Deutsche Angelobung: Wer losfährt, wenn alle Farben der Ampel leuchten

Heute findet die Angelobung von SPD, FDP und Grünen zur Ampel-Regierung Deutschlands statt. Stärken wird die neue Regierung vor allem bürgerliche Freiheiten, analysiert Alex Hiller den Koalitionsvertrag.

Die Koalitionsverhandlungen gingen zügig vorüber, schnell kam der Tag der Angelobung. Betrachtet man die Ergebnisse, bleibt eine soziale Politik unter dem neuen sozialdemokratischen Kanzler, Olaf Scholz, ein Wunschtraum. Stattdessen stehen liberale Finanzen, ein neues grünes Ministerium, das Wirtschaft und Klima bereits im Namen vereint und ein Machtpolitiker als Kanzler bevor.

Doch eines nach dem anderen. Die FDP hat mit der Angelobung das Finanzministerium erhalten. Was marktkonforme Finanzen in Krisenzeiten bedeuten, bewies der erzkonservative Wolfgang Schäuble (CDU) mit seinem unrechtmäßigen Alleingang gegen Griechenland in der Eurokrise, als er 2008 den Finanzminister stellte. Führt der neuerliche Sturz der türkischen Lira in eine weitere Krise, wissen wir, was uns erwartet. Im Inneren zeigt sich die Menschenfeindlichkeit der Liberalen  aktuell mit der vierten Welle der Corona-Pandemie, in der weder Kontaktbeschränkungen am Arbeitsplatz noch eine Impfpflicht eingeführt werden. Die Wirtschaft läuft trotz Gefahr für Leib und Leben weiter. Mit der FDP-Besetzung des Verkehrsministeriums bleibt außerdem fragwürdig, ob CO2-Emissionen radikal reduziert werden. Eine klimapolitische Wende untergraben die ebenfalls an der neuen Regierung beteiligten Grünen jedoch bereits selbst.

Grüne im Bund mit der Wirtschaft

Sie geben sich als rechte Sozialdemokraten und halten die Positionen des Wirtschafts- und Außenministeriums, sowie der Vize-Kanzlerschaft. Der neue grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck wird außerdem für das Klima zuständig sein. Die Grünen zielten im Wahlkampf verstärkt auf die Verknüpfung beider Felder ab. Ein Kompromiss mit der Wirtschaft rückt das Ziel, das Klima zu retten, wohl kaum in greifbare Nähe. Stattdessen handelt es sich um eine Fortsetzung postkolonialer Kontinuitäten unter grüner Fahne. Klimaneutralität stellen sie auf Kosten des globalen Südens her. Schon während dem Wahlkampf zeichnete sich ab, dass der Grüne Deal vor allem eines wird: Ein Deal mit der Wirtschaft, kein gesellschaftliches Projekt. Zudem wollen Grüne und FDP den noch staatseigenen Bahnverkehr teilprivatisieren, der bisher auf Ökostrom setzte.

Obwohl Annalena Baerbock (Die Grünen) noch im Wahlkampf stark auf globale Klimaziele setzte, erhielt sie nicht den Posten der neuen Klima-, sondern den der Außenministerin. Damit tritt sie in die Fußstapfen Joschka Fischers, der zwischen 1998 und 2005 der erste grüne Außenminister der BRD war. Mit dieser politischen Nachfolge ist Baerbock im Zugzwang, sollte sie sich nicht von vornherein als Militaristin diskreditieren. Denn unter Fischer führte die BRD damals Krieg im Kosovo und setzte dort mit grüner Zustimmung NATO-Truppen ein. Seitdem ist klar, dass die Grünen nicht zur Friedensbewegung zählen. Ob ein grünes Außen- wie Wirtschaftsministerium der Rüstungsindustrie standhält, wird sich nach der Angelobung erweisen.

Politische Verantwortung abgegeben ans Eigentumsrecht

Dennoch haben die Grünen mit der FDP im Verbund einen Pluspunkt der nachholenden Liberalisierung erwirkt. Einige schon lang hinfällige Gesetze werden für Individuen freiheitlicher gestaltet. Den Konsum von Cannabis will die neue Regierung legalisieren. Außerdem soll es im Internet durch Open Source, also offene Quellcodes, mehr Transparenz geben. Die Themen Urheberrecht und Open Acess, also öffentlicher Zugang zu bisher privatisierten Informationen, bleiben dagegen weitestgehend unangetastet.

In ihren Grundzügen folgt die Ampel den Plänen Margarethe Vestagers, die unter der EU-Komission Ursula von der Leyens für den Wettbewerb beauftragt ist. Vestager plädierte zuletzt mit ihrem Digital Services Act für die Einschränkung großer Konzerne, wie Facebook und Google, unter dem Deckmantel des individuellen Datenschutzes und aufgrund des Kartellrechts, zum Erhalt der »sozialen« Marktwirtschaft. Immerhin soll staatliche Überwachung durch biometrische Vermessung von Aussehen und Charaktereigenschaften ausgeschlossen werden. Auch der Staatstrojaner, der es dem Staat erlaubt, auf Endgeräte seiner Bürger:innen – trotz Unschuldsvermutung – proaktiv zuzugreifen, will die neue Regierung regulieren.

Es setzt sich dennoch das bürgerliche Eigentumsrecht durch. Auch in der Streichung des Paragraphen, der die Bewerbung von Abtreibungen verbot, spiegelt sich exakt dieses Individualrecht wider. Die Losung »My Body My Choice« hätte von vornherein als neoliberales Gewäsch ausgewiesen werden sollen. Gesamtgesellschaftlich wirksam sind individuelle Lösungen, die Abtreibung als private Entscheidung, fernab von sozialen und politischen Kontexten hinstellen, nie.

Integration der Mittelklasse

Das zeigt sich nicht zuletzt an der Klasse der Lohnabhängigen, denen die neu gewonnenen Freiheiten nach der Angelobung wenig nützen. Denn das über 100 Jahre alte Arbeitszeitgesetz wird mit der Abschaffung des Acht-Stunden-Tages angegriffen. Trotz SPD im Amt für Arbeit und Soziales. Ganz so, als ob es sich mehr und besser arbeite, wenn man doch nur Cannabis legalisiert, netzpolitisch progressiver wird und den Paragraphen zu Schwangerschaftsabbrüchen abändert. Gerade in Zeiten der Pandemie, in denen das kaputtgesparte Gesundheitssystem vollständig überfordert ist, sollte man auf die Gesundheit der Lohnabhängigen achten. Die Ampel gleicht dagegen eher einer Warnblinkanlage. Ihr gegenüber scheint die neue Generation der Net-Citizens allerdings blind. Mundgerecht zugeschnitten auf die Freiheit des Individuums, gestaltet sich der neue Koalitionsvertrag.

Scholz analysiert die Fehler seiner Vorgänger:innen genau und trifft dann logisch korrekte Entscheidungen. Das ist sein großes Potenzial, um Macht zu erlangen. Dank seiner lakonischen Berechnung wird er medial unter dem Titel »Scholzomat« geführt. Nicht jeder logischer Schluss ist ein richtiger. Es braucht ein Verständnis der Widersprüche, um gesamtgesellschaftlich fortzuschreiten. Die Integrationskraft des neuen »Blockes an der Macht« (Antonio Gramsci) muss sich in Hinsicht von Klasse noch erweisen. 12 Euro Mindestlohn bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitszeit, einer Kapitalisierung der Rente und keinerlei Bewegung in der Besteuerung der Reichen zeigen dieses Verständnis nicht.

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