Im letzten Netz: Wie falsche Leistungsmythen die Mindestsicherungsdebatte verzerren

Nicht enden wollend scheinen die aktuellen Debatten rund um eine Einigung von Bund und Ländern zu geplanten Kürzungen in der Mindestsicherung. Die längst überfälligen Reformen des an vielen Stellen schon jetzt unzureichenden letzten sozialen Netzes werden dabei genauso ignoriert wie die wirklichen Verteilungsfragen. Wie Michaela Moser zeigt, prägen falsche Zahlen, unhaltbare Leistungsmythen und ein kruder Gerechtigkeitsbegriff den Diskurs.  

Es ist schwer, eine Sache zu verteidigen, die voller Mängel ist. Mit Blick auf die aktuelle Mindestsicherungsdebatte ist genau dies trotzdem notwendig. Denn das 2011 die Sozialhilfe ablösende System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ist als letztes soziales Netz unverzichtbar.

Immer mehr Bezieher*innen

Die tatsächlich steigende Zahl an Bezieher*innen ist ein Indikator dafür, dass vieles hierzulande nicht stimmt. Wenn in einem der reichsten Länder der Welt immer mehr Menschen gezwungen sind, auf das letzte soziale Netz zurückzugreifen, ist das ein sicheres Zeichen für das Versagen anderer Politikbereiche, wie etwa des Arbeitsmarkts, der Wohnbaupolitik und vor allem in Verteilungsfragen. Keinesfalls ist der spätestens seit den 2000er Jahren, also schon zu Zeiten der Sozialhilfe feststellbare Anstieg an Bezieher*innen allein mit der zunehmenden Zahl an anerkannten Flüchtlingen mit Bezugsrecht zu erklären.

284.374 Menschen haben im Jahr 2015 zumindest einmal eine Leistung aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung bezogen. Das ist ein Anstieg von 10,9 Prozent gegenüber 2014. Mehr als ein Viertel davon sind Kinder, ein Dritte Beschäftigte mit niedrigem Einkommen oder Personen, die ihre Arbeitskraft nicht einsetzen können, zum Beispiel pflegende Angehörige oder Mütter mit Kleinkindern. Frauen sind stärker auf die Unterstützung durch Mindestsicherung angewiesen als Männer (38 Prozent vs. 35 Prozent), abgesehen davon bilden Alleinstehende die größte Unterstütztengruppe (37 Prozent), gefolgt von Paaren mit Kindern (30 Prozent) und Alleinerziehenden (20 Prozent). Nur ein kleiner Teil bezieht ausschließlich Mindestsicherung, die große Mehrheit braucht diese, um nicht existenzsichernde Leistungen der Arbeitslosenversicherung aufzustocken.

Für den Großteil der Bezieher*innen gilt außerdem, dass es sich um eine Überbrückungshilfe mit einer Bezugsdauer zwischen sechs und neun Monaten handelt, bei knapp einem Viertel beträgt diese sogar weniger als vier Monate. Nichtsdestotrotz gibt es auch Menschen, die kaum eine Chance haben, je wieder ein anderes Einkommen zu beziehen, wie etwa Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen.

Hohe Nichtinanspruchnahme, strenge Kontrollen

Völlig aus dem Blick geraten ist in der aktuellen Diskussion zudem die hohe Zahl an Menschen, die trotz bestehendem Anspruch keine Mindestsicherung beantragen. Diese als „Non-Take-Up“-Quote bezeichnete Nichtinanspruchnahme ist am Land noch wesentlich höher als in den Städten. Die großen Probleme in der Mindestsicherung lauten deshalb keinesfalls „Sozialbetrug“ oder „soziale Hängematte“ sondern Nichtinanspruchnahme und Sozialbürokratie.

Missbrauch ist beim Mindestsicherungsbezug ohnehin kaum möglich. Die Bezieher*innen sind für die Behörden in vielen Aspekten gläserne Menschen. Nicht nur müssen sie ihre Lebensverhältnisse völlig offen legen, aufgrund umfangreicher Amtshilfeverpflichtungen kann auch klar erhoben werden, ob sie zum Beispiel einer Beschäftigung nachgehen oder eine AMS-Sperre vorliegt, ob ein KFZ auf ihren Namen läuft und wer sonst noch an ihrer Wohnadresse gemeldet ist. Ein Blick in den Computer genügt.

Auch während des laufenden Bezugs sind jederzeit Kontrollen möglich, zum Beispiel mittels unangemeldeter Hausbesuche. Sollte sich herausstellen, dass Leistungen zu Unrecht bezogen wurden, sind sie zurückzuzahlen. Verwaltungsstrafen bis zu 4.000 Euro und auch Ersatzfreiheitsstrafen sind möglich. Anzeigen wegen des „Erschleichens“ von Leistungen mit bewusst falschen Angaben sind aber sehr selten. So wurden beispielsweise im Jahr 2013 in Niederösterreich 330 Haushalte mittels Hausbesuch überprüft; in nur zwei Fällen lag ein widerrechtlicher Bezug vor.

Mythos Leistungsgerechtigkeit

„Wer nicht arbeitet, soll kaum was essen.“ So in etwa scheint die Devise der derzeit vorgebrachten Kürzungsvorschläge zu lauten. Oder: Wer noch nicht lange genug hier lebt, hat sich noch keine Unterstützung verdient und muss eben hungern. Völlig ignoriert werden dabei Fragen, wovon die Betroffenen, die aus unterschiedlichen Gründen kaum realistische Chancen am Arbeitsmarkt haben, denn fortan leben sollen. In Kauf genommen werden damit ein Anstieg an absoluter Armut, Hunger, Verelendung und ein unvermeidbares, weil überlebensnotwendiges Ausweichen auf informelle oder nicht legale Einkommensmöglichkeiten.

Mit Blick auf die zumutbare Höhe der auszuzahlenden Leistung wird immer wieder auf den notwendigen Abstand zu Kleinverdiener*innen verwiesen, denen es nicht zumutbar sei, dass sie mit harter Arbeit kaum mehr – oder sogar weniger – verdienen, als Menschen fürs angebliche „Nichtstun“ bekommen. Abgesehen davon, dass viele der in letzter Zeit dazu vorgelegten Rechenbeispiele schlicht falsch oder manipulativ waren (siehe dazu die Faktenchecks der Armutskonferenz), ist auch spätestens seit der berühmten Marienthal Studie aus den 1930er Jahren und zahlreichen Folgeforschungen deutlich genug belegt, dass eine beträchtliche Zahl an Erwerbsarbeitslosen an ihrer Situation unfreiwilliger Erwerbslosigkeit leidet.

Unablässig bemüht wird im Kontext der Mindestsicherungsdebatten vor allem der Mythos eines unmittelbaren Zusammenhangs von Einkommen und Leistung. „Wer arbeitet, darf nicht der (sic!) Dumme“ sein, heißt es etwa in Aussendung seitens politischer Vertreter der ÖVP. Dabei zeigt ein Blick auf Erbschaften, aber auch auf exorbitant hohe Finanzmarktgewinne deutlich genug, dass die verbreitete Annahme, Geld gebe es nur für Leistung, nicht stimmt. Gleichzeitig lassen sich unzählige Beispiele dafür nennen, dass vieles ohne den Anreizfaktor Geld geleistet wird.

Genau auf diesem Mythos, Geld sei der wesentliche Anreiz für die Suche oder Annahme eines Arbeitsplatzes, basieren jedoch viele der vorgebrachten Argumente. Die meist mitschwingende korrespondierende These, die Kürzung staatlicher Leistungen führe zu mehr Eigeninitiative und damit zur Senkung der Arbeitslosenquote, weil es nur so einen finanziellen Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit gebe, ist empirisch klar zu widerlegen, wird aber dennoch ständig wiederholt. Erschreckend abwesend hingegen bleiben die notwendigen Debatten über zu niedrige Löhne im unteren Einkommenssegment.

Hand in Hand mit den beschriebenen Leistungsmythen geht ein eingeschränkter Gerechtigkeitsbegriff. Dieser basiert auf ebendiesen Mythen und ist allein deshalb schon unhaltbar, deckt darüber hinaus jedoch nur einen von vielen Aspekten von Gerechtigkeitsfragen ab. Dass Gerechtigkeitskonzepte üblicherweise neben Leistungs- jedenfalls auch Bedarfsaspekte abdecken, ist in jeder Ethik-Einführung nachzulesen. Komplexere Ansätze ergänzen diese Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit durch Fragen nach den Möglichkeiten einzelner (Gruppen) zur vollen gesellschaftlichen Teilhabe.

Was es zum Leben braucht

Ein realistischer Blick auf die Höhe der ausbezahlten Mindestsicherungsbeträge, die meist unter dem vorgesehenen Regelsatz liegt, zeigt auch, dass sich damit alles andere als ein bequemes Leben finanzieren lässt. Nach Abzug der Wohnkosten bleiben oft weniger als vier Euro am Tag für die Deckung der Lebenserhaltungskosten.

Wie stark die Diskrepanz zu den Kosten für einen bescheidenen Lebensstil ist, machen vor allem die seit einigen Jahren von der Dachorganisation der Schuldenberatungen veröffentlichten Referenzbudgets deutlich. Dabei werden mittels komplexer qualitativer Erhebungsverfahren und unter Einbeziehungen breiten Expert*innen-Wissens Musterbudgets für unterschiedliche Haushaltstypen erstellt. Mit großer Detailgenauigkeit enthalten diese Budgets alle jene Ausgabenposten (Wohnkosten, Haushaltsausgaben, Gesundheitskosten usw.), die für einen bescheidenen Lebensstil, der ein Minimum an Teilhabe sichert, nötig sind.

Vor allem für Haushalte mit mehreren Kindern wird dabei deutlich, welche Kosten oft allein schon für schulische und mit der Schule verbundene Ausgaben entstehen. Gerade hier erweist sich eine Deckelung insofern als fatal, als sie die Zukunftschancen junger Menschen in Mehrkindfamilien dramatisch beschneidet.

Die Verteilungsfrage stellen!

Statt Kürzungen, Deckelungen und Streichungen, als deren Folgen eine Steigerung an Armut und Elend zu erwarten sind, braucht es vielmehr eine Reihe von Verbesserungen, die überwiegend schon lange bekannt sind.

In einem reichen Land wie Österreich geht es in Mindestsicherungsdebatten letztlich jedoch immer um Verteilungsfragen. Es geht um Vergleiche – und zwar nicht um jene zwischen der schlecht verdienenden Tischlermeisterin und dem Mindestsicherungsbezieher. Vielmehr geht es um den Vergleich zwischen jenen fünf Prozent der Bevölkerung, die über die Hälfte des gesamten Vermögens in Österreich verfügt, und der unteren Hälfte der Bevölkerung, die sich mit lediglich vier Prozent davon zufrieden geben muss und von der ein Großteil über keinerlei Vermögen verfügt.

Es geht um ein solidarisches Miteinander, um die Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten aller und damit auch um demokratiepolitische Fragen. Es geht um die Frage, wie wir als Gesellschaft miteinander leben wollen und wie wir das Auseinanderdividieren all jener mit wenig Einkommen verhindern können.

Michaela Moser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten und seit vielen Jahren in der Armutskonferenz engagiert.

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