Vom Novemberpogrom zur Zwangsenteignung

Die beiden Historikerinnen Jutta Fuchshuber und Linda Erker skizzieren die antisemtisichen Übergriffe während des Novemberpogroms in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 in Wien und zeigen dessen Bedeutung für die spätere Zwangsenteignung der jüdischen Bevölkerung auf. 

Direkt nach dem sogenannten „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 setzten Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden ein, die schließlich im Novemberpogrom gipfelten. Die Mehrheit der österreichischen Jüdinnen und Juden lebte vor 1938 in Wien und so prägten die wochenlangen Übergriffe ab sofort den Alltag in der Hauptstadt. In dieser Phase griffen die nationalsozialistischen Funktionäre und Organisationen nicht aktiv ein und so konnte sich eine gewisse Eigendynamik in den Ausschreitungen entwickeln. Die jüdische Bevölkerung wurde ohne gesetzliche Grundlage gedemütigt, tätlich angegriffen, beraubt und in etlichen Fällen auch verhaftet. Viele ÖsterreicherInnen erkannten die Möglichkeit, ihre politische und soziale Unzufriedenheit auszuleben und beteiligten sich an den Ausschreitungen gegen ihre NachbarInnen.

Im November 1935 definierte bereits das NS-Regime in den Nürnberger Rassegesetzen, wer Jüdin/Jude war oder als solche/r galt. Von dieser Fremddefinition waren auch jene betroffen, die sich selbst nicht als Jüdin oder Jude verstanden, zu einem anderen Glauben konvertierten oder ohne Religionsbekenntnis lebten. Auch sie waren den antisemitischen Übergriffen ausgesetzt.

Ohne Befehle aus dem Deutschen Reich („Altreich“) oder von regionalen Funktionären wurde die jüdische Bevölkerung nach dem „Anschluß“ unter anderem gezwungen, mit Kübeln und Bürsten die Straßen und Häuserfronten von den politischen Parolen der geplanten Volksabstimmung Kurt Schuschniggs zu reinigen. Die Propagandafotos dieser „Reibpartien“ wurden zu Bildikonen für die frühe Phase des Nationalsozialismus in Österreich. Neben dieser öffentlichen Demütigung kam es zu willkürlichen Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und kurzzeitigen Inhaftierungen. Darüber hinaus wurden exponierte politische Gegner ins Konzentrationslager Dachau nahe München deportiert. Geschäfte jüdischer BesitzerInnen wurden als solche gekennzeichnet bzw. beschmiert. So wurden unter anderem in den Fenstern Plakate mit Inhalten wie „Arier! Kauft nicht bei Juden“ angebracht. In dieser Phase kam es zu sogenannten „wilden Arisierungen“, der widerrechtlichen Aneignung von Geschäften/Besitztümern jüdischer EigentümerInnen: Angestellte, KonkurrentInnen und langjährige NSDAP-Mitglieder („Alte Kämpfer“) übernahmen Betriebe als „wilde Kommissare“. Um hier diese eigenmächtigen „Arisierungen“ zu regulieren, wurde auf Anregung österreichischer NS-Vertreter die Vermögensverkehrsstelle (VVSt.) in Wien gegründet. Als zentrale Enteignungsbehörde nahm sie eine Vorreiterrolle im gesamten Deutschen Reich ein und institutionalisierte den Prozess der Enteignungen.

Novemberpogrom 1938

Im Oktober 1938 führte das NS-Regime die Abschiebung von über 15.000 im „Altreich“ lebender polnischen Jüdinnen und Juden über die Ostgrenze nach Polen durch. In Reaktion und als Protest auf diese Diskriminierung schoss in Paris am 7. November 1938 der 17-jährige Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath, der am 9. November an den Folgen seiner Schussverletzung starb.

Das Startsignal zum Novemberpogrom kam aus München, wo sich NS-Funktionäre aus den unterschiedlichen Gauen am Abend zum Jahrestag des gescheiterten Hitler-Putsches (1923) trafen. Goebbels appellierte in seiner Rede, auf das Pariser Attentat entsprechend brutal zu reagieren. Wie die meisten anderen anwesenden Gauleiter, griff auch der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik zum Telefon und informierte die österreichischen Parteigenossen über diese Aufforderung. Sogleich setzten Gewalttaten in der Nacht vom 9. November ein, die sich gegen den Morgen des 10. Novembers zuspitzten. Alleine in Wien wurden 42 Synagogen und Bethäuser vor allem von SA- und SS-Mitglieder geplündert, zerstört und niedergebrannt. Jüdinnen und Juden wurden misshandelt und in Sammelstellen gebracht, jüdische Frauen teilweise sexuell missbraucht. Im Zuge des Novemberpogroms wurden 27 Wiener Jüdinnen und Juden ermordet, 88 schwer verletzt, zwischen 6.547 und 7.800 verhaftet und teilweise in „Notarresten“ (Kenyongasse, Karjangasse, Pramergasse und in den Sophiensälen) festgehalten. Geschäfte und Wohnungen von Jüdinnen und Juden wurden zerstört und teilweise geplündert. Von rund 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung wurden bei Hausdurchsuchungen Vermögenswerte unter dem Deckmantel der „Beschlagnahme“ geraubt. Das Novemberpogrom wurde in der NS-Zeit in Anspielung an „nur“ zerbrochene (Synagogen-)Fenster verharmlosend als „Reichskristallnacht“ bezeichnet und fand im gesamten Deutschen Reich statt.

Konsequenzen des Novemberpogroms

In der Besprechung über die künftige antijüdische Politik am 12. November 1938 legten etwa 100 Teilnehmer, unter ihnen Hermann Göring und der österreichischen Wirtschaftsminister Hans Fischböck, zwei Vorgangsweisen fest: Einerseits sollten Jüdinnen und Juden für die während des Pogroms entstandenen Schäden selbst aufkommen. Andererseits sollten sie aus der Wirtschaft gedrängt werden. In der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ (GBfLÖ 584/1938) wurde ihnen im gesamten Reichsgebiet untersagt, selbstständig Handels- und Handwerkbetriebe zu führen und Waren oder gewerbliche Leistungen zu offerieren. Darüberhinaus wurde die jüdische Bevölkerung als sogenannte „Sühnemaßnahme“ verpflichtet, eine Milliarde Reichsmark als kollektive „Buße“ an das Deutsche Reich zu leisten. Die antisemitische Stimmung veranlasste etliche Jüdinnen und Juden, aus Österreich zu flüchten. Über 680 Betroffene sahen in den Tagen nach dem Pogrom im Suizid den letzten Ausweg.

Direkt nach dem Novemberpogrom ordnete der Wiener Gauleiter Globocnik die sofortige Schließung aller Geschäfte von jüdischen BesitzerInnen sowie die Abgabe der Schlüssel an die Polizei an. Auch verlassene Wohnungen, in denen vormals Jüdinnen und Juden lebten, mussten versiegelt werden. Parallel dazu sprach sich der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich für ein Verbot der willkürlichen Plünderungen aus. Dennoch raubten NationalsozialistInnen in Wien weiterhin etwa 5.000 Geschäfte und Betriebe aus. Der Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Josef Bürckel, beauftragte den Wirtschaftsminister mit der Umsetzung der Sicherungsmaßnahmen der Geschäfte von Jüdinnen und Juden, welche letztendlich von der Wiener Polizei durchgeführt wurden. Hierbei galt es, die Vermögenswerte dieser Geschäfte zu inventarisieren und es sollten nur jene wiedereröffnet werden, die laut der Planung der Vermögensverkehrsstelle. für eine „Arisierung“ vorgesehen oder von den Plünderungen des Novemberpogroms verschont geblieben waren. Nach einer „Zusammenstellung der gesperrten jüdischen Geschäfte in Wien und deren arische Gefolgschaft“ vom 22. November 1938 wurden 4.862 Betriebe gesperrt. Anfang Dezember 1938 fand neuerlich eine Besprechung über die künftige antijüdische Politik mit Schwerpunkt auf „Arisierungen“ statt. Göring betonte mehrmals, dass Enteignungen nur auf gesetzlichen Bestimmungen hin durchzuführen seien und im alleinigen Kompetenzbereich der staatlichen Stellen liegen. Der Partei und ihren Organisationen wurde nun endgültig untersagt, sich einzumischen und davon zu profitieren. Gewinne aus den Enteignungen sollten ab diesem Zeitpunkt ausnahmslos dem NS-Staat zugeführt werden. Durch die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 6. Dezember 1938 (GBfLÖ 633/1938) wurde die Zwangsenteignung von Geschäften jüdischer BesitzerInnen jetzt auch rechtlich geregelt.

Mit Blick auf die Bedeutung des Novemberpogroms wird deutlich, dass der erste Schritt zur staatlich gelenkten Enteignungspolitik mit der Schaffung der VVSt. erzielt und der Prozess der „Arisierung“ beschleunigt wurde, welcher schlussendlich in der Zwangsenteignung endete.

Literaturtipps zum Weiterlesen

Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Mandelbaum Verlag, Wien 2008.

Christina Felzmann, Jutta Fuchshuber, „Unter Zwang enteignet“. „Arisierungen“ und „Liquidierungen“ von Handelsunternehmen in Österreich von 1938 bis 1945, Diplomarbeit, Universität Wien 2012.

Gedenkdienst, 1a/2011 Sonderausgabe anlässlich des Novemberpogroms.

Hans Safrian, Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, erweiterte Neuauflage, Picus Verlag, Wien 2008.

Linda Erker, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Vorstandsmitglied im Verein GEDENKDIENST.

Jutta Fuchshuber, Historikerin, Lehrbeauftragte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Vorstandsmitglied im Verein GEDENKDIENST.

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