Gegen den kalten Putsch in Brasilien: #NaoVaiTerGolpe

Das Verfahren zur Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff geht in die finale Phase. Am Sonntag, 17. April 2016 findet eine entscheidende Abstimmung im brasilianischen Parlament statt. Das würde den Anfang des Endes der Präsidentin und der Arbeiterpartei (PT) an der Regierung bedeuten. Die brasilianische Linke interpretiert das als Putsch und mobilisiert zu einer Kampagne für Demokratie.

Etwas weniger als drei Jahre vor der aktuellen Regierungskrise schien alles in Ordnung in Brasilien: Wirtschaftlicher Aufschwung ging einher mit deutlicher Reduktion der Armut. Die Bilanz der Mitte-Links Regierung war zunächst beeindruckend: Sozialprogramme wurden ausgebaut und das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum begünstigte vordergründig die Armen. Laut offiziellen Daten wurde die extreme Armut seit dem Amtsantritt Lulas 2003 von 15 Prozent auf vier Prozent im Jahr 2014 reduziert. Die Armutsrate sank im gleichen Zeitraum von 36 Prozent auf 13 Prozent.

Gleichzeitig mit dieser Reduktion von Armut und Ungleichheit verzeichnete Brasilien bis 2013 überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum und allgemeine Wohlstandsgewinne. Der charismatische Ex-Gewerkschafter Lula erreichte Rekord-Beliebtheitswerte als Präsident. 2010 übergab er die Präsidentschaft an die ehemalige Widerstandskämpferin gegen die Militärdiktatur, Dilma Rousseff. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Erfolge verzeichnete auch sie Beliebtheitswerte über 60 Prozent – bis zum FIFA Intercontinental Cup 2013. Die größten Massenproteste seit Anfang 1992 (als der Präsident Collor de Mello wegen Korruption des Amtes enthoben wurde) halbierten die Beliebtheit der Präsidentin schlagartig.

Die aktuellen Proteste gegen Korruption

Auch die aktuellen Proteste thematisieren Korruption. In der Tat wurden in den letzten Jahren einige Skandale aufgedeckt. Enthüllungen um die mehrheitlich staatliche Erdölfirma Petrobras – den bis dahin umsatzstärksten Betrieb des Landes – erschütterten seit Ende 2014 die brasilianische Öffentlichkeit. Wichtige PolitikerInnen der größten politischen Parteien werden verdächtigt und sitzen teilweise ebenso in Untersuchungshaft wie LobbyistInnen und weitere UnternehmerInnen. Auffällig ist, dass zwar PolitikerInnen aller großen Parteien mit Korruption in Verbindung gebracht werden, aber die Arbeiterpartei im Fokus der großen Proteste steht – insbesondere die aktuelle Präsidentin und Ex-Präsident Lula. Sowohl bei Lula als auch bei Dilma wirken die Beschuldigungen wenig haltbar. Sie wiegen dennoch schwer, da die Arbeiterpartei damit den Nimbus verloren hat, die moralisch überlegene korruptionsfreie politische Alternative zu sein – besonders in der Mittelschicht.

Trotz der dünnen Beweislage scheint die Absetzung der Präsidentin nun wahrscheinlicher. Ausschlaggebend dafür ist der Druck der Proteste – gestützt auf mediale Kampagnen der größten TV Sender, Zeitschriften und Zeitungen. Im Falle einer Amtsenthebung Rousseffs wäre der Vize-Präsident und PMDB-Politiker Michel Temer Präsident. Aller Voraussicht nach hätte das eine konservative Regierung zu Folge.

Linke Einigkeit im Kampf gegen den Putsch der Rechten

Die aktuellen Ereignisse zeugen zwar von einer besser funktionierenden Justiz. Doch Medien und wichtige JustizbeamtInnen haben bisher auch wiederholt den Eindruck erzeugt, vornehmlich PolitikerInnen der Arbeiterpartei ins Visier zu nehmen und somit einseitig konsequent zu sein. Anscheinend wird das knappe Wahlergebnis zugunsten von Dilma nicht akzeptiert und stattdessen versucht, es auf anderem Weg rückgängig zu machen. Daher zeigt die brasilianische Linke weitgehend Einigkeit im Kampf gegen den Putsch der Rechten.

Friedliche Demonstrationen für Demokratie vereinten jüngst weite Teile der brasilianischen Linken. Dabei handelt es sich um Menschen verschiedenster ethnischer und sozialer Zugehörigkeit. Obwohl viele von der Regierung enttäuscht sind, stellen sie sich entschieden gegen die Offensive von rechts. In Anlehnung an den zentralen Slogan der Demonstrationen gegen die Fußball-WM („Nao vai ter copa“ – „Es wird keine WM geben“), sammeln sich die progressiven Bewegungen des Landes nun unter dem Motto „Não vai ter golpe“ („Es wird keinen Putsch geben“).

Die Bewegungen der neuen Rechten

Auf der anderen Seite gehen vordergründig Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen auf die Straße. Neben Korruption prangern sie auch die „übermäßigen“ Sozialleistungen an und stellen Forderungen wie die nach Aberkennung des Wahlrechts für EmpfängerInnen von Sozialhilfe. Unter ihnen mehrten sich in letzter Zeit auch Stimmen, die einen Militärputsch als beste Lösung sehen. Slogans wie „Dilma raus“, „Lula ins Gefängnis“, „Brasilien wird Kuba“, „Kommunismus raus“ und Ähnliches untermauern die wütenden Proteste.

Die Bewegungen der neuen Rechten („Vem pra Rua“, „Movimento Brasil Livre“, „Revoltados online“) werden aus Unternehmenskreisen finanziert. Daher tragen immer mehr Protestierende aufblasbare Enten, um gegen das „Schröpfen“ des Staates zu protestieren, der unter der Mitte-Links Regierung zu groß geworden sei. Damit halten sie das Banner der Industriellenvereinigung (FIESP) hoch und protestieren gegen den Ausbau des Sozialstaates. Die Rhetorik der RegierungsgegnerInnen bewegt sich insgesamt zwischen neoliberalen Forderungen des Staatsabbaus und neo-konservativer Kritik an der gesellschaftspolitischen Erneuerung (z.B. Minderheitenrechte). Sozialhilfe gilt als „Stimmenkauf“ der ungebildeten Armen, daher die vermehrten Forderungen nach Einschränkung oder Abschaffung der Demokratie.

Der ungewisse Ausgang der Auseinandersetzungen

Trotz der aktuellen rechten Offensive bleibt der Ausgang der aktuellen Auseinandersetzungen ungewiss. Und auch wenn Kritik am widersprüchlichen Kurs der Regierung geübt wird, ist sich die Linke aktuell weitgehend einig im Kampf gegen den neuen Putschismus. Verteidigt werden vor allem die demokratischen Errungenschaften seit dem Ende der Militärdikatur (Mitte der 1980er Jahre) und die sozialen Errungenschaften der letzten Jahre. Der Ausgang des Kampfes bleibt offen. Gefragt ist daher internationale Solidarität mit der Losung #naovaitergolpe.

Update (19. April):

Die Abstimmung im brasilianischen Parlament brachte ein klares Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten (367 von 513) stimmten für die Einleitung des Amtsenthebungsverfahren, bei bloß 137 Gegenstimmen, 7 Enthaltungen und 2 abwesenden MandatarInnen. Einige ließen sich im letzten Moment zu einer Haltung gegen die Präsidentin umstimmen – vielfach, nachdem sie von UnternehmerInnen unter Druck gesetzt wurden. Bei der im Fernsehen übertragenen Abstimmung deklarierten und begründeten alle öffentlich ihr Stimmverhalten – die offizielle Begründung für die Amtsenthebung (Budgetunregelmäßigkeiten) wurde sehr selten genannt, sondern viele der rechten Parolen von den Demonstrationen wiederholt. Nachdem das nach brasilianischem Recht eigentlich keine Gründe für die Amtsenthebung sind, bleibt der Vorwurf eines Putsches aufrecht.

Dennoch scheint es eher unwahrscheinlich, dass eine juristische Anfechtung erfolgreich sein wird. Vieles deutet auf ein Ende der Arbeiterpartei als politisch bestimmende Kraft. Nun bleibt abzuwarten wie die progressiven Kräfte des Landes reagieren. Wird der Druck auf den Straßen aufrecht erhalten? Ermöglicht der gemeinsame Kampf für Demokratie das Schmieden neuer Bündnisse?

Bernhard Leubolt ist Assistent (post-doc) am Institute for Multi-Level Governance and Development der Wirtschaftsuniversität Wien und Autor des Buches „Transformation von Ungleichheitsregimes. Gleichheitsorientierte Politik in Brasilien und Südafrika“ (Springer VS, 2015). Im aktuellen Kurswechsel erscheint zudem ein ausführlicher – gemeinsam mit Victor Strazzeri verfasster – Beitrag zu Protestdynamik und sozialen Bewegungen in Brasilien. Dieser Artikel ist eine abgeänderte Fassung eines Beitrags für den Online Standard.

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