleunigung“
Den Homo Sapiens gibt es seit etwa 200.000 Jahren. Für das Erdsystem war der Mensch für den Großteil seiner Existenz irrelevant, auch wenn er neben klimatischen Veränderungen für die Aussterbewellen zu Beginn des Holozäns mitverantwortlich zu sein scheint. Auch die Rodung von Wäldern seit der Antike oder die Verschleppung von Tierarten seit der frühen Neuzeit stellen größere Einflüsse des Menschen dar. Doch alle diese Veränderungen berechtigen nicht von einem neuen Erdzeitalter zu sprechen. Zu signifikanten und langfristigen Veränderungen des Erdsystems kommt es erst durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Die Dynamik des von fossilen Brennstoffen angetriebenen Kapitalismus, der Wachstum und Profite benötigt, sprengte den Rahmen des Holozäns und leitete ein neues Erdzeitalter ein.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahm dieser Einfluss des Menschen eine neue Dimension an. Will Steffen beschreibt diese Phase als „Great Acceleration“, als große Beschleunigung. Gemeinsam mit anderen Wissenschafter_innen verglich er zwölf Entwicklungen des Erdsystems, unter anderen die CO2-Konzentration in der Atmosphäre, mit sozio-ökonomischen Entwicklungen wie dem Bevölkerungswachstum oder dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Der rasante Anstieg vieler dieser Entwicklungen ab 1950 definiert für die meisten Wissenschaftler_innen den Beginn des Anthropozäns – auch wenn der Startschuss bereits mehr als 100 Jahre früher gesetzt wurde. Für Geolog_innen liefert der radioaktive Niederschlag durch den Abwurf der Atombomben zwischen 1945 und 1964 zudem einen geologischen Marker, der auch noch in hundert Millionen Jahren in Gesteinen den Beginn des Anthropozäns markieren wird.
Klimawandel und Anstieg des Meeresspiegels
Derzeit stößt die Menschheit durch fossile Brennstoffe jährlich über 37 Milliarden Tonnen CO2 aus. Bis zum jähr 1750 schwankte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre zwischen 180 und 280 ppm (1ppm = 0,0001%). Seit Beginn der Industrialisierung stieg der Wert stetig an und liegt mittlerweile bei über 400 ppm. Damit wuchs die CO2-Konzentration 100 Mal schneller als nach der letzten Eiszeit. Die Methan-Konzentration hat sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt. Dafür ist vor allem die Viehhaltung verantwortlich. Das meiste CO2 wird von den Ozeanen aufgenommen, die dadurch saurer werden (CO2 wird im Wasser in Form von Kohlensäure gelöst). Die Ozeane bremsen also die globale Erwärmung, die Übersäuerung bedroht allerdings zahlreiche Lebewesen.
Die globale Durchschnittstemperatur ist seit 1880 um 1 Grad gestiegen. Machen wir weiter wie bisher, wird es 2100 um über 5 Grad wärmer sein. Zum Vergleich: Nach dem Ende der letzten Eiszeit brauchte die Erde mehr als tausend Jahre für 1 Grad Erwärmung. Als Folge des Klimawandels stieg der Meeresspiegel seit 1900 um mehr als 20 cm an; mit deutlicher Beschleunigung in den letzten zehn Jahren. Bis 2100 werden es voraussichtlich über einen Meter sein. In der Westantarktis und in Grönland vervielfachte sich die Abschmelzrate der Gletscher. Mittlerweile ist bekannt, dass jede Tonne CO2 zum Abschmelzen von 3 m² arktischem Meereis führt.
Kippelemente und Artensterben
Sogenannte Kippelemente, durch die sich Erdsysteme unumkehrbar verändern, sind der Grund, warum die globale Erwärmung auf maximal 2 Grad beschränkt werden muss. Die im Pariser Klimavertrag festgehaltenen 1,5 Grad wären ein sichereres Ziel. Neben dem erwähnten Schmelzen des Eises ist vor allem das Kippen der Monsunzyklen relevant. Das könnte zu völlig anderen Niederschlagsverhältnissen in vielen Regionen und zum Zusammenbrechen der dortigen Landwirtschaft führen. Andere Kippelemente sind zum Beispiel die Freisetzung von Methanhydraten aus den Ozeanen durch steigende Wassertemperaturen oder das Auftauen der Permafrostböden, die jeweils große Mengen an Methan und CO2 freisetzen würden.
Neben den klimatischen Veränderungen prägt das massenhafte Artensterben den Beginn des Anthropozäns. Viele Ökosysteme sind durch den Klimawandel bedroht. Korallenriffe, die durch erhöhte Wassertemperaturen und Säuregehalt immer häufiger zur Korallenbleiche neigen, drohen abzusterben. Sie sind nach den tropischen Regenwäldern der artenreichste Lebensraum. Auch an Land sterben besonders in Südostasien viele Arten aus. Die Aussterberate liegt weltweit tausendfach über dem natürlichen Hintergrund. Das letzte derartige Massenaussterben fand vor 65 Millionen Jahren statt. Damals war ein Meteorit verantwortlich, dieses Mal ist es der Mensch.
Anthropozän oder Kapitalozän?
In seinem Buch „Fossil Capital“ macht Andreas Malm deutlich, dass nicht die Menschheit als Ganzes, sondern eine bevölkerungsmäßig verschwindend kleine Klasse – die der Kapitalisten – wesentlich für den Klimawandel verantwortlich ist. Er lehnt daher den Begriff Anthropozän ab und spricht stattdessen vom Kapitalozän. Das Anthropozän ist also kein Ergebnis einer „menschlichen Natur“, sondern Folge unseres Wirtschaftssystems. Regionen ohne wirtschaftliches Wachstum haben zum Beispiel trotz starkem Bevölkerungswachstum kaum einen Anteil an der „großen Beschleunigung“ und am Klimawandel. Der Begriff des Anthropozäns kennzeichnet also nicht bloß ein neues Erdzeitalter, sondern auch die Notwendigkeit einer völlig anderen, umweltfreundlichen Gesellschaft.
Anthropozän gestalten – ein gutes Leben für alle ist möglich
Mit bereits bestehender Technologie wäre es ohne Probleme möglich, ein nachhaltiges und gutes Leben für alle Menschen zu erreichen. Wir könnten mit nachhaltiger Landwirtschaft nicht nur den Hunger, durch den alle drei Sekunden ein Mensch stirbt, beenden, sondern auch natürliche Lebensräume erhalten und ausweiten. Wir könnten riesige Flächen aufforsten und so auch die CO2-Konzentration in der Atmosphäre verringern. Menschen könnten sich mit modernen Zügen schnell und nachhaltig fortbewegen. Wir könnten massenhaft Energie einsparen, wenn weniger Müll produziert und Waren nicht quer über den Globus geschifft würden, um Arbeitskosten einzusparen und Profite zu erhöhen. Dennoch wird weltweit die Förderung fossiler Brennstoffe forciert. Auch Österreich setzt beispielsweise auf Erdölförderung und den Ausbau des Flugverkehrs.
Lassen wir diese Staaten, deren Hauptaufgabe es ist, Märkte und Kapital zu sichern, weiterhin das Erdsystem kontrollieren? Dann bedeutet das Anthropozän die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte und die größte Umweltkatastrophe der letzten 65 Millionen Jahre. Die große Mehrheit der Menschen hat kein Interesse an Grenzziehungen, militärischen Auseinandersetzungen und Umweltzerstörung. Sie produziert aber den Reichtum und sämtliche Lebensgrundlagen mit ihrer Arbeit. Wir können gemeinsam nicht nur dieses kapitalistische Wirtschaftssystem lahm legen, sondern auch ein gutes Leben für alle gestalten. Das Anthropozän bedeutet dann, dass dieser Schritt nicht nur eine vielversprechende Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit ist.
David Heuser ist Geologe und politisch in der Neuen Linkswende und bei System Change not Climate Change aktiv.