Kampftag statt „Sozi-Weihnachten“: Die Geschichte des 1. Mai

1. Mai 1914, Indiana

Rote Fahnen, blaue Hemden, Festreden und Kapellen, die hinter der Tribüne am Wiener Rathausplatz verschwinden: Der 1. Mai ist ein Feiertag. Das war nicht immer so. Die Geschichte des 1. Mai ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.

Alles begann in Australien. Dort legten Beschäftigte im Jahr 1856 als Manifestation für den Achtstundentag für einen Tag die Arbeit nieder. Die US-amerikanischen Arbeiter*innen waren die ersten, die diesem Beispiel folgten und den 1. Mai als Tag der allgemeinen Arbeitsruhe festlegten.

US-amerikanische Vorgeschichte

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich in den USA sozialistische Parteien, Gewerkschaften und anarchistische Assoziationen heraus. Auch österreichische und deutsche Emigrant*innen haben eine Rolle im Aufbau dieser Organisationen gespielt.  

Einer dieser Deutsch-Amerikaner war Oscar Ameringer. In den USA erhielt er eine Anstellung in einer Möbelfabrik und schloss sich der anarchistischen Gewerkschaftsbewegung an. Später berichtete er: „Die Geschwindigkeit stand an erster Stelle, die Qualität der Verarbeitung an letzter. Die Arbeit war eintönig, die Schufterei zehn Stunden am Tag, mein Lohn: ein Dollar am Tag. […] Als nun Agitatoren der ‚Knights of Labour‘ [einer anarchistischen Gewerkschaft, Anm.] in unseren Ausbeuterbetrieb einfielen und die göttliche Botschaft von weniger Arbeit für mehr Lohn predigten, wurde ich einer von ihnen.“

Massenstreik in Chicago

Mit dieser gewerkschaftlichen und politischen Organisierung begannen auch die Klassenkämpfe. Immer wieder löste die Polizei Streiks und Massendemonstrationen gewaltsam auf. Aber die Menschen forderten weiterhin den Achtstundentag.

In den Maitagen des Jahres 1886 gab es in den USA Streik in etwas 12.000 Fabriken. In Chicago knüppelte die Polizei die Streikbewegung nieder. Zehn Arbeiter wurden getötet und Dutzende verletzt. Die Geschehnisse gingen als „Haymarket Riot“ in die Geschichte ein. Den vermeintlichen Rädelsführern wurde anschließend der Prozess gemacht, der mit der Hinrichtung von vier Angeklagten endete.

Zwei Jahre nach den Ereignissen beschloss der Gewerkschaftsdachverband „American Federation of Labor“ den 1. Mai als Kampftag. Nicht ohne Grund: Der 1. Mai war ein sogenannter „Moving Day“, an dem gewöhnlich Arbeitsverträge abgeändert werden konnten.

Kampf für den Achtstundentag

Die Zweite Internationale schloss sich dieser Wahl des Datums an. In Erinnerung an den Generalstreik in den USA erklärte sie bei ihrem Gründungskongress 1889 den 1. Mai zum internationalen Kampftag für den Achtstundentag. In Österreich führte der Beschluss zur Gründung des „Arbeiterinnen-Bildungsvereins“ am 29. Juni 1890. Es war aber nicht nur die Geburtsstunde der sozialdemokratischen Frauenbewegung, sondern auch der der Startschuss für den Aufbau einer echten Massenbewegung: Victor Adler organisierte die Kampagne für den darauffolgenden 1. Mai – mit Erfolg. Dieser Tag brachte der Sozialdemokratie in Österreich den Durchbruch.

Damals herrschte der Ausnahmezustand. Die Vereins- und Versammlungsfreiheit war stark eingeschränkt, die Parteizeitung wurde zensuriert und schließlich verboten. Mitglieder der Sozialdemokratie wurden politisch verfolgt. Nachdem es im April 1890 zu sogenannten „Arbeiter-Excessen“ gekommen war, erwog die Regierung sogar die Einführung des Standrechts. Auf dieser Grundlage hätten rasch Todesurteile vollstreckt werden können.

Trotz Repressionen gab es in Wien am Vormittag des 1. Mai 1890 über 60 Versammlungen. Nachmittags zogen mehr als 100.000 Arbeiter*innen in den Prater. Die Parole lautet „8–8–8“: acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Erholung. Es war die größte Kundgebung, die Wien bis dahin erlebt hatte – und das nur ein Jahr nach der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Auch Friedrich Engels erkannte das an: „Feind und Freund sind sich einig darüber, dass […] Wien den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten begangen hat.“

Vom Kampftag zum Feiertag

Bis 1907 stand der Kampf für das allgemeine und gleiche Wahlrecht im Mittelpunkt der Maifeiern. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fanden am 1. Mai Kundgebungen für den Frieden und die internationale Solidarität statt. Der Kriegsbeginn unterbrach diese Tradition. Mit der sogenannten „Burgfriedenspolitik“ stellte sich die Sozialdemokratie hinter die Regierung und blieb politisch abstinent.

Durch die Revolution von 1918 konnte die Sozialdemokratie, nunmehr mit einer neuen staatspolitischen Bedeutung ausgestattet, den 1. Mai offiziell als Feiertag beschließen. Seither büßte der Tag an Kampfgeist ein. Der Maiaufmarsch in seiner heutigen Form geht auf das Jahr 1929 zurück. Damals marschierten die Menschen zum ersten Mal in zwei Zügen am Rathaus vorbei. Sportliche Wettbewerben begleiteten das festliche Spektakel. Austrofaschismus und Nationalsozialismus unterbrachen die Tradition, die noch vor Kriegsende wieder aufblühte. Während im Westen noch gekämpft wurde, bot der 1. Mai 1945 Anlass für die ersten politischen Kundgebungen der Zweiten Republik. Im Folgejahr feierte die Wiener SPÖ wieder auf traditionelle Weise: 200.000 Menschen marschierten am Rathaus vorbei.

Der 1. Mai 2023

Seither sind die Teilnehmerzahlen gesunken. Die Maiaufmärsche der letzten Jahre waren nicht nur pandemiebedingt schlecht besucht. Der politische Lockdown der SPÖ, die ihr kämpferisches Profil völlig aufgegeben hat, übte wenig Anziehungskraft aus. Die Bewegung, die der Traiskirchner Bürgermeister Andi Babler zuletzt in die Partei gebracht hat, und der Wahlerfolg der KPÖ in Salzburg könnten den diesjährigen 1. Mai aber wieder zu einem hoffnungsvollen Tag machen. Es liegt an der Basis, die Tradition des Kampftages wiederzubeleben und politische Forderungen zu erheben. Schwarz-Blau hebelte den Achtstundentag, für den schon die australischen Arbeiter*innen 1856 gekämpft haben, 2017 aus. Aber eine weitergehende Arbeitszeitverkürzung ist nur ein Punkt, für den es sich am 1. Mai zu kämpfen lohnt.

Foto: Steve Shook

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