Ja, #MeToo. Über einen sexuellen Übergriff in einer linken Jugendorganisation

#MeToo macht deutlich: Sexuelle Übergriffe durch Männer finden in allen gesellschaftlichen Bereichen statt. Linke Organisationen sind hier keine Ausnahme. Das zeigt dieser Erfahrungsbericht einer Aktivistin, die hier erstmals und anonym einen sexuellen Übergriff beschreibt, den sie als 15-jährige auf einem linken Jugend-Seminar erlebte.  

Wichtiger Hinweis: Die Autorin berichtet hier detailliert von einem sexuellen Übergriff. Die Schilderungen können schmerzhafte Erinnerungen wachrufen oder Angst- und andere Belastungsreaktionen auslösen.

Ich war knapp fünfzehn und zum ersten Mal mit dieser politischen Jugendorganisation über Nacht auf einem Seminar. Es hatte Zeltlager-Charakter, viele hatten abgesagt, die Gruppe der TeilnehmerInnen war klein – so klein, dass man die Frauen an einer Hand abzählen konnte. Er trug Verantwortung für das Seminar und in der Organisation, sie war auch sein Job. Er war schon lange dort aktiv, bei vielen sehr beliebt, polarisierte aber auch.

Wir saßen auf Steinen, die um ein Lagerfeuer angeordnet waren. Das Feuer gloste noch ein wenig vor sich hin. Alle anderen waren schon in den Zelten. Mir war ein wenig kalt, ich versuchte, das Gespräch ausklingen zu lassen, subtil. Er hörte sich gerne reden. Er sprach über politische Perspektiven, über Loyalität in der Politik und darüber, dass man zur Organisation stehen muss, auch wenn sie Fehler macht.

Die Flechte auf dem Stein

Ich hörte zu, ich war ein wenig fasziniert davon, wie ernst er alles meinte, was er sagte. Dann wurde es persönlich. Er sprach über seine schwierige Familienkonstellation und davon, wie ihm die Politik Rückhalt bot. Ich schaute auf die Flechte, die den Stein an einer Stelle überzog. Dunkelgrün und ein bisschen gelb. Meine Finger glitten über die Oberfläche. Ich erinnere mich so gut an die Flechte.

Er rutscht auf meinen Stein. Ich rücke ein Stück weg, er macht eine Sprechpause. Ich überlege, ob ich jetzt gehen kann. Der Gedankengang ist zu langsam. Seine Hand liegt auf der Innenseite meines Beines, auf der Höhe des Knies. Ich starre auf seine Hände und das Bild brennt sich ein. Wenn ich mich konzentriere, wenn ich es zulasse, kann ich die Hand bis heute an der Stelle sehen.

Nein heißt nein

Ich wollte seine Hand nicht auf mir haben, sie nicht an meinem Bein spüren. Ich war unsicher, ob es vielleicht als freundschaftliche Geste, als Element seiner Art zu kommunizieren zu verstehen war.

Gedanken rasen durch meinen Kopf: Verstehe ich es falsch? Reagiere ich über? Oder muss ich froh sein, dass gerade er mich berührt? Seine Hand wandert hoch, die Intention wird klarer und mir bewusster, dass ich nicht berührt werden möchte. Ich sage: „Stopp, nein, bitte mach das nicht.“ Ich war verunsichert und verängstigt, ich war nicht laut und nicht bestimmt, aber es war zu hören. Im Nachhinein weiß ich, auch leise oder zurückhaltend: Nein heißt nein.

Zweifel und Unsicherheit

Ich habe Nein gesagt, dennoch wandert seine Hand weiter. Sie stoppte erst, als sie nicht mehr höher wandern kann. Jetzt fehlen mir die Worte, ich werde steif. Ich glaube, er sah mich an. Aber ich bin mir nicht sicher, seit ich stopp gesagt habe und mein „Stopp“ keine Bedeutung hat, fixiere ich die Flechte. Irgendwann schnaubt er, vielleicht nach einer Sekunde, vielleicht dauert es länger. „Meine Güte.“ Pause. „Wennst glaubst, dann nicht.“ Er ging.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich in mein Zelt gekommen und bin und auch nur mehr düster, was am nächsten Tag sonst noch passiert ist. Einige Tage später kam die Unsicherheit zurück, die ich im ersten Moment hatte: Hab’ ich es falsch verstanden? Hab’ ich vielleicht nicht deutlich genug nein gesagt? War das nicht eh harmlos? Habe ich unbewusst vermittelt, ich würde berührt werden wollen?

Keine Unterstützung, keine Regeln

Ich erzählte zwei Frauen in der Organisation eine abgeschwächte Geschichte, eine bei der ich sicher war, dass sie nicht „über-interpretiert“ war. Sie reagierten unterschiedlich – eine erklärte, es sei seine Art, andere beim Sprechen zu berühren. Die andere schimpfte über ihn. Ich hätte die Geschichte genauer erzählen sollen, ich hätte sagen sollen, dass ich deutlich Nein gesagt habe, dass sich die Hand hinaufbewegt hat, dass ich es nicht wollte. Das macht mich zornig. Auf mich selbst. Immer noch.

Dieser Übergriff hatte für den Übergriffigen keine Konsequenz. Er ist erfolgreich und viele meiner FreundInnen finden ihn super. Manchmal lacht er aus der Zeitung – das sind dann Tage, an denen mir heute das Lachen vergeht. Dann werde ich zornig. Auf mich selbst. Immer noch.

Ich hatte nicht das nötige Netzwerk, nicht den nötigen Rückhalt in der Organisation und auch nicht den nötigen Mut, die Konsequenzen durchzukämpfen. Die Organisation hatte kein Regelwerk – und andere Frauen, die von Übergriffen anderer Übergriffiger erzählten, kamen auch nicht zu ihrem Recht, ihrem Platz, ihren Bedürfnissen.

Der Übergriff hinterlässt Spuren

Das weiß ich heute. Sorgen macht mir, ob es auch nur einer Frau mit ihm auch so gegangen ist. Vor allem später. Und ob es ihr – wenn ich lauter, mutiger, besser vernetzt gewesen wäre – nicht so ergangen wäre. Ob er vielleicht weiterging, weil es keine Konsequenzen gab. Das macht mich zornig. Auf mich selbst. Immer noch.

Die Erinnerung an den Übergriff geht nicht weg – sie wird nur ertragbarer. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Es dauert bis heute einige Zeit, bis ich mich damit wohlfühle, von einem Mann an der Stelle überm Knie berührt zu werden. Diese Stelle, die sich so fremd an mir selbst anfühlt. Die einen unsichtbaren Abdruck trägt.

Die Erinnerung ist nicht nur für mich ein Problem, sondern auch für Männer, mit denen ich Sex oder Beziehungen hatte. Einige fühlten sich überfordert, wenn sie die Geschichte hörten. Mussten ein Bier trinken und es verarbeiten. Ich machte mir dann Sorgen um sie und hoffte, nichts falsch gemacht zu haben. Dann bin ich zornig. Auf mich selbst. Immer noch.

Ich kann bis heute nur mit wenigen Menschen im politischen Kontext über diesen Übergriff sprechen – auch, weil das Sprechen unmittelbar danach in der Organisation keine Konsequenzen hatte. Das prägt. Mich zumindest. Und es hat dazu geführt, dass Politik zur Pflicht wurde, nicht das Vergnügen blieb, das es in den ersten Jahren war.

Was #MeToo bringt

#MeToo ist so wichtig. Weil Frauen über ihre Erfahrungen sprechen, weil die Thematik in die Öffentlichkeit drängt. Weil sie Licht auf das Problem ungleicher Machtverhältnisse wirft, die im Schatten verborgen bleiben wollen.

#MeToo ist erfolgreich, wenn sich auch nur ein einziger Übergriffiger dadurch zweimal überlegt, ob ein sexistischer Kommentar raus darf, wenn vielleicht ein Übergriffiger seine Hand bei sich lässt. #MeToo ist erfolgreich, wenn eine Frau in einer als übergriffig erlebten Situation Solidarität von Dritten erfährt, wenn nur ein Mann einem Übergriffigen Feedback gibt – und zwar ohne sich dann einen Keks von einer Frau abzuholen.

#MeToo ist erfolgreich, wenn auch nur eine politische Organisation ein transparentes Regelwerk für Übergriffe nicht anlassbezogen beschließt und es dann im Bedarfsfall ohne Wenn und Aber, ohne Blick auf die besondere Rolle und Geschichte des Übergriffigen – aber mit Blick auf die Wünsche der Betroffenen – umsetzt.

Ich bin traurig, dass ich mich nicht traue, die Geschichte des Übergriffes unter meinem Namen zu schreiben. Ich habe das Gefühl, gerade ich müsste das können. Ich kann es nicht. Immer noch nicht. Obwohl es so lange her ist. Das macht mich zornig. Auf mich selbst. Immer noch. Und ich bitte jene von euch, die die Geschichte kennen, mich hinter dem Pseudonym verstecken zu lassen. Aber ich schreibe sie, um die Idee von #MeToo zu unterstützen – Männer wach zu rütteln, Männern vor Augen zu führen, was tagtäglich passiert. In ihrem Umfeld, im Alltag ihrer Partnerinnen, Freundinnen, Kolleginnen und Kinder. In ihrer Organisation.

Was Männer tun können

Was uns mit der kommenden Regierung bevorsteht, wird für Frauen ein Rückschlag. Umso wichtiger werden solidarische, sensibilisierte Menschen in unserem Umfeld sein, Solidarität mit anderen Frauen und Männer, die über sich selbst nachdenken und Männer, die auch einschreiten, wenn Sexismus geschieht.

Von jenen Männern, die sich überlegen, diesen Text zu teilen, ihn mit einem schlauen Kommentar auf Facebook zu versehen, wünsche ich mir etwas: Lasst eure schlauen Analysen, wichtigen Ergänzungen und pfiffigen Statements einmal weg.

Teilt den Text, aber überlegt euch, wann sich eine Frau schon mal wegen eines als Witz getarnten, sexistischen Sagers unwohl gefühlt haben könnte, wann ihr einmal zu wenig darauf geachtet habt, ob die Berührung gewünscht ist, wann ihr einmal weitergemacht habt, obwohl das Ja nicht ganz klar war, wann ihr schon mal eine Grenze überschritten habt. In euren Beziehungen, in euren Freundeskreisen, bei eurer Arbeit. In eurer Organisation.

Und dann macht es nie wieder. Nie wieder.

Autor

 
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