11 Monate später…

Foto eines Demonstrierenden mit Israel Flagge

Veronica Lion lebt seit acht Jahren in Israel. Nach Ausbruch des Krieges ging sie mit ihren Kindern nach Wien. Ein Monat später kehrte sie nach Israel zurück. Auf mosaik schildert sie persönliche Eindrücke einer neuen Normalität, die nur für die wenigsten erträglich ist.

11 Monate sind seit dem 7. Oktober vergangen. Immer noch steigen die Zahlen der Opfer im Gazastreifen, die bereits die 40.000 Marke überschritten haben. Die wenigen persönlichen Geschichten, die auch die israelischen Medien erreichen, sind herzzerreißend. Immer noch sitzen dutzende Geiseln irgendwo im Gazastreifen fest. Ihre Gesichter starren uns an Busstationen, in öffentlichen Einrichtungen, an Straßenecken ins Gesicht. Ihre Familien schreien Woche um Woche um ihre Liebsten. Gelbe Schleifen zieren Autos und Geschäfte in Solidarität.

Immer noch fallen Soldaten – es sind tatsächlich fast ausschließlich männliche Soldaten im Gazastreifen bzw. an der Grenze zum Libanon stationiert. Persönliche Geschichten ihrer Familien füllen Social Media-Kanäle und die Augen aller mit Tränen. Nach wie vor sind zehntausende Israelis sowie ganze Kibbutz-Gemeinschaften im Norden, sowie in der Nähe zum Gazastreifen evakuiert und wissen nicht, wann und ob sie nach Hause zurück kehren können.

Forderungen nach Waffenstillstand

Während der vergangenen Monate, flackerte immer wieder ein klein wenig Hoffnung auf, dass diesmal ein Waffenstillstand doch gelingen könnte. Dass der Druck von außen, vor allem von den USA, und innen diesmal doch groß genug sein würde. Aber de facto hat sich nicht viel geändert. Netanjahu tut weiterhin alles, um an der Macht zu bleiben. Er versteckt sein einzig wahres Ziel hinter dem Schleier, den „totalen Sieg“ über die Hamas zu verfolgen, und der einzige zu sein, dem das Sicherheitswohl Israels am Herzen liegt.

Dabei ist mittlerweile allen klar, dass das kein realistisches Ziel ist. Die militärischen Rettungsaktionen von Geiseln, die nur punktuell und unter großem Verlust erfolgreich waren, stellen definitiv keine Alternative zu einem Waffenstillstand und dem damit verbundenen Austausch von Geiseln für palästinensische Gefangene dar. Mittlerweile sind die meisten Israelis für einen solchen Waffenstillstand und für die Rückholung der Geiseln. Aber diesen Preis will Netanjahu nicht zahlen. Seit Monaten gehen die Familien der Geiseln wöchentlich auf die Straßen. Unterstützt von Organisationen, die den Rücktritt Netanjahus und einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Aber den Protestorganisationen geht langsam das Geld aus. Und die Kraft.

Gleichzeitig pulsierende Realitätsstränge

Die oft gepriesene israelische Widerstandsfähigkeit wird seit Monaten von allen Seiten strapaziert. Auf persönlicher Ebene müssen alle tagtäglich ein Gleichgewicht finden, zwischen gleichzeitig pulsierenden Realitätssträngen. Es gibt die nach wie vor existierende Bedrohung von außen. Je nachdem wo Menschen innerhalb Israels leben, stehen sie in permanenter Alarmbereitschaft, um sich bei Raketenangriffen rechtzeitig in Bunker zu begeben. Sie sind in Angst, dass diesmal der Iran bzw. die Hisbollah doch ganz Israel ins Visier nimmt.

Dann ist da die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft. Sie hat sich nach anfänglichem kurzweiligen Zusammenhalt im Oktober, nun wieder in ihre klar markierten Positionen zersplittert. Es erinnert an die Zeit während der großen Proteste 2023. Die Trennung zwischen links und rechts ist klarer denn je. Die Begründung dafür ist tragisch: Da die Mehrheit der Geiseln und ihre Familien jenem politischen Lager angehören, das Netanjahu niemals wählen würde, interessiert sich die Rechte nicht für ihr schwindendes Wohlbefinden. Dieser Rechten gehören auch jene Menschen an, die das Einführen von Hilfsgütern in den Gazastreifen blockieren.

Faschistoide Rechte, internationaler Boykott und Alltag

Es ist eine faschistoide Rechte, die unter Netanjahus Schutz frei walten kann. Sie vereinnahmt die Polizei und lässt sie auf Demonstrant*nnen los. Sie unterstützt gewalttätige Siedler*innen dabei, Palästinenser*innen der West Bank zu terrorisieren und sich ihr Land anzueignen. Sie führt das Einrennen einer Militärstation an, in der israelische Soldaten festgehalten werden, die unter Verdacht stehen, palästinensische Gefangen gefoltert zu haben. Die Rechte nützt die schwarze Stunde des Landes, um sich ihren Traum von der israelischen Wieder-Bevölkerung des Gazastreifen, der 2005 mit Netanjahus Unterstützung evakuiert wurde, zu erfüllen. Und sie setzt alles daran, die letzten Überreste der israelischen Demokratie niederzutrampeln.

Gleichzeitig ist die Erfahrung von Israelis, auch von extrem linken, im internationalen Kontext nicht gerade einfach. Ausladungen von Konferenzen, der Abbruch von Zusammenarbeiten oder Boykott gegen Mitglieder israelischer Institutionen sind die noch am wenigsten gewaltvollen Reaktionen. Und dann gilt es diesen schwelenden Zustand mit dem Alltag in Einklang zu bringen, den es trotz allem gibt. Arbeiten, einkaufen, kochen, die Kinder in den Kindergarten bringen und wieder abholen. Dazwischen Gedanken an eine mögliche Relocation und die Frage wovon diese Entscheidung abhängen sollte. Eine unglaublich kräftezehrende Normalität, die nicht normal sein sollte.

Wenig, das Kraft spendet

Es gibt dieser Tage wenig, das Kraft spendet. Ein geglückter Flug nach Österreich, nachdem viele Fluglinien ihre Flüge aufgrund der angekündigten militärischen Reaktion des Iran gestrichen haben. Ein bisschen Atmen. Ein bisschen Urlaub bis es wieder zurückgeht.

Ein Wiederaufflammen der Proteste vergangenen Sonntag, nachdem sechs Geiseln tot in den Tunneln im Gazastreifen aufgefunden wurden. Einige davon haben monatelang die Medien und Straßen mit ihren Gesichtern geziert. Hunderttausende strömen auf die Straßen. Unsere Herzen sind zerrissen, niemand wacht über uns, heißt es. Der nächste Deal hätte sie retten können. Sogar die Gewerkschaft schaltet sich mit einem Streik ein. Aber während der darauffolgenden Tage nimmt die Zahl der Protestierenden wieder ab. Das Gefühl, dass das jahrzehntelange Abkommen zwischen Bevölkerung und Staat, wonach Familien ihre Kinder in den Krieg schicken, mit dem Versprechen, dass der Staat alles in seiner Macht stehende tut, um sie zu beschützen, hinfällig geworden ist, ist lähmend.
Die Wut ist groß, die Trauer auch. Aber langsam geht allen die Kraft aus.

Dass unsere Zweijährige versucht, sich während eines Sommergewitters in Österreich damit zu beruhigen, dass es sich bei dem lauten Donner doch nur um (Kampf-)Flugzeuge handelt, deren Getöse ihr aus Israel bekannt ist, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Und ich frage mich, wie lange wir noch in dieser Normalität leben wollen bzw. können.

Hier findet ihr den ersten und zweiten Teil von Veronicas Erzählungen.

Titelbild: Privat

Autor

  • Veronica Lion

    Veronica Lion lebt seit 2016 in Israel und forscht im Rahmen ihres Doktorats an der Bar Ilan Universität zu von Frauen angeleiteten Friedensbewegungen in Israel.

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