Ein Jahr vor Ausbruch der Finanzkrise erschütterte der BAWAG-Skandal Österreich. Im März 2006 wurde bekannt, dass Wolfgang Flöttl, Sohn eines ehemaligen BAWAG-Chefs, durch Währungsspekulationen eine Milliarde Euro versenkt und dies gemeinsam mit der Führung der BAWAG vertuscht hatte. Das Besondere dabei: Diese wilden Spekulationsgeschäfte wurden mit Haftungen des ÖGB-Streikfonds abgesichert, war doch die „Arbeiterbank“ bis zu diesem Zeitpunkt in Besitz des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB). Sinkende Mitgliederzahlen konnten bis dahin durch Erträge der eigenen Bank ausgeglichen werden. Diesen finanziellen Spielraum gibt es seither nicht mehr.
Sozialpartnerschaft reloaded
Gewerkschaftsintern führte der BAWAG-Skandal zunächst zum Rücktritt des langjährigen ÖGB-Präsidenten Fritz Verzetnitsch und dessen Vertrauten und Finanzverantwortlichen Günter Weninger. Die neue Gewerkschaftsspitze um Rudolf Hundstorfer entschied, die marode Gewerkschaftsbank zu verkaufen. Der Verkauf der BAWAG war im ÖGB jedoch alles andere als unumstritten, galt die hauseigene Bank – ähnlich wie die rund 10 Jahre zuvor Pleite gegangene Konsumgenossenschaft – doch als verbliebenes Prestigeobjekt aus sozialistischen Zeiten. Die mehr als 2 Milliarden Schulden des Gewerkschaftsbundes, als Folge der übernommenen Haftungen, ließen schlussendlich jedoch keine Wahl zu. Die Bank wurde an einen US-Fonds verkauft, um eine Insolvenz des ÖGB zu vermeiden.
Die Angriffe der schwarzblauen Regierung auf die ArbeitnehmerInnenverbände führten ab 2000 zu einer Wiederbelebung der Sozialpartnerschaft unter Führung von Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl. Leitl setzte, im Gegensatz zur Industriellenvereinigung, auf eine geschlossenes Gegenüber und nicht etwa auf die Dezentralisierung von Verhandlungen. Der ÖGB trug seinen Teil durch die Urabstimmung und einen darauf folgende Streik gegen die schwarzblaue Pensionsreform bei. Nachdem der BAWAG-Skandal zunehmend zu einer existenziellen Krise für den ÖGB anwuchs, stellte sich Leitl erneut demonstrativ an die Seite des Sozialpartners und lobte dessen ausgezeichnetes Krisenmanagement.
Der Druck steigt: „Reform“ bedeutet Sparen
Um die Jahrtausendwende fusionierten einige Fachgewerkschaften, durch die ÖGB-Krise wurden diese Prozesse beschleunigt. Gewerkschaften schlossen sich aus Rationalisierungsgründen zusammen, Gewerkschaftsregionen wurden „reformiert“ und die Arbeit von GewerkschaftssekretärInnen unter dem vielversprechenden Schlagwort ÖGB-Reform dadurch stark verdichtet. Statt ursprünglich 16 gibt es heute nur noch 7 Fachgewerkschaften.
Die ÖGB-Krise führte somit zwar zu einem Erstarken der Teilgewerkschaften gegenüber der Zentrale. Gleichzeitig stieg jedoch der finanzielle Druck in Folge der BAWAG-Verluste. Der Rückgang an Mitgliedern (2015: 1,2-Millionen; 1990: noch 1,65 Millionen) – durch das ausgeprägte sozialpartnerschaftliche System in Österreich und die Erträge einer hauseigenen Bank lange Zeit kein Thema – wird seitdem mehr und mehr zu einem finanziellen Problem.
Gewerkschaftskrise als verspielte Chance für Erneuerung
Viele Linke blickten 2006 zunächst jedoch mit einiger Hoffnung auf eine Erneuerung durch die Krise. Unter dem Titel „Der Gewerkschaft beitreten – die Gewerkschaften demokratisch verändern!“ forderte die KPÖ etwa „Strukturen und Geschäftsordnungen zu schaffen, die auf Mitsprache und Vertretung von aktiven Mitgliedern, BetriebsrätInnen und PersonalvertreterInnen, insbesondere Frauen und MigrantInnen in Gremien abzielt“.
Der Legitimationsdruck stieg auch innerhalb der Gewerkschaft. Die von FunktionärInnen und ÖGB-MitarbeiterInnen ausgehende Initiative „Zeichen setzen“ forderte eine grundsätzliche Neuorientierung der Gewerkschaft: die Demokratisierung des ÖGB; 50 Prozent Frauenanteil an der ÖGB-Spitze; die Öffnung des ÖGB für ArbeitnehmerInnen in Klein- und Mittelbetrieben, freie DienstnehmerInnen, geringfügig Beschäftigte, neue Selbständige, Arbeitslose, MigrantInnen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen; eine Deckelung des Einkommens von GewerkschafterInnen mit 4.500 Euro; sowie die Unabhängigkeit des ÖGB von den politischen Parteien.
In der Krise griff die neue Gewerkschaftsführung um Hundstorfer Teile dieser Forderungen auf und kündigte einen demokratischen Neubeginn an. Umgesetzt wurde davon nicht viel. Offensichtlich fehlte es an einer Strategie, um einen langfristigen Wandel von unten herbeizuführen. So wurden unter dem Titel „ÖGB-Reform“ schlussendlich in erster Linie Einsparungsmaßnahmen von oben umgesetzt.
Zerrüttetes Verhältnis zwischen Gewerkschaft und ihrer Partei
Ein Grund dafür, dass es trotz der größten Krise des ÖGB nach 1945 zu erstaunlich wenig Veränderungen kam, hat mit Alfred Gusenbauer zu tun. Der damalige SPÖ-Vorsitzende sah die Notwendigkeit, aus dem Finanzskandal Konsequenzen zu ziehen. Er initiierte einen Unvereinbarkeitsbeschluss des Parteipräsidiums, wonach hochrangige FSG-FunktionärInnen nicht mehr automatisch für die SPÖ im Nationalrat sitzen sollten. Die FSG wollte diese parteiinterne Entmachtung nicht hinnehmen. Im gerade beginnenden Wahlkampf drohten die roten GewerkschafterInnen mit einem vollständigen Rückzug aus der SPÖ.
Diese Trennung wurde von linker Seite inner- und außerhalb der Gewerkschaft eigentlich gefordert. Geblieben ist davon bekanntlich nicht viel. Zwei Jahre später wurde Gusenbauer unter anderem wegen dieser Frage durch Werner Faymann ersetzt, was sich im Nachhinein als keine Verbesserung herausstellen sollte. Faymann hob den Unvereinbarkeitsbeschluss sofort wieder auf. GewerkschafterInnen sind seitdem nicht nur in den SPÖ-Gremien und im Nationalrat, sondern vor allem in der Regierung stärker denn je vertreten.
Der ausstehende Weg vom „Für“ zum „Mit“
Der ÖGB ist im internationalen Vergleich eine Gewerkschaft, die sehr ausgeprägt »für« statt »mit« seinen Mitgliedern agiert. Ab 2000 kam – analog zu internationalen Entwicklungen etwa bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der IG Metall oder der Schweizer Unia – langsam zum Umdenken. Neue Formen der Kampagnenführung und der aktiven Öffentlichkeitsarbeit wurden auch in Österreich diskutiert. In vergleichbaren Ländern hat das in den letzten fünfzehn Jahren zur Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn und vor allem zu einer strategischen Verschiebung von gewerkschaftsinternen Ressourcen zu Gunsten von neuen „Organizing“-Ansätzen geführt. Sichtbares Ergebnis: Gewerkschaften wie ver.di setzten wieder auf die Mobilisierung von Belegschaften etwa durch Streiks zur Mitgliedergewinnung. In Österreich hingegen führte die BAWAG-Krise im ÖGB dazu, sich auf bekannte Vertretungsmodelle zurückzuziehen.
Veränderungsbedarf gibt es jedoch nach wie vor. Vor dem Hintergrund einer möglichen Regierungskonstellation ohne Gewerkschaftsbeteiligung oder einer sich abzeichnenden Änderung der Strategie der Wirtschaftskammer weg von sozialpartnerschaftlichen Kompromissen wird sich die Frage der gewerkschaftlichen Mobilisierungs- und Kampffähigkeit möglicherweise sehr bald neu stellen. Die größte Herausforderung bleiben jedoch neue Erschließungsstrategien in Branchen, die Gewerkschaften kaum oder immer weniger erreichen. Ob Wohlfühlkampagnen wie die aktuelle „Lohnsteuer senken“-Kampagne (ohne Umverteilungseffekte bei der Gegenfinanzierung) eine nachhaltige Mitgliedergewinnungsstrategie sind, darf bezweifelt werden. Dementsprechend hat diese aktuelle Kampagne des ÖGB viel mit klassischem Marketing zu tun, jedoch wenig mit einer Erneuerung von gewerkschaftlichen Ansätzen, wie sie seit mehr als zehn Jahren unter dem Schlagwort „Organizing“ diskutiert werden.
Positive Ansätze in diese Richtung gibt es aber auch in ÖGB-Gewerkschaften. So beschreitet etwa die Sezonieri-Kampagne der PROGE oder die Gewerkschaft Bau-Holz (GBH) mit ihren „Organizing“-Ansätzen neue Wege. Auch spezifische Weiterbildungsangebote für Pflegepersonal in Oberösterreich weisen in diese Richtung.
Rainer Hackauf ist basisgewerkschaftlich und antirassistisch aktiv. Er ist Mitglied im Verband zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender. Rainer bloggt unter www.si-se-puede.at über Organisierungs- und Kampagnenarbeit.