Was steckt hinter den „Protesten gegen die Diktatur“ in Serbien?

Seit der Wahl des bisherigen Premiers Alexander Vučić zum Präsidenten gibt es in Serbien massive Proteste. Vincent Angerer analysiert, wofür die größte Protestwelle seit 17 Jahren steht und fragt, wie dauerhaft diese bleiben kann.

Die Präsidentschaftswahl

Die Protestwelle nach dem Wahlsieg von Alexander Vučić von der serbischen Fortschrittspartei hat seit Anfang April mit Belgrad, Kragujevac, Kraljevo, Kruševac, Lazarevac, Valjevo, Novi Sad und Nis fast alle großen serbischen Städte erfasst. Vučić wurde am 2. April mit 57 Prozent der Stimmen erfolgreich zum Präsidenten Serbiens gewählt. Er ist jedoch alles andere als ein Frischling in der politischen Landschaft Serbiens. Von 1998 bis 2000 war Vučić Informationsminister (damals als Vertreter der Serbische Radikale Partei) und von 2014 bis zur heurigen Wahl Ministerpräsident. Nun wird er ins Präsidentschaftsamt wechseln.

Während Jean-Claude Juncker genauso wie Wladimir Putin gratulierten, formierte sich in Serbien Protest von denjenigen, die gegen Vučić gestimmt hatten oder nicht zur Wahl gegangen waren. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 54 Prozent. Viele erkennen seinen Sieg nicht an, denn WahlbeobachterInnen und PrivatbürgerInnen berichten von Manipulation auf höchster Ebene. Sie werfen Vučić Korruption und Erpressung vor der Wahl vor; kritische Medien sprechen sogar von Wahlfälschung.

Die Proteste in Serbien – Wofür?

In kürzester Zeit mobilisierten sich Massen, um gegen den Sieg von Vučić zu demonstrieren. Doch je länger die Proteste andauern, desto klarer wird, dass es um mehr geht. Während anfangs hauptsächlich StudentInnen demonstrierten, schlossen sich im Laufe der letzten Wochen breite Teile der serbischen Gesellschaft an. Streikende ArbeiterInnen haben sich beispielsweise in Kragujevac mit den Studierenden solidarisiert und auch PensionistInnen und LehrerInnen nahmen teil.

Die Demonstrierenden haben neben der Kritik an Vučić Einzug ins Amt auch zahlreiche soziale und gesellschaftliche Forderungen. In den ersten Tagen der Proteste war vor allem das Wahlergebnis im Fokus und die Befürchtung, Vučić würde ein autoritäres System aufbauen und demokratische Errungenschaften aufheben. Anfangs waren auch homophobe Protestslogans gegen Vučić und die Regierung zu hören. Homophobie ist in Serbien immer noch präsent. So kam es bei der Belgrader Pride  immer wieder zu Gewalt gegen LGBT-Personen. Die Homophobie in Serbien lässt sich auf verschieden Faktoren zurückführen, wobei die serbisch-orthodoxe Kirche sowie ultranationalistische Hooligan-Vereinigungen eine große Rolle in der Verbreitung spielen. Nichtsdestotrotz haben sich aktuell viele Protestierende gegen homophobe Parolen ausgesprochen und diese sind kaum mehr zu hören. Erklingen sie doch, werden sie schnell von den Stimmen vieler Protestierender übertönt.

„Ich werde nicht nach Deutschland gehen.“

Am vierten Protesttag traten neben dem Unmut gegen Vučić vor allem ökonomische Forderungen in den Vordergrund. „Wir werden keine billige Arbeitskraft sein!“ wurde zum Hauptslogan, der von Nis bis Novi Sad zahlreiche Transparente zierte. Junge Menschen kritisieren vor allem das Fehlen von Möglichkeiten und Perspektiven und zeigen ihren Unmut mit Parolen wie „Ich werde nicht nach Deutschland gehen!“. Versuche der serbischen Rechten, die Proteste in eine gewisse Richtung zu lenken, waren nicht von Erfolg gekrönt. In einem Fall riefen DemonstrantInnen als Reaktion auf den Versuch einer Gruppe Rechter, die Vorhut einer Demonstration zu übernehmen, „Wir wollen keine Anführer“. Die Linke hingegen hat immer mehr Möglichkeiten, sich auch inhaltlich in die Proteste zu integrieren. Die linke Studentenbewegung Novi Sad organisiert zum Beispiel über ihre Facebook Seite einige wichtige Proteste und Events.

Ungewöhnliche Solidarisierung

Im Rahmen der Proteste kam es auch zu gruppen- und generationsübergreifender Solidarisierung. PensionistInnen hatten an Protesten in Belgrad teilgenommen und fordern auf Transparenten die serbische Regierung auf, „zurückzuzahlen“ – die fehlenden Renten und die fallenden Löhne. Die wohl größte Überraschung war, dass sich die Polizeigewerkschaft solidarisch mit den DemonstrantInnen zeigt und sich an den Protesten „gegen die Diktatur“ beteiligt hat. Die Polizeigewerkschaft und die Gewerkschaft der Armee hatte schon Tage zuvor angekündigt, an der Demonstration am 8. April in Belgrad teilzunehmen. Obwohl das Verteidigungs- und Innenministerium das scharf ablehnte, haben die Appelle der Regierung nichts gebracht. Die Polizeigewerkschaft postete stattdessen, nach der erfolgreichen Demonstration, auf Ihrer Facebook-Seite: „Der erste gemeinsame Protest des Volkes, der Polizei und der Armee, mehr als 80.000 Leute.“ (Der Begriff Volk ist im südslawischen Sprachraum nicht faschistisch konnotiert und mit dem Spanischen „el pueblo“ zu vergleichen.)

Parallel dazu kam es auch in Österreich zu Solidarisierungen. Bei einer Kundgebung am Heldenplatz in Wien – ebenfalls am 8. April – versammelten sich um die 150 Protestierende. Der 8. April war also bisher der Tag der größten Versammlungen in der aktuellen Protestwelle. Diese Demonstration ist auch die größte seit 17 Jahren, seit jenen am 5. Oktober 2000 als Slobodan Milosevic zu Fall gebracht wurde.

Proteste rund um die „Recht auf Stadt“-Bewegung

Die aktuellen Proteste sind allerdings nicht die ersten seit den großen Demonstrationen gegen Milosevic. Im Laufe des letzten Jahres gab es bereits einige Protestwellen. Die größten Demonstrationen in der jüngeren Geschichte fanden als Reaktion auf die Zustimmung der Regierung für das pompöse Immobilienprojekt „Belgrade Waterfront“ statt. Dieser neue Stadtteil soll am Fluss Sava gebaut werden. Dort formierte sich anfänglich vor allem eine studentische „Recht auf Stadt“-Bewegung; ihre bis heute bestehende und populäre Facebook-Seite hat sich auch in die aktuellen Proteste eingeklinkt. Sie spielte in den ersten Tagen der aktuellen Proteste auch eine wichtige Rolle in der Ausweitung der aktuellen Forderungen.

Der Fall „Belgrade Waterfront“ ist stellvertretend für die tiefgehenden Probleme der post-sozialistische Situation Serbiens: Seit Jahrzehnten werden Privatisierungen gepusht – nicht zuletzt auf Drängen der EU – und haben zur Prekarisierung von weiten Teilen der serbischen Gesellschaft geführt. Ähnliches lässt sich in allen ex-jugoslawischen Gesellschaften beobachten. Vermehrte Versuche der ArbeiterInnen, einzelnen Privatisierungen und Demontagen der Arbeitsrechte entgegenzuwirken, haben mal mehr, mal weniger erfolgreiche Resultate nach sich gezogen. Eine Frage, die sich im Rahmen der aktuellen Demonstrationen stellt, ist in welchem Rahmen die AkteurInnen ihre Proteste weiterführen werden und welche Solidarisierung bestehen bleiben kann. Mögliche Herausforderungen sind die Beteiligung der Polizeigewerkschaft sowie die unterschiedlichen Interessen diverser rechter und linker Gruppen.

Vincent Angerer ist Student der Philosophie und Ökonomie in Wien. Im Rahmen seines universitären und privaten Engagements beschäftigt er sich mit der Geschichte Ex-Jugoslawiens, der Dependenz von kern- und peripherkapitalistischen Entwicklungen sowie der aktuellen post-sozialistischen Lage am Balkan.

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