Lasset die Kinder zu mir kommen?

Der Papst ist also der Ansicht, Schläge in der Erziehung seien in Ordnung, so lange das Gesicht gemieden wird. Schon im Dezember 2014 erschien ein Artikel in der „Presse“, in dem der Redakteur Wolfgang Greber beschreibt, wie er seinen Sohn als Strafe an den Ohren zieht oder übers Knie legt. Auch wenn eine breite mediale Debatte zum Thema Gewalt in der Erziehung folgte und sich schließlich das Redaktionsteam der Presse und sogar der Autor selbst vom Inhalt des Artikels distanzierten, wird hier deutlich: Auch 25 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage nach einer kindgerechten und Kinderrechte beachtenden Erziehung immer noch dringend nötig. Ein Kommentar von Marion Hackl und Sabine Hattinger-Allende.

Aus kinderrechtlicher Perspektive sind die von manchen Personen verharmlosten, ja sogar als legitim bezeichneten Erziehungsmethoden, wie Ohren-lang-ziehen, Übers-Knie-legen oder körperliche Schläge nicht nur psychologisch äußerst bedenklich, sondern in Österreich auch seit 1989 verboten. Dennoch werden sie noch praktiziert, häufig mit der Begründung, dass sie ja „funktionierten“. Und tatsächlich „funktionieren“ sie. Wie jede Demütigung, egal ob Kindern oder Erwachsenen gegenüber, zeigen auch diese Wirkung. Menschen werden nicht gerne gedemütigt und sind lernfähig. Folgt auf ein Verhalten eine demütigende Reaktion von Seiten ihrer Mitmenschen, werden sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten darauf reagieren. Was würden Sie als erwachsene Person tun, wenn Sie jemand an den Ohren zieht oder übers Knie legt? Zu allererst würden Sie sich wohl in Ihrer persönlichen Integrität bedroht fühlen und dann abwägen, ob Gegenwehr möglich ist. Ob Sie sich zur Wehr setzen können, wäre abhängig vom Kräfteverhältnis. Zu welcher Entscheidung würden Sie kommen, wenn der Angreifer doppelt so groß und stark wie Sie ist, Sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm stehen und keine Unterstützung aus der sozialen Umwelt zu erwarten ist? Vermutlich würden Sie sich nicht wehren und ihr Verhalten – spätestens nach mehrmaligen Erfahrungen dieser Art – so gestalten, dass Sie nicht mehr gedemütigt werden. Das ist der Grund, warum solche Erziehungsmethoden funktionieren. Legitim sind sie deswegen noch lange nicht.

Zu wenig Freiraum

Wir sollten jedoch nicht bei einem klaren Nein zu körperlicher Gewalt stehen bleiben, sondern uns auch über andere Formen der Unterdrückung von Kindern Gedanken machen. In einer Gesellschaft, die von Erwachsenen gestaltet ist, haben Kinder kaum die Möglichkeit mitzugestalten. Eltern, PädagogInnen und andere Aufsichtspersonen entscheiden, wann ein Kind wo zu sein hat und wie es sich dort zu benehmen hat. Viele Kinder haben durchgeplante Tage, die wenig Freiraum zulassen. Sie verbringen den Großteil ihrer Zeit in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Kinder finden das vor allem deswegen problematisch, weil sie dort ständig beaufsichtigt werden und selten frei entscheiden können, was sie spielen oder lernen möchten. Damit unsere Kinder selbstbewusst agieren können und ihre Neugierde nicht verlieren ist es wichtig, dass sie die Freiheit haben zu entscheiden. Zudem führt die Tatsache, das häufig viel zu wenige PädagogInnen für zu viele Kinder zuständig sind,besonders bei kleinen Kindern dazu, dass eine ausgewogene Auseinandersetzung mit den individuellen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der Gruppe ebenso zu kurz kommen wie die Mitbestimmung und Autonomie der Kinder. Wir Erwachsenen sollten deshalb versuchen, uns in Kinder hinein zu versetzen und die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Dann würden wir schnell merken, dass es in alltäglichen Konflikten mit Kindern nur vordergründig um die Süßigkeiten geht, die ein Kind haben will; oder die Haube, die es nicht aufsetzen möchte. Es geht dabei immer auch um einen ernstzunehmenden Kampf um Respekt, Anerkennung und Selbstbestimmung. Das Schwierige aus Kinderperspektive ist womöglich, dass viele Erwachsene das nicht sehen können, sondern stattdessen ihren „Trotzanfall“ vor allem unter Kontrolle bekommen möchten. Würden wir als Gesellschaft es schaffen die Bedürfnisse unserer Kinder wahrzunehmen und ihnen Platz einzuräumen, dann müssten wir uns viel weniger damit beschäftigen, wie wir sie disziplinieren und maßregeln können.

Regeln nicht als Selbstzweck

Damit soll nicht bestritten werden, dass das Zusammenleben mit Kindern unter den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Herausforderung ist. Die damit verbundene Verantwortung bringt Erziehungsberechtigte oft an ihre Grenzen. In einer Gesellschaft, die bereits von Kleinkindern verlangt, dass sie sich an die Arbeitszeitregelungen ihrer Eltern anpassen und dementsprechend funktionieren; in einer Gesellschaft, in der die Eltern oder PädagogInnen womöglich von Existenzängsten gequält werden, und ein großer Teil der Erwachsenen mit alltäglichen Demütigungen auf Grund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Stellung in der Arbeitswelt konfrontiert sind; in einer Gesellschaft, in der Eltern wie PädagogInnen unter steigendem Leistungsdruck leiden, ist es mit Sicherheit eine Herausforderung die eigenen, erwachsenen Verpflichtungen und Anliegen mit den Bedürfnissen von Kindern unter einen Hut zu bringen. Das enthebt uns Erwachsene aber nicht der Verantwortung. Kinder brauchen Erwachsene, die Regeln nicht als Selbstzweck sehen, sondern stattdessen ihre eigenen Belastbarkeitsgrenzen aufzeigen können. Sie brauchen Erwachsene, die weder Angst vor ihnen, noch zu viel Angst um sie haben. Kinder brauchen Freiraum, um sich entfalten zu können, und sie brauchen Erwachsene, die auf ihr Entwicklungspotential und ihre Kooperationsbereitschaft vertrauen. Kinder brauchen Erwachsene, die Zeit haben: zum Zuhören, zum Spielen und Toben, zum Kuscheln und Vorlesen, zum Trödeln und Abwarten. Dafür braucht es eine Arbeitswelt, die allen Eltern die Möglichkeit gibt, sich auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzulassen, sowie Konzepte und Rahmenbedingungen an Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, die es PädagogInnen ermöglichen Kinder als eigenständige Persönlichkeiten wahrzunehmen.
Wir Erwachsenen tragen die Verantwortung, um die Grundlagen dafür zu schaffen. Anstatt zu versuchen Kinder an unzureichende Rahmenbedingungen anzupassen, sie zu kontrollieren, zu maßregeln und zu demütigen, sollten wir anfangen die Rahmenbedingungen zu verändern.

Marion Hackl ist Sozialpädagogin, Bildungswissenschafterin und stellvertretende Leiterin des Instituts für Kinderrechte und Elternbildung

Sabine Hattinger-Allende ist Elementarpädagogin, Politikwissenschafterin und engagiert in der Plattform EduCare Kinderrechte



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