ANARCHY IN THE UK – LABOUR VOR LINKSRUCK?

Im Rennen um den Partei-Vorsitz der britischen Labour Party liegt der Anti-Austerity-Kandidat Jeremy Corbyn unerwartet deutlich voran, was für weitverbreitete Panik sorgt. Grundstein dafür ist die erst kürzlich eingeführte Direktwahl durch die Parteibasis.

Die Wahl zur Nachfolge von Ed Miliband im September dürfte um einiges spannender ausfallen, als vielen in der Labour Party lieb ist. Andrew Burnham, ehemaliger Gesundheitsminister unter dem ehemaligen Premierminister Gordon Brown, war ursprünglich als klarer Favorit ins Rennen um die Nachfolge von Ed Miliband gegangen, während Yvette Cooper, derzeitige Schatten-Innenministerin, zumindest gewisse Außenseiterinnen-Chancen eingeräumt worden waren. Die beiden anderen Anwärter_innen, Liz Kendall als Rechtsaußen-Kandidatin und Jeremy Corbyn als linkes Überbleibsel aus der Ära vor dem neoliberalen Kurswechsel unter Tony Blair, waren von Partei-Granden und Presse zunächst wohl nur als chancenlose Randfiguren wahrgenommen worden.

Unerwarteter Erfolg bei Diskussionen mit Parteibasis

Doch dann wendete sich das Blatt unerwartet rasch. In den zahlreichen öffentlichen Meetings, in denen sich die Kandidat_innen der Diskussion mit der Parteibasis stellten, wirkte Andrew Burnham seltsam hölzern und wie von Spin-Doktor_innen ferngesteuert, und auch Yvette Cooper schien kaum fähig, sich in ihrer Diktion und Argumentation vom katastrophalen Erbe von Tony Blairs New Labour lösen zu können.

Jeremy Corbyn trat hingegen unerwartet frisch auf und konnte mit seinen Positionen gegen Austeritätspolitik, für Solidarität mit den Schwachen, für eine andere Wirtschaftspolitik und gegen eine militaristische Außenpolitik klar punkten. Er stieß auf enorme Resonanz an der Parteibasis und vermochte mit seiner einfachen, für alle zugänglichen Sprache und Argumentation ganz neue Schichten zu begeistern.

Massiver Mitgliederzustrom für Labour

Waren bereits infolge der Mobilisierung rund um die Wahlen im Mai die Mitgliederzahlen von Labour im Steigen begriffen, so traten nun innerhalb von wenigen Wochen hunderttausende, vor allem junge Mitglieder und Unterstützer_innen der Labour Party bei. Es schien sich für sie nun plötzlich die Möglichkeit aufzutun, in einem neuen Rahmen neue Diskussionsfelder zu eröffnen. Vor allem Junge wollten diese ernstzunehmende Chance, den parteienübergreifenden neoliberalen Grundkonsens endlich abzuschütteln, nicht so einfach vorbeiziehen lassen. Und auch an der bisherigen Parteibasis hatte offensichtlich die Wahlniederlage mit massiven Verlusten an die Scottish National Party (die mit ihrer klaren Anti-Austerity-Haltung Labour in Schottland praktisch völlig auslöschte), an UKIP (UK Independence Party) sowie an Nicht-Wähler_innen zu einer stärkeren Erschütterung und zu einem tiefgreifenderem Umdenken geführt, als dies von der derzeitigen Parteiführung vorausgesehen worden war.

Panische Attacken von Partei-Granden und Medien

Als dann erste Umfragen an die Öffentlichkeit gelangten, die Jeremy Corbyn mit 43 Prozent der Labour-Stimmen klar in Führung sahen, Andrew Burnham jedoch nur 26 Prozent, Yvette Cooper 20 Prozent und Liz Kendall 11 Prozent voraussagten, brachen bei den geschockten Labour-Granden Fassungslosigkeit und helle Panik aus.

Einige wollten das parteiinterne Auswahlverfahren sofort stoppen, andere gingen unverzüglich zum verbalen Angriff über: sie bezeichneten Corbyns politisches Programm als „vorsintflutlich“, beschimpften Abgeordnete, die Corbyn nominiert hatten, als „Schwachköpfe“ und sagten Labour unter Corbyns Parteivorsitz mindestens 20 Jahre in der Opposition voraus. Selbst Tony Blair meldete sich zu Wort und ließ uns wissen, dass diejenigen, deren Herz für Jeremy Corbyn schlägt, „eine Herztransplantation benötigten“. Auch die gesamte Medienlandschaft, ob Qualitätsmedien oder Boulevard, stimmte – wenig überraschend – sogleich unisono ein in den Chor der Hysterie, der an Absurdität wohl kaum zu überbieten ist: sie bezeichneten Corbyn als einen von „Kommunisten, Trotzkisten und den Tories unterstützten“ „Freund von Terroristen“, dessen politische Ideen zweifellos ein „Desaster für die Mehrheitsfähigkeit“ von Labour bei den Wahlen 2020 wären.

Aufmerksame Beobachter_innen der englischen Innenpolitik fühlen sich wohl nicht ganz zu Unrecht an die Richtungskämpfe innerhalb der Labour Party in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren erinnert. Damals kämpfte eine starke, den Ideen des demokratischen Sozialismus verpflichtete Strömung rund um Tony Benn für die Demokratisierung sowohl der Labour Party als auch der Wirtschaft und sah sich einer unglaublichen medialen Diffamierungskampagne ausgesetzt. (Tatsächlich war Corbyn in genau diesen Kämpfen politisiert worden und betrachtet den im Vorjahr verstorbenen Tony Benn als einen engen Freund und Mentor.)

Entscheidung im September

Die oben genannte Umfrage, die Corbyn derzeit in Führung sieht, ist natürlich nur eine Momentaufnahme. Neuere Umfragen scheinen jedoch diesen Trend nicht nur zu bestätigen, sondern sehen Corbyn mit inzwischen 53 Prozent sogar noch weiter voran als bisher angenommen. Burnham ist inzwischen auf 21 Prozent zurückgefallen, Cooper auf 18 Prozent und Kendall liegt nun bei 8 Prozent.

Corbyn wird zwar von der Parteibasis und von Gewerkschaften unterstützt, aber so gut wie alle Medien und die meisten Partei-Granden sind ihm höchst feindlich gesinnt. Die entscheidende Abstimmung findet erst am 12. September statt – bis dahin sind wohl noch zahllose Versuche zu erwarten, ihn zu dämonisieren, zu diskreditieren und die Parteibasis mit einer Kombination von Einschüchterung und „Appell an die Vernunft“ doch noch umzustimmen.

Neue Direktwahl beflügelt Demokratisierung

Wie auch immer das Ergebnis schlussendlich ausfallen wird, die intensiven Diskussionen und Meetings haben Labour-intern Prozesse ausgelöst, die wohl noch längere Zeit nachwirken werden. Der neue Wahlmodus, der der Parteibasis erstmals ermöglicht, den Parteivorsitz direkt zu wählen, war unter Ed Milibands Vorsitz erst im Vorjahr eingeführt worden. Auch wenn Ed Miliband sich in seiner Amtsführung zuwenig vom katastrophalen Erbe von Tony Blairs „New Labour“ abzusetzen vermochte, so ist ihm doch zumindest dieses Verdienst, seine Nachfolge in demokratischer Weise bestimmen zu lassen, nicht zu nehmen.

Es scheint, dass es kein wirksameres Mittel gibt, um neues Leben, unverbrauchte Ideen und frische Energie in eine zuletzt oft moribund wirkende Partei zu injizieren, als die radikale Demokratisierung der Strukturen der Entscheidungsfindung, in welcher die Basis die entscheidende Rolle spielt.

Angesichts dessen aber, dass dies in der Geschichte der Labour Party bislang einzigartige Experiment andere Ergebnisse hervorzubringen droht, als von den Partei-Granden vorhergesehen, könnte es gut sein, dass – sollte Corbyn es nicht schaffen – dieses Tor nach der partei-internen Wahl am 12. September für lange Zeit wieder verschlossen bleiben wird. Bis dahin aber dürfte es weiterhin spannend bleiben, das Ergebnis scheint derzeit noch völlig offen. „Watch this space“, würden die Brit_innen wohl sagen, „behalten wir die Sache im Auge“.

Wolfgang Homola engagiert sich im Grafik-Team von Attac und hat 3 Jahre in Großbritannien gelebt.

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