HDP: Eine Partei ohne Anwalt

Der 7. Juni 2015 war ein historischer Tag in der türkischen Politik. Mit dem Wahlerfolg der HDP zog zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei eine Kraft ins Parlament ein, die die Anliegen von jenen vertreten will, die in der türkischen Politik bisher keine Stimme hatten: Über die Liste der HDP betraten Vertreter*innen von Minderheiten und gesellschaftlichen Randgruppen sowie linke Intellektuelle erstmals gemeinsam organisiert die politische Bühne, bei einem Frauenanteil von knapp 40%.

Insbesondere für die starke Vertretung von Nicht-Muslim*innen und Personen aus der LGBT-Bewegung musste die HDP viel Kritik von religiösen und rechten Gruppen in der türkischen Gesellschaft einstecken. Auch Staatspräsident Erdogan war von Anfang an kein Freund der HDP, nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus machtpolitischen Gründen.

Denn die letzten Parlamentswahlen bedeuten eine historische Zäsur für die AKP. Erdogan ließ kaum etwas unversucht, um die HDP an der 10-Prozent-Wahlhürde scheitern zu lassen. Eine Wahlhürde, die besonders undemokratisch ist, ist sie doch die weltweit höchste. Dass die HDP diese Hürde meisterte, hat Erdogans AKP die absolute Mehrheit gekostet, die so auf die Bildung einer Koalitionsregierung angewiesen war.

Erdogans verlorener Machtkampf

Das hatte sich Erdogan anders vorgestellt: Während des gesamten Wahlkampfes beherrschte sein Plan eines Präsidialsystems und damit die Ausweitung seiner Macht das Thema, das fast alle Polit-Diskussionen beherrschte. Dabei konnten weder der Staatspräsident selbst noch Ministerpräsident Davutoglu oder die Abgeordneten der AKP in den Medien erklären, wie dieses Präsidialsystem im Rahmen der türkischen Verhältnisse umgesetzt werden sollte. Die AKP betrieb eine vage Ankündigungspolitik ohne konkrete Vorschläge und Umsetzungspläne. Für die Oppositionsparteien war jedoch eindeutig, dass sich hinter diesen Ankündigungen nur ein autoritäres Präsidialsystem mit einer unheilvollen Machtkonzentration verbergen kann.

Trotz verfassungsrechtlicher Verpflichtungen zur Unparteilichkeit hat sich Staatspräsident Erdogan immer wieder in den Wahlkampf eingeschaltet. Dabei hat er sowohl staatliche als auch private Nutzflächen und Einrichtungen als Kundgebungsorte ausgewählt und nahm bei diesen Auftritten regelmäßig die HDP ins Visier. Der öffentliche Raum war von der AKP dominiert, bei völliger Intransparenz ihrer Wahlkampfkosten. Erdogan forderte die Wähler*innen in seine Reden auf, der AKP zu „400 Abgeordneten“ – eine Verfassungsmehrheit – zu verhelfen, damit die „Sache in Frieden gelöst“ werden könne. Ein Ziel, von dem sie mit lediglich 258 Abgeordneten weit entfernt blieb. Erdogan-Kritiker*innen sehen in dieser Wahlniederlage den wahren Grund für die Eskalation in der Türkei.

Es war eine unwahrscheinliche Niederlage, denn die AKP hatte von Anfang an die beste Ausgangssituation von allen Parteien: Der gesamte Staatsapparat und alle regierungsnahen Medien stehen ihrem Wahlkampf zur Verfügung. Im staatlichen Fernsehsender „TRT“ wurden Erdogans AKP in der Woche vor der Wahl 75 Stunden Sendezeit eingeräumt. Der Opposition wurden 17 Minuten zugestanden. So konnten die Oppositionsparteien ihre politischen Forderungen, Botschaften und Positionen über die staatlichen Medien nur sehr eingeschränkt vermitteln.

Regierungsnahe Medien wie Aksam und Takvim führten regelrechte Hetzkampagnen gegen die HDP, indem sie zum Beispiel ihrem Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtas zum Vorwurf machten, Schweinefleisch zu essen – ein Verhalten, das im Islam als sündhaft eingestuft wird und im Vorfeld der Wahlen für einen großen Skandal sorgte.

Der „Kampf gegen Terrorgruppen“ als Krieg gegen die Opposition

Ohne Waffen, ohne Gewalt, ohne blutige Aufstände vermochten die HDP und ihre Sympathisant*innen das zunehmend autoritäre Regime Erdogans in demokratischen Wahlen zu durchbrechen. Der Einzug der pazifistischen Partei HDP war auch eine Hoffnung für den Friedensprozess in der Türkei. Die PKK begrüßte den Erfolg der HDP und bereitete sich für einen langfristigen Waffenstillstand vor, denn im Parlament gab es jetzt eine Partei, die alle Minderheiten vertreten und parlamentarisch nach diplomatischen Lösungen suchen würde.

Die Hoffnungen auf den lang ersehnten Frieden wurden bald enttäuscht. Kurz nach den Wahlen wurde in Suruc ein Bombenattentat auf eine Gruppe linker Aktivist*innen verübt, die sich dort versammelt hatten, um beim Wiederaufbau der 10 Kilometer entfernten kurdisch-türkischen Grenzstadt Kobane zu helfen. Dabei wurden 36 junge Student*innen und Menschenrechtsaktivist*innen getötet. Binnen einer halben Stunde wurde auf Twitter und in anderen Medien verbreitet, dass der Anschlag das Werk des IS sei, der sich bis heute nicht zu ihm bekannt hat. Der Co-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtas warf der türkischen Regierung vor, nicht genug für den Schutz der Aktivist*innen unternommen zu haben. Kurz nach diesen Angriff wurden zwei türkische Polizisten in ihren Wohnungen getötet. Auch in diesem Fall wurden die Attentate medial der PKK zugeschrieben, bevor sie sich zu ihnen bekannte. Erdogan nutzte dieses Chaos, um mit Blick auf die bevorstehenden Neuwahlen am 1. November nach einer gescheiterten Regierungsbildung gegen die Kurd*innen und seine Kritiker*innen vorzugehen.

Nachdem er die Aktivitäten des IS in der Türkei internationalem Druck zum Trotz lange geduldet hatte, rief er nun den „Kampf gegen Terrorgruppen“ aus. Nach einem Jahr, in dem tausende von Menschen gestorben, geflüchtet, vergewaltigt und versklavt worden sind, während der IS in der Türkei unbehelligt rekrutieren, logistische und materielle Unterstützung organisieren und Kämpfer*innen in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen konnte. Der berühmte Journalist Can Dündar veröffentlichte unlängst weitere Indizien, dass der türkische Geheimdienst MIT Waffen an islamistische Rebellen lieferte, die an den IS gelangt sein könnten. Lieferungen, die die türkische Regierung zuvor stets leugnete.

Nach den ersten militärischen Interventionen der Regierung wurde bald klar, dass mit dem „Kampf gegen Terrorgruppen” fast ausschließlich der Kampf gegen die PKK gemeint war. Erst jetzt demonstrieren die Erdogan-Fans gegen den „Terror“, während sie bisher keine einzige Demonstration gegen den Terror der IS veranstaltet haben. Es war ein durchdachter Plan. Die HDP sollte samt ihren Sympathisant*innen terrorisiert und geächtet werden. Ein Zustand des Chaos, der Eskalation und des Krieges sollte geschaffen werden. Am 1. November soll Erdogan in Neuwahlen ein starkes Mandat erhalten, um die Türkei vor der Unordnung zu retten, die er selbst provoziert hat, und endlich sein autoritär-konservatives Imperium aufzubauen, das die HDP bei den Wahlen im Juni verhindert hatte.

Erdogans Angst vor der Demokratie

In den kurdischen Städten, in denen von den türkischen Behörden strikte Ausgangssperren angeordnet werden, ist die HDP aufgrund täglicher Todesfälle durch Polizei- und Militärgewalt nicht in der Lage, einen Wahlkampf zu führen. Viele ihrer Sympathisant*innen und Mitglieder wurden am 10. Oktober in Ankara durch einen barbarischen Bombenanschlag getötet, den HDP-Co-Vorsitzender Demirtas als „Fortsetzung“ der Anschläge von Diyarbakir und Suruc betrachtet. Unzählige HDP-Büros wurden seit den Wahlen im Juli von rechtskonservativen Gruppen verwüstet und in Brand gesetztDie HDP wird durch Massenverhaftungen ihrer Parteimitglieder, Mitarbeiter*innen und Sympathisant*innen erheblich am Wahlkampf gehindert. HDP-Politiker*innen werden in den staats- und regierungsnahen Privatsendern nicht zu Diskussionen eingeladen. Es gibt auch keine Elefantenrunde in den TV-Kanälen, zumindest nicht mit der HDP.

Es gibt nur die Angst, dass die HDP die 10-Prozent-Wahlhürde wieder schafft und damit die absolute Mehrheit der AKP und das autoritäre Regime Erdogans ein weiteres Mal verhindert. Es gibt nur die Angst, dass die Türkei europäisiert, modernisiert und pluralisiert wird. Es gibt nur die Angst, dass Menschen selbstbestimmt, frei und demokratisch ihre Stimme erheben können.

Berîvan Aslan ist Konsument_innenschutz- und Frauensprecherin der Grünen im Nationalrat.

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