IV-Kapsch und die „Tariföffnung“: Troika für Austria?

Wann immer sich die Industriellenvereinigung öffentlich zu Wort meldet – und sie tut das Dank österreichischer Medienlandschaft ziemlich oft – darf sich der/die Gewerkschafter_in auf eine gezielte Provokation einstellen. So auch, als sich der Präsident der österreichischen IV kürzlich in einer Tageszeitung  für flexiblere „Gestaltungsmöglichkeiten“ von Löhnen und Gehältern auf betrieblicher Ebene aussprach. Wie in Deutschland sollten auch in Österreich „Tariföffnungsklauseln“ eingeführt werden – also die Möglichkeit, kollektivvertragliche Regelungen auf betrieblicher Ebene zu unterlaufen.  So weit so alt. Und doch brandaktuell und gefährlich.

Schwarz-blau: Feindbild Kollektivvertrag

Erinnern wir uns  kurz zurück an die schwarz-blaue Koalition. Damals war es Wirtschaftsminister Bartenstein, der – gleichzeitig ganz Arbeitsminister –  die „betriebliche“ gegenüber der kollektivvertraglichen Verhandlungsebene  stärken wollte. Flexibilität – Betriebe könnten so  schneller auf veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen reagieren, war auch damals das Argument. Kollektivverträge  – die in Österreich in der Regel auf Branchenebene zwischen  Fachgewerkschaften und Fachverbänden der Wirtschaftskammer abgeschlossen werden – seien dagegen starr und nicht flexibel genug, gingen an der „betrieblichen“ Realität vorbei, hieß es. Natürlich ging es auch damals weniger um Flexibilität als um die Schwächung der Gewerkschaften und damit der Arbeitnehmer_innen. Und zwar um eine bedeutende Schwächung.

Die Bedeutung von Kollektivverträgen für Gewerkschaften und Arbeitnehmer_innen

Denn Kollektivverträge sind das wohl wichtigste Instrument, das Gewerkschaften zur Verfügung steht, um die Interessen der Arbeitnehmer_innen durchzusetzen. Sie regeln Arbeits- und Einkommensbedingungen einer Branche und entfalten ähnlich den Gesetzen Rechtswirkung. Kollektivverträge gleichen die Machtasymmetrie zwischen Arbeit und Kapital aus, indem sie allgemeingültige, rechtsverbindliche und damit einklagbare Mindestnormen bei Arbeitsrechten (z.B. Kündigungsfristen, freie Tage), Einkommen, Arbeitszeiten, Sonderzahlungen etc. festlegen, die in einem Einzelvertrag mangels Verhandlungsstärke so nie durchsetzbar wären.  Vertragliche Abmachungen  nachgelagerter Ebenen – Betriebsvereinbarungen oder Arbeitsvertrag – dürfen daher   für die betroffene „verhandlungsschwächere Partei“ – die Arbeitnehmer_innen – nur günstiger ausfallen als kollektivvertragliche Regelungen („Günstigkeitsprinzip“). Die wichtige Bedeutung von Kollektivverträgen lässt sich allein daraus ableiten, dass in Österreich rund 95 %  aller Arbeitnehmer_innen kollektivvertraglichen Regelungen unterliegen, also von Kollektivverträgen abgedeckt werden.

Waren KV-Verhandlungen in Österreich über Jahrzehnte hindurch überwiegend sozial„partnerschaftlich“ und damit konfliktfrei geprägt, hat sich die Situation spätestens mit Ausbruch der Krise geändert. Inzwischen zieht auch in Österreich etwas mehr europäische „Normalität“ ein. Verteilungskonflikte werden schärfer, KV-Verhandlungen immer öfter von gewerkschaftlichen Aktionen begleitet – von Demonstrationen über flächendeckende Betriebsversammlungen bis zu Streiks.

Tariföffnung als Projekt zur Schwächung kollektiver Verhandlungsmacht

Unabhängig von hinterfragenswerten Ritualen und durchaus auch umstrittenen Ergebnissen: Kollektivverträge begrenzen unternehmerische Macht. Alleine, dass  sich Unternehmensverbände und Gewerkschaften zusammensetzen müssen, dass da Gewerkschafter_innen nicht demütig bitten, sondern selbstbewusst und selbstverständlich fordern und das auch noch auf Augenhöhe, wird von besonders autokratisch und autoritär gesinnten Unternehmer_innen schlichtweg als Zumutung empfunden. Mit der Verlagerung von Regulierungskompetenzen von der Branchen- auf die Betriebsebene wären gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: die verhassten Gewerkschaften wären deutlich geschwächt, eigene Interessen dagegen leichter durchsetzbar. Die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer_innen ist im Betrieb ungleich schwächer als im gesamten Sektor. Weil selbstverständlich gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen, die einen ganzen Sektor umfassen, ungleich wirkungsvoller sind, als solche in einem einzelnen Betrieb. Und sich Arbeitnehmer_inneninteressen entsprechend leichter durchsetzen lassen.

„Tariföffnungsklauseln“ zielen unmittelbar auf die Schwächung der Gewerkschaften ab. Kollektivvertragliche Regelungskompetenz wird durchlöchert bzw. aufgeweicht, indem auf betrieblicher Ebene im Vergleich zu Kollektivverträgen verschlechternde Vereinbarungen getroffen werden können – etwa bei Löhnen oder Arbeitszeiten. Der Kollektivvertrag würde damit empfindlich an Bedeutung als Rechtsinstrument zur Sicherung und Durchsetzung von kollektiven Arbeitnehmer_inneninteressen verlieren. Damit einher ginge ein Bedeutungsverlust der Gewerkschaften. Damit einher ginge allerdings auch ein verschärfter Wettbewerb bzw. unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unter den Unternehmen, würden doch allgemein zugängliche und bekannte kollektivvertragliche Normen keinerlei Orientierung mehr hinsichtlich der Kostenstruktur im Konkurrenzverhältnis stehender Unternehmen bieten. Die „Sicherheit“, dass  Konkurrenzbetriebe  z.B. zumindest den KV-Mindestlohn zahlen müssen, ginge verloren. Lohnpolitik, Löhne und Gehälter würden primär von der innerbetrieblichen Schwäche bzw. Stärke von Gewerkschaften und/oder Betriebsräten abhängen. Die „wettbewerbsregulierende“ Funktion der Kollektivverträge wäre nicht mehr vorhanden. Ein Argument, das aus Unternehmenssicht tatsächlich für Kollektivverträge spricht von „Klassenkämpfern von oben“ a la Kapsch gerne verschwiegen wird …

Wenig überraschend, dass seitens der Gewerkschaften die Ansagen des IV-Präsidenten als das verstanden werden, was sie sind: „Kampfansagen“, gegen die es sich mit allen Mitteln zu wehren gelte. Nun könnten die Äußerungen des Herrn Kapsch natürlich als einfache Provokation im Vorfeld des Regierungsgipfels zum Thema Arbeitsmarkt abgetan werde, ohne jede Chance auf Realisierung. Dem ist allerdings definitiv nicht so. Tarifvertragssysteme stehen inzwischen in ganz Europa massiv unter Druck. Und die Forderung nach Abschaffung bzw. Aufweichung der Flächentarifverträge ist in Krisenländern längst Realität geworden und steht auch ganz oben auf der politischen Agenda bedeutender Teile der EU-Kommission.

Die Bedeutung der Flächentarifverträge in Europa …

In keiner anderen Weltregion gibt es ein so stark ausgebildetes System an überbetrieblichen Tarifverträgen auf Branchen- bzw. nationalstaatlicher Ebene wie in Europa. Insbesondere Flächentarifverträge stellen sicher, dass in Europa – noch – eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten unter den Schutz tarifvertragliche Regelungen fallen. So sind etwa in Belgien, Österreich, Finnland, Slowenien und Frankreich über 90 % der Beschäftigten durch Tarifverträge abgedeckt, in Italien und den Niederlanden über 80 % und in Deutschland immer noch knapp unter 60 %. Und: obwohl es seit Jahrzehnten Bestrebungen gab, das Flächentarifvertragssystem auszuhöhlen,  blieb es bislang erstaunlich stabil.

… und Angriffe unter dem Vorwand der Krisenbewältigung

Mit Ausbruch der Krise hat sich diese Situation nun allerdings dramatisch geändert. Seitens der politischen Eliten Europas wird die Krise bekannterweise ja überwiegend als Schulden- und Wettbewerbskrise interpretiert um von Krisenursachen wie Ungleichverteilung, Unterregulierung und volkswirtschaftlichen Ungleichgewichten abzulenken.
Entsprechend setzt die „Krisenlösung“ an: einerseits sollen durch eine harte Spar- und Konsolidierungspolitik öffentliche Defizite und Schuldenstände reduziert, andererseits durch „Strukturreformen“ die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden. Dabei kommt – wie auch schon im von Merkel und Sarkozy 2011 verabschiedeten  Euro-Plus-Pakt ausdrücklich festgehalten, der Lohn- und Tarifpolitik in den EU-Mitgliedsstaaten eine besondere Bedeutung zu. Nationale Tarifsysteme sollen demnach so reformiert werden, dass sie den Betrieben flexiblere Anpassungen an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen ermöglichen. Und Lohnzurückhaltung wird zum obersten Gebot erhoben.

Die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission (DG ECFIN) hat als neoliberale Scharfmacherin in der Kommission nicht lange auf sich warten lassen und in einem Kommissionsbericht (Labour Market Developments in Europa 2012, European Economy Nr. 5/2012) einen entsprechenden Maßnahmenkatalog für ein „wettbewerbsfreundliches“ Tarifsystem publiziert. Dieser beinhaltet

  • die allgemeine Dezentralisierung des Tarifsystems – also die Stärkung der betrieblichen Ebene
  • die Einführung bzw. Ausdehnung von Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen von Flächentarifverträgen – also das, was IV-Kapsch will
  • die Begrenzung bzw. Abschaffung des „Günstigkeitsprinzips“
  • die Beschränkung/Reduzierung  von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen

Und: ganz offen wird die „Reduzierung der Tarifbindung“ sowie die „allgemeine Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften“ als Ziel „beschäftigungsfreundlicher Reformen“ vorgegeben. Auch wenn die Vorstellungen der DG ECFIN innerhalb der EU-Kommission nicht auf ungeteilte Zustimmung stießen – sie werden bereits in Krisenländern, die unter Kontrolle der Troika (bestehend aus IWF, EZB und EU-Kommission) stehen, umgesetzt.

Wie die Troika Tarifsysteme in Krisenstaaten zertrümmert

Europäische Krisenstaaten, die von IWF oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Kredite zur Bedienung ihrer Schulden erhalten, müssen sich im  Gegenzug im Rahmen von sogenannten „Memoranden“ zu umfangreichen und tiefgreifenden Strukturreformen verpflichten, insbesondere zu Arbeitsmarktreformen. Diese umfassen regelmäßig Maßnahmen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes, den Ausbau atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse oder den Umbau der Tarifvertragssysteme entlang der Vorstellungen der DG ECFIN.

In Rumänien wurde so etwa auf Druck des IWF der nationale Flächentarifvertrag abgeschafft. In fast allen Euro-Krisenländern unter Kontrolle der Troika wurden Flächentarifverträge über „Tariföffnungsklauseln“ ausgehöhlt  und so der Vorrang betrieblicher Vereinbarungen gegenüber Flächentarifverträgen durchgesetzt (auch etwa in Italien, als Auflage der EZB für Anleihekäufe). In Portugal wurden die Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit der Kollektivverträge deutlich erhöht. In Griechenland, Portugal und Spanien wurde auch nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmergruppen das Recht eingeräumt, auf betrieblicher Ebene Tarifverträge abzuschließen, die natürlich Abweichungen von Branchentarifverträgen erlauben. Vor allem nach unten, versteht sich. So sind etwa in 80 % Prozent der in Griechenland abgeschlossenen Tarifverträge auf betrieblicher Ebene Lohnkürzungen vorgesehen.

Die Folgen: massive Realeinkommensverluste und Umverteilung nach oben

Die dramatischen Auswirkungen dieser Strategie der radikalen Dezentralisierung der Tarifverhandlungen sind unübersehbar. In Spanien hat sich die tarifvertragliche Abdeckung der Arbeitnehmer_innen von 2010 bis 2012 halbiert. Laut ETUI, dem Forschungsinstitut des Europäischen Gewerkschaftsbundes, ist die Abdeckung in Rumänien seit Mai 2011 innerhalb nur eines Jahres von 98 % auf 36 % gefallen! In Portugal waren 2012 insgesamt 85 Tarifverträge in Kraft – im Jahr vor der Krise waren es noch knapp 300. In Griechenland fiel die Tarifabdeckung bis 2012 von 85 auf 65 Prozent.

Die Zerschlagung der Flächentarifsysteme führte in Folge zu massiven Einkommensverlusten: in Griechenland sind die Reallöhne (Löhne ausgedrückt in Kaufkraft) von 2009 bis 2014 um fast 24 % gesunken, der nationale Mindestlohn – ursprünglich über einen nationalen Flächentarifvertrag gesichert – wurde um 22 % gesenkt. In Portugal gingen die Reallöhne im selben Zeitraum um 8 %, in Spanien um fast 7 % und in Italien um 3 % zurück.

Die Troika-Maßnahmen setzten tatsächlich eine gewaltige Umverteilungsmaschinerie  in Gang: Während in Frankreich und Deutschland die Lohnquote – also der Anteil der Lohneinkommen am Bruttoinlandsprodukt – im  Vergleich zu 2009 mit einem leichten Minus von 0,3 bzw. 0,5 Prozent annähernd stabil blieben, fiel selbige in den Krisenländern Spanien um 4,7, in Portugal um 5,4, in Zypern um 6,1 und in Griechenland gar 8,2 Prozentpunkte. In Zypern und Griechenland lag die Lohnquote 2014 unterhalb der 50 Prozent-Marke. Mehr als die Hälfte des Einkommens entfallen in diesen beiden Krisen-Staaten also bereits auf Gewinn- und Kapitaleinkommen, Löhne und Gehälter befinden sich im freien Fall.

Aufmerksamkeit und Solidarität geboten

Die Forderung des IV-Präsidenten nach Öffnung der Tarifverträge kann und darf daher nicht als isolierte Einzelmeinung eines wild gewordenen Industrievertreters abgetan werden. Sie ist vielmehr zentraler Bestandteil europäischer „Krisenbewältigungsstrategie“, ein zentraler Baustein auf dem Weg in Richtung eines autoritären Kapitalismus und einer „marktkonformen“ Demokratie. Dass die Diskussion um eine Dezentralisierung der Tarifsysteme längst nicht auf Krisenstaaten beschränkt bleibt, zeigen Empfehlungen der EU-Kommission im Rahmen des europäischen Semesters  gegenüber Belgien und Frankreich, die auf eine Aufweichung der Flächentarifverträge abzielen. Und es sollte nicht vergessen werden, dass es Pläne gab und gibt, die Umsetzung derartiger Strukturreformen im Rahmen von Wettbewerbspakten für die Mitgliedsstaaten verpflichtend zu machen. Es ist daher dringende Aufmerksamkeit gegenüber europäischen Entwicklungen geboten um gegebenenfalls rasch und rechtzeitig Widerstand organisieren und mobilisieren zu können. Widerstand, den es übrigens bereits anderswo gibt: SYRIZA will  in Griechenland wieder Flächentarifverträge einführen – gegen teilweise heftige Widerstände der europäischen Eliten. Dieser Kampf verdient jedenfalls unser aller Solidarität. Denn er wird nicht nur für die griechischen Arbeitnehmer_innen geführt.

Markus Koza ist Ökonom und Vorsitzender der UG – Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB.

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