­Anker setzen – Das Verhältnis zwischen Aktivismus und Gesellschaft

Diskussion auf der Peoples' Platform Europe

Vor einem Monat nahm Tomas Wurz an der Peoples’ Platform Europe teil. Seitdem fragt er sich, wie politische Kämpfe wieder mehr in der Gesellschaft verankert werden können.

mosaik-Redakteur Luca Niederdorfer formulierte es vor Kurzem so: Anstatt mit einem blauen Kanzler sind wir noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Das sei aber kein Grund sich auszuruhen, sondern ein Weckruf jetzt erst recht in die Gänge zu kommen. Das gilt insbesondere für die Bewegungslinke. Also jene linken Gruppen und Organisationen, die versuchen abseits des Parteien- und NGO-Spektrums diese Welt zum Besseren zu verändern.

Eine Vielzahl an Akteur*innen, die sich dieser Linken zurechnen, kamen vor genau einem Monat bei der Peoples’ Platform Europe in Wien zusammen. 800 Teilnehmer*innen aus mehr als 35 europäischen Ländern diskutierten, wie die Linke die Initiative wieder an sich reißen könne. Eine für mich wesentliche Erkenntnis dabei: Wir müssen das Verhältnis zwischen Gesellschaft und unseren Kämpfen neu ausrichten.

Aktivismus & Organisierung…

Insgesamt tauschten sich auf der Peoples’ Platform Europe Aktivist*innen in neun unterschiedlichen Workshops aus. Ich war Teil des Workshop-Strangs „Activism & Organization“ und diskutierte mit Genoss*innen aus ganz Europa. Zur Debatte stand, wie wir unsere Strategien, Taktiken und Aktionsformen ausrichten müssten, um erfolgreich zu sein. Aber auch, was dieses ‚erfolgreich‘ überhaupt bedeutet. Was sind unsere Annahmen, was sich warum, wohin verändern soll und muss?

Um eine gute Diskussion führen zu können, war es notwendig, ein paar Thesen in den Raum zu stellen. Ein Vorbereitungstext bildete die Grundlage des Workshops. Der Untertitel des Workshops „For a Long-term Struggle Rooted in Society“ gab die Stoßrichtung vor: Die Perspektive war nicht ‚wir gegen die Gesellschaft‘, sondern ‚wir in der Gesellschaft’ – und das langfristig.

…verankert in der Gesellschaft

Der Workshop plädierte also für einen Aktivismus, der in der Gesellschaft verankert ist. Das bedeutet, konkrete Lebensrealitäten und (materielle) Bedürfnisse zum Ausgangspunkt politischen Handelns zu machen. Es bedeutet auch, dass Aktivist*innen Entscheidungen nicht für die oder gar losgelöst von der Gesellschaft, sondern mit ihr treffen.

Im Vordergrund steht die Emanzipation der Gesellschaft, also das Erringen von Rechten und Freiheiten. Diese sollen möglichst aus der Gesellschaft heraus erkämpft werden. Aktivismus soll hierbei unterstützen, nicht aber gesellschaftliche Kämpfe ersetzen, anführen oder separat dazu verlaufen. Diese Perspektive erfordert eine gewisse Haltung von Aktivist*innen: Sie müssen der Gesellschaft wohlgesonnen sein, sich für sie, ihre Geschichte, Werte und Prinzipien interessieren, sie begreifen und verstehen wollen. Durch diese Haltung werden Verankerung und gemeinsames Verständnis von dem, was es zu tun gilt, möglich.

An die Menschen glauben

Zur Einordnung: Dieses Verständnis von Praxis und Haltung ist stark von der Kurdischen Freiheitsbewegung inspiriert. Ihre politische Vision ist es, staatliche Strukturen durch basisdemokratische gesellschaftliche Selbstorganisierung überflüssig zu machen. Das Revolutionäre liegt in der umfassenden Ermächtigung und Selbstverwaltung der Gesellschaft von unten. Um diese Vision zu verfolgen, ist es unabdingbar, an die Selbstverwaltungsfähigkeit der Gesellschaft und somit der Menschen darin zu glauben.

In diesem Verständnis bekommen auch Begriffe wie Militanz eine ‚neue‘ Bedeutung. Statt Steine schmeißen und möglichst extremen Aktionsformen oder das hierarchische Anführen einer Bewegung geht es primär darum, die Gesellschaft zur Selbstorganisierung zu befähigen. Militante verfolgen dieses Ziel entschlossen und mit Hingabe. Aber auch der Organisation wird eine andere Bedeutung verliehen. Organisationen sind kein Zweck für sich. Sie sind nur dann hilfreich, wenn sie der Selbstorganisierung der Gesellschaft dienen.

Zugewandtheit als grundlegende Haltung

Viele der Teilnehmenden des Workshops teilten die vorgegebene Richtung und Definitionen. Sie beschrieben die Bedeutung von gesellschaftlicher Verankerung der eigenen Kämpfe und eine dementsprechende Haltung nicht nur als relevant, sondern als unabdingbar. Insbesondere Genoss*innen aus Spanien, Italien, Frankreich und Griechenland berichteten von Praktiken, die weitgehend im Einklang mit den obigen Ausführungen stehen. Doch selbst ein Genosse aus UK meinte: „You have to truly love your people.”

Worte, die uns für Österreich schwer von den Lippen gehen: Eine Gesellschaft lieben, die voller Kontinuitäten des Nationalsozialismus ist und viele fleißig an einer erneuten Normalisierung des Rechtsextremismus arbeiten? Doch auch die Aussagen des Genossen aus Großbritannien fußen nicht auf einer Verankerung in einer Gesellschaft die weniger von Widersprüchen gezeichnet ist als die österreichische. Wem flimmern nicht noch immer die Bilder der Anti-Migrations-Pogrome aus dem Sommer 2024 in England und Nordirland vor den Augen?

Person spricht auf der Peoples' Platform Europe
Diskussionen auf der Peoples’ Platform Europe (PPE) | (c) PPE

Es gilt, die Aussagen richtig einzuordnen. Die zuvor besprochenen Definitionen setzen Langfristigkeit voraus. Wir müssen nicht alle sofort lieben. Wir sprechen von einer grundlegenden Haltung der Zugewandtheit, mit der wir in die politische Arbeit gehen. Dass es dabei noch Skepsis und Feindseligkeiten gibt, ist ausgemacht. Die Haltung sagt uns nicht, dass wir diese Gegensätzlichkeiten nicht austragen dürfen. Sie gibt uns aber etwas zu bedenken, nämlich wer eigentlich gerade die Gegner*innen sind: Die Gesamtheit der FPÖ-Wähler*innenschaft oder doch Politiker*innen, die statt Gemeinwohl Kapitalinteressen bevorzugten und so den Weg für Rechtspopulist*innen ebneten?

Brille für die eigene Praxis

Teilte ich im Workshop Einblicke in die Bewegungslinke in Österreich, konfrontierten mich die Genoss*innen mit Fragen. Weswegen wir uns so fernab der Gesellschaft organisierten und warum wir ihr in so einem hohen Maße ablehnend bis feindlich gegenüber stünden? Das veranlasste mich, einen genaueren Blick auf Beispiele unserer Praxis und Haltung werfen.

Sieht man sich etwa diverse Antifa-Aktionen an, finden diese fernab von jeglicher gesellschaftlichen Selbstorganisierung statt. Das trifft aktuell sowohl auf größere Naziaufmärsche zu, aber auch auf jede noch so kleine Zusammenkunft von Rechtsextremen. Anrainer*innen oder Stadtspazierende werden selten informiert – geschweige denn involviert. Die Gefühle von Außenstehenden reichen in der Folge von unterhalten, über irritiert bis schockiert. Die Aktivist*innen gefallen sich dabei oft in der Rolle des ‚Dagegen Seins‘ und unterscheiden nicht zwischen Notwendigkeit des Widerstands und identitätsstiftender Abgrenzung.

Auch die Aktionen der Letzten Generation (LG) lassen sich gut durch die Brille des Workshops betrachten. Die LG kämpfte in ihrem Narrativ zwar nicht gegen die Gesellschaft. Sie klebte sich aber faktisch dem gesellschaftlichen Alltag in den Weg. Es haben sich zwar durchaus viele Menschen den Aktionen angeschlossen. Es ging aber nicht um Selbstorganisierung, sondern darum, an die Vernunft der Herrschenden zu appellieren.

Erste Annäherungen

Andere Aktionsformen sind da schon näher an der Gesellschaft dran: Haustürwahlkämpfe – wie zuletzt von der Partei die LINKE in Deutschland – waren durchaus erfolgreich. Auch bei der Nationalratswahl im Herbst 2024 in Österreich versuchte sich die Gruppe WIR* gegen rechts darin. Wahlkampf-Haustürgespräche bedeuten jedoch nicht automatisch eine Selbstorganisierung der oder Verankerung in der Gesellschaft.

Als stärkere Positivbeispiele lassen sich z.B. die Mieter*innenbewegung rund um Deutsche Wohnen & Co enteignen, Alle Dörfer Bleiben, Stadtteilgewerkschaftsarbeit oder die Kooperationen zwischen Klimagruppen, Gewerkschaften und Busfahrer*innen (Wir Fahren Gemeinsam bzw. Zusammen) nennen. Hier fand und findet tatsächliche Selbstorganisierung von Menschen aus der ‚Mitte der Gesellschaft’ statt. Auch wenn diese häufig relativ konzentriert auf ein bestimmtes Thema sind (z.B. Mieten, Vernichtung des Lebensort, Arbeitsbedingungen).

Die eigene Haltung hinterfragen

Eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der österreichischen Mehrheitsgesellschaft ist zunächst wohl begründet: Nationalsozialismus, FPÖ, ÖVP, WKO, Bauernbund – you name it. Doch was wissen wir eigentlich über ‚die Gesellschaft‘? Wir können nicht den Anspruch stellen, in der Gesellschaft verankerten Aktivismus zu machen, und gleichzeitig komplett ahnungslos sein. Was macht diese Gesellschaft abseits alltagsrassistischer und -sexistischer Strukturen überhaupt aus?

Es gibt wenig Interesse für und Wissen über die Wurzeln unserer Gesellschaften und/oder (prä-faschistische) Kulturen. Wer von uns ist aktives Mitglied einer Kirchengemeinde, geschweige denn eines Trachtenvereins, spricht Dialekt, singt Lieder aus der „Heimat“ und hat diese Mal auf ihr widerständiges Potenzial untersucht? Die mangelnde Kenntnis und Verbundenheit mit unseren Herkunftskulturen steht in direktem Zusammenhang mit unserer Sozialisierung in individualistischen und neoliberalen Kontexten. In diesen wird die Abkehr von Herkunftskulturen oft als Freiheit interpretiert. Wo wir doch sonst so gerne den Neoliberalismus verteufeln, verkörpern wir ihn in diesem Fall regelrecht.

Anker setzen

Wir stehen also vor der Herausforderung, politische Kämpfe stärker in der Gesellschaft zu verankern. Wir müssen eine Bewegungslinke werden, die nicht von oben herab agiert oder sich in der eigenen Szene isoliert. Stattdessen müssen wir an den konkreten Lebensrealitäten und Bedürfnissen der Menschen ansetzen. Dabei geht es nicht darum, für die Gesellschaft zu handeln, sondern mit ihr – durch eine langfristige Haltung der Zugewandtheit.

Ein erster Schritt dieses Prozesses ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Skepsis gegenüber der Gesellschaft. Ohne ein tiefgehendes Verständnis für ihre Geschichte, Werte und Prinzipien, Widersprüche und Stärken, bleibt Verankerung unmöglich. Doch damit stellt sich die zentrale Frage: Wie kann diese Verankerung konkret aussehen? Welche Formen der Organisierung, der politischen Praxis und des solidarischen Handelns fördern den gemeinsamen Aufbau von gesellschaftlicher Gegenmacht?

Gerade in Zeiten zahlreicher blauer Augen und klaffender politischer Wunden reicht Widerstand allein nicht aus – es braucht Alternativen, die in der Gesellschaft selbst wurzeln. Das setzt eine ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis und Haltung voraus. Eine Herausforderung, ja – aber eine, an der kein Weg vorbeiführt.

Foto: Peoples’ Platform Europe

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