Gewerkschaftsarbeit braucht transnationale Strukturen

In den letzten 15 Jahren konnten Aktivist_innen des Europäischen Bürger_innenforums sowie von Afrique Europe Interact zahlreiche Erfahrungen im Bereich der grenzüberschreitenden Gewerkschaftsarbeit sammeln

Im Februar 2000 fanden in der südspanischen Provinz Almería über Tage andauernde rassistische Ausschreitungen statt, die sich vor allem gegen marokkanische Migrant_innen richteten. Die Region Almería ist bekannt für die Gemüseproduktion unter Plastik – auf über 35.000 Hektar Fläche werden vor allem in den Wintermonaten rund 3 Millionen Tonnen Gemüse für den europäischen Markt produziert. Die billigen Tomaten, Zucchini, Auberginen und Trikolore-Paprika, die wir bei Lidl, Hofer oder Billa kaufen, werden in Almería von rund 150.000 migrantischen Landarbeiter_innen unter extrem prekären Bedingungen produziert.

Unmittelbar nach den Ausschreitungen vom Februar trat in Almería eine Gewerkschaft auf den Plan, die sich zum Ziel setzte, sowohl für die Interessen der migrantischen Landarbeiter_innen als auch für eine grundlegend andere Landwirtschafts- und Migrationspolitik zu kämpfen. Das Besondere der Gewerkschaft SOC-SAT (spanisch: Sindicato de obrer@s del campo / Sindicato Andalous de Trabajador@s) in Almería ist, dass sie im Wesentlichen von Migrant_innen selbst geführt wird, die zum Teil selbst früher in den Gewächshäusern oder Abpackbetrieben arbeiteten.

Solidarität organisieren

Die rassistische Gewalt, aber auch die mutige Selbstorganisation migrantischer Arbeiter_innen in einer Gewerkschaft bewogen uns im Rahmen des Europäischen BürgerInnenforums (EBF), eine breit angelegte Solidaritätskampagne mit der SOC-SAT zu beginnen. Diese Solidaritätskampagne umfasste eine Reihe europäischer Länder (in erster Linie Frankreich, die Schweiz, Österreich, die Niederlande und Deutschland) und hatte zum Ziel, mehrere inhaltliche Stränge zusammenzubringen.

  1. Erstens sollte selbstverständlich die migrantische und gewerkschaftliche Gegenwehr in Almería finanziell unterstützt werden: so sammelten wir Mitte der 2000er Jahre Unterstützung für den Aufbau von Gewerkschaftshäusern im Plastikmeer von Almería. Dieser Ansatz ist wichtig, weil viele Migrant_innen nach wie vor dazu gezwungen sind, weit verstreut zwischen den Gewächshäusern Almerías in so genannten „Chabolas“ zu leben, improvisierten Hütten aus Plastik und Holz. Die Gewerkschaftszentren sollten ihnen den Zugang zu Infrastruktur  und einen Ort zur Organisation ermöglichen.
  2. Zweitens versuchten wir, andere Gewerkschaftsverbände für die Arbeit der SOC/SAT zu interessieren und Delegationsreisen mit Gewerkschafter_innen aus anderen Ländern nach Almería auf die Beine zu stellen. Dies gelang in gemeinsamen Projekten mit der Gewerkschaft ver.di in Deutschland, mit dem gewerkschaftlichen Bildungsverein „Weltumspannend Arbeiten“ aus Österreich oder dem „autre Syndicat“ aus der Schweiz. Die Reisen und der gewerkschaftliche Austausch sollten die Kolleg_innen der großen Verbände für den radikalen und basisorientierten Ansatz der SOC-SAT sensibilisieren. Vor allem der Umstand, dass migrantische Arbeiter_innen ohne Papiere innerhalb der andalusischen Gewerkschaft vertreten wurden und werden, sollte in den Mittelpunkt gerückt werden. Durch diesen Schritt erwarten wir uns auch eine Sensibilisierung für die Projekte in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen – so beispielsweise die Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender.
  3. Drittens arbeiteten wir mit kritischen Journalist_innen zusammen, die über die Realität im „Plastikmeer von Almería“ berichteten. So entstanden über die Jahre zahlreiche breit rezipierte Dokumentarfilme, wie „We feed the world“ von Erwin Wagenhofer oder „Unser täglich Brot“ von Nikolaus Geyerhalter; unzählige Zeitungsreportagen, Radiofeatures und Fernsehdokumentationen wurden produziert. Wir betonten an diesem Punkt stets, dass mit der kritischen Berichterstattung über die Realität der Produktionsverhältnisse in Almería auch immer konkrete und klar nachvollziehbare Solidaritätsaktionen einhergehen müssten: Journalistischer „Business as Usual“ schien uns stets ungenügend und letztlich unverantwortlich gegenüber der Gewerkschaft sowie gegenüber den interviewten Migrant_innen.
  4. Viertens versuchten wir unser Aktionsfeld auch auf andere Länder auszuweiten. Denn von Beginn an war klar, dass die Ausbeutung von Migrant_innen in der industriellen Landwirtschaft kein Alleinstellungsmerkmal Spaniens ist. Vielmehr handelt es sich um ein strukturelles Problem, das mit der europäischen Migrationspolitik sowie mit der gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) aufs engste verwoben ist. Im Jahr 2010 erschien unter dem Titel „Orangen fallen nicht vom Himmel“ die Recherchearbeit unseres Mitarbeiters Jean Duflot über Ausbeutung und Widerstand von subsaharischen Migrant_innen im süditalienischen Rosarno. Im Jahr 2014 begann im Zuge einer Reihe von Arbeitskämpfen migrantischer Saisonarbeiter_innen in Tirol sowie im Burgenland, die von Aktivist_innen des EBF und anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen unterstützt wurden, eine gemeinsame Aktion mit der Gewerkschaft PROGE. In mehreren Bundesländern Österreichs werden seither Arbeiter_innen unterstützt, wenn sie ihren Lohn nicht bekommen, wenn gesetzliche Arbeitszeiten überschritten werden oder wenn auf den Höfen andere Formen von Ausbeutung und Diskriminierung stattfinden.
  5. Fünftens wollten wir von Beginn an die hochproblematische Rolle der Supermärkte und Discounter thematisieren, die für die Preisdrückerei im landwirtschaftlichen Sektor und somit für die miserablen Löhne für Landarbeiter_innen wesentlich mitverantwortlich sind. Die enorme Marktmacht weniger Handelsketten führte in den letzten Jahrzehnten dazu, dass Konzerne wie REWE, die Schwarz-Gruppe oder Aldi praktisch die Bedingungen diktieren können, unter denen produziert wird. Es gelingt ihnen, ganze Produktionsregionen gegeneinander auszuspielen und somit die ökologische Zerstörung und die soziale Ausbeutung enorm zu verschärfen. Aus diesem Grund organisierten wir immer wieder symbolische Aktionen vor Supermärkten: so vor einem Lidl-Supermarkt im Rahmen der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 sowie vor einem Aldi-Supermarkt beim Klima- und Antirassismuscamp in Hamburg im Jahr 2009. An beiden Aktionen nahmen jeweils mehrere hundert Menschen teil, darunter Gewerkschafter_innen von ver.di sowie der SOC/SAT aus Almería.
  6. Sechstens versuchen wir zusammen mit der SOC/SAT, solidarische Kontakte in die so genannten Herkunftsländer der Arbeitsmigrant_innen zu knüpfen. Viele Arbeiter_innen aus Almería kommen aus Ländern des Maghreb sowie aus Westafrika. Wir arbeiten mit dem Netzwerk Afrique Europe Interact zusammen , das sich zum Ziel gesetzt hat, für globale Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung zu kämpfen. Im Jahr 2011 wurde von Afrique Europe Interact eine groß angelegte Bus-Karawane organisiert, bei der mehrere hundert Aktivist_innen von Bamako, der Hauptstadt Malis, nach Dakar, der Hauptstadt Senegals, zum Weltsozialforum fuhren und entlang der über 1300 Kilometer langen Strecke eine Vielzahl an Diskussionen und Treffen mit der lokalen Zivilgesellschaft organisierten. Auch ein Gewerkschafter der SOC/SAT war auf der Reise mit dabei. Seither haben sich eine Vielzahl an Aktionssträngen entwickelt: einerseits kämpft Afrique Europe Interact gegen Landgrabbing, also gegen den Raub bzw. Ausverkauf von fruchtbarem Land an Investoren und Großgrundbesitzer, um auf diese Weise gegen die strukturellen Ursachen für Migration anzugehen (siehe dazu den Fall der Dörfer Sahou und Sanamadougou). Andererseits ist Afrique Europe Interact auch am „Alarm Phone“-Netzwerk beteiligt, das Migrant_innen, bei der Fahrt über das Mittelmeer mit einem 24-Stunden Telefondienst zur Seite steht und die Arbeit der Küstenwachen überwacht.

Transnationale Netzwerke auch auf andere Sektoren ausweiten

Alle hier beschriebenen Initiativen treten mit dem Anspruch an, transnationale Netzwerke in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu knüpfen und zu stärken. Das Beispiel des industriellen Anbaus von Obst und Gemüse ist nur eines von vielen – praktische Schritte transnationaler Organisierung entlang von Wertschöpfungsketten sind absolut entscheidend, um Arbeitnehmer_innenrechte zu stärken. Gewerkschaftliche Initiativen wie TIE in Deutschland zeigen vor, wie Organisierung auf dem Sektor der Textilproduktion aussehen kann: hier findet bereits seit mehreren Jahren ein reger Austausch zwischen Betriebsrät_innen der Textilketten H&M und Zara und ihren Kolleg_innen im Bekleidungssektor in Bangladesch statt.

Praktische und greifbare transnationale Organisierung innerhalb der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen müssen weiter gestärkt werden, nicht nur aus Gründen der Solidarität, sondern auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse: Ausbeutung und Umweltzerstörung im globalen Süden und in den krisengeschüttelten Ländern Südeuropas schaden auch den Interessen der Arbeitnehmer_innen hierzulande. Der alte internationalistische Anspruch der Gewerkschaften darf nicht nur Gegenstand von Sonntagsreden sein, sondern muss auf der Höhe der Zeit neu formuliert und praktisch ausgestaltet werden.

Dieter Alexander Behr ist Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact sowie beim Europäischen BürgerInnen Forum und Lehrbeauftragter an den Universitäten Wien und Klagenfurt.

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